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Kapitalismus - Sintflut ohne Arche? (Teil 1 von 4)

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 09.11.2001
Projekt-Typ: geschlossen
Status: Archiv

(1) Notizen von Ulrich Weiß zum Schwarzbuch des Kapitalismus von Robert Kurz. Berlin, November 2000

Drängende Fragen - volle Säle

(2) Diskussionen über das Schwarzbuch des Kapitalismus von Robert Kurz[1] und das Manifest gegen die Arbeit[2] der Gruppe Krisis füllen Säle mit Menschen, die nach Alternativen zur heutigen Lebens- und Produktionsweise suchen. Das ist bemerkenswert. Geradezu erstaunlich aber erscheint es, dass der Autor des Schwarzbuches auch breiten Zugang zu Talkshows und Feuilletons großer Zeitungen[3] erhält. Erstaunlich deshalb, weil Kurz die gesamte bürgerliche Gesellschaft als ein einziges Verbrechen anklagt und den Kapitalismus insgesamt für einen Irrweg der Geschichte hält.
Wie reagieren Linke, die Kurz seit Jahren kennen und die zum Teil einst selbst in der Gruppe Krisis agierten?

(3) Manche tun ihn als Brotschreiberling ab, der aus Gründen seines Unterhalts heute dies und morgen jenes schreibt. Sie sehen die Aufmerksamkeit, die derzeit Kurz' Schriften zuteil wird, als Strohfeuer an und die Beschäftigung mit ihnen als Zeitverschwendung. Andere führen in Rezensionen und Diskussionen den Nachweis, dass zum Beispiel die Bezugnahme auf Marx, die Verwendung seiner Begriffe, oberflächlich und unredlich sei, dass es sich überhaupt um ein eklektisches Sammelsurium handle.[4]

(4) Im Berliner Demokratischen Presseklub, dem ich, der Autor dieser Notizen, angehöre, wurde wiederholt über das Manifest gegen die Arbeit und das Schwarzbuch diskutiert. Wir teilen Einwände linker Kritiker und können, wie zu zeigen ist, noch einiges hinzufügen. Wir haben es allerdings zunächst als sehr erfreulich angesehen, dass Schriften, die wie das Schwarzbuch und das Manifest den (heutigen) Kapitalismus hinsichtlich seiner Zivilisationsverträglichkeit als unreformierbar behandeln und die auf sein Ende verweisen, überhaupt eine bemerkenswerte Resonanz hervorrufen. Gerade angesichts zutreffender Kritik an Kurz fragen wir uns, was an o.g. Schriften eigentlich reizt? Liegt etwa gerade im Kurzschen Feuilleton-Stil eine Anziehung, eine Wahrheit, die traditioneller akademischer Wissenschaft unzugänglich ist?

(5) Zunächst offenbart die Resonanz auf das Schwarzbuch eine große Unsicherheit in der Bundesrepublik hinsichtlich der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung. Weiter zeigt dies, dass die Linken hierzu nicht viel Anziehendes zu bieten haben. Nach dem Ende des Real-"Sozialismus", der sich als Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft verstand, haben es die einstigen Linken, genauer die, die in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, in Regierungen, Parteien und Parlamenten, in akademischen Einrichtungen und in größeren Medien agieren, es meist vollkommen aufgegeben, die Frage nach der Überwindung des Kapitalismus ernsthaft zu stellen. In der PDS zum Beispiel ist allenfalls davon die Rede, dass die sogenannte Dominanz des Profitprinzips zurückgedrängt werden müsste, was in der Praxis die Unterwerfung unter genau dieses Prinzip bedeutet.

Seelenbalsam für abstrakten Antikapitalismus

(6) Während die etablierten "Linken" an die Regulierungsschräubchen der "geschäftsführenden Ausschüsse" herangekommen sind oder noch darum betteln, treten nun Robert Kurz und die Gruppe Krisis auf und verkünden mit größter Selbstverständlichkeit und missionarischem Eifer nichts weniger als den zumindest mittelfristigen Zusammenbruch des ganzen Ladens. Das ist irgendwie erfrischend. Es erklärt aber noch nicht die relativ breite Aufmerksamkeit für Kurz, denn solche Untergangsszenarien sind wahrlich nicht neu. (siehe Kuczynski 2000) Auch die Behauptung, dass die zu erwartende Katastrophe die Möglichkeit zur Begründung einer allgemeinmenschlich-emanzipierten Gesellschaft in sich berge, ist kaum ein hinreichender Grund, 50 oder gar 800 Seiten ernsthaft durchzuarbeiten.
Was ist also so anziehend?

(7) Ist es die Tatsache, dass hier trotz der ernüchternden Grunderfahrungen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts (Zusammenbruch des Real-"Sozialismus", Niedergang der westlichen Arbeiterbewegung, Wende von einstigen antiautoritären Revolteuren zu staatstragenden Spitzenpolitikern) der Versuch unternommen wird, eine grundsätzliche Kapitalismuskritik mit der Behauptung zu verbinden, dass der einst geschichtsmächtige proletarische Klassenkampf gegen die Bourgeoisie bzw. die sogenannte Diktatur des Proletariats, ja ein Wirken innerhalb der politischen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt, keine Mittel für den Kampf um menschliche Zivilisation sein können? Kurz versucht, eine Überwindung des Kapitalismus ohne das Ein- und Unterordnen unter entsprechende Parteien- und andere Kampfstrukturen irgendeines Subjektes mit einer angenommenen geschichtlichen Mission zu denken. Macht das den besonderen Reiz für viele suchende und nach Aktivität drängende Menschen aus? Vielleicht.

(8) Die Lektüre des Schwarzbuch kann aber auch abgeklärte linke Zyniker noch einmal anziehen, also Leute, die den Kapitalismus zwar weiterhin als zivilisationsfeindlich ansehen, es aber aufgegeben haben, noch ernsthaft nach Alternativen zu suchen.

(9) Das Schwarzbuch kann Seelenbalsam sein für ehemalige Revolutionäre, die, in ihren ursprünglichen Zielen gescheitert, sich zu müde oder/und zu betrogen fühlen, um nach neuen Begrifflichkeiten und Wegen zu suchen. Ein Antikapitalismus, der die Unterordnung unter politisch-hierarchische Großstrukturen sowie die akademisch-blutleere Anstrengung des Begriffes ablehnt, der aber auch keine anderen Formen alternativen gesellschaftlichen Wirkens entwickelt, der findet hier Bestätigung. Jedenfalls ist es eine Tatsache: Nicht die "linken" Parteien und sonstige Institutionen der Transformation der Demokratie (Agnoli 1968), nicht mehr die akademischen Seminare von Rest-Marxisten, Berliner Pfingst- und andere Universitäten ziehen in erklecklicher Zahl noch kapitalismuskritische Menschen an. Der Robert Kurz des Schwarzbuches aber bringt das fertig.

(10) Für uns sind daran mindestens zwei Dinge bedeutsam:
Einmal verstehen wir diese Resonanz auf Kurz' Antikapitalismus als Hinweis auf eine verbreitete Ahnung davon, dass heute zivilisatorischer Fortschritt nur noch auf nichtkapitalistische Weise gesichert werden kann.
Zweitens wächst die Überzeugung, dass hierfür weder die Begriffe und Methoden des bürgerlichen Reformismus noch die des einstigen proletarisch-revolutionären Kampfes geeignet sind, sondern dass gänzlich andere Formen des Änderns der Umstände und der Selbstveränderung der Menschen erforderlich sind.

(11) Die Mitglieder des Demokratischen Presseclubs sehen es als erfreulich an, wenn sich an Kurz' Bild vom Kapitalismus und an der Vision von seinem baldigen katastrophalen Ende eine Diskussion über die Möglichkeit der Aufhebung dieser Gesellschaft durch eine sozialistische entzündet. Wir lehnen eine unfruchtbare Streitform ab, in der ernsthafte Einwände als Angriffe im Stile eines Wer-Wen? vorgetragen werden, Argumente nicht widerlegt, sondern dadurch "entkräftet" werden, dass Kurz oder seine Kritiker jeweils als Vertreter einer bestimmten linken Schule zugeordnet werden, mit der die Beschäftigung nicht lohne. Das hat vielleicht Unterhaltungswert, bringt aber keine neue Erkenntnis, ist also eigentlich öde.
Wir glauben nicht, dass wir die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Die Kritik am Schwarzbuch ist uns ein willkommener Anlass zu einer sachlichen Diskussion über mögliche Wege aus dem Kapitalismus.

(11.1) 25.11.2001, 19:59, Jürgen Hilbers ??: "Die Mitglieder des Demokratischen Presseclubs sehen es als erfreulich an, wenn sich an Kurz' Bild vom Kapitalismus und an der Vision von seinem baldigen katastrophalen Ende eine Diskussion über die Möglichkeit der Aufhebung dieser Gesellschaft durch eine sozialistische entzündet."
In diesem Satz sind vier Themen zusammengebracht, die meines Erachtens auseinandergelegt gehören: 1. Kurz' Bild vom Kapitalismus, 2. das Wort vom baldigen katastrophalen Ende, 3. die Diskussion um Möglichkeit der Aufhebung, 4. die Aufhebung durch eine sozialistische Gesellschaft. An 3. und 4. fällt auf, daß die Diskussion um die Möglichkeit einer Aufhebung bereits 'a priori' mit der Aufhebung duch eine sozialistische Gesellschaft zusammengebracht ist. Das ist eine klassische Sichtweise, die zudem durch und durch normativ ist: es soll Aufhebung in eine sozialistische Gesellschaft sein. Woher aber weiß man, ob diese Normativität überhaupt (noch) eine sachliche Grundlage hat und haben kann?
An Punkt 1. und 2. fällt auf, daß hier das 'Bild' des Kapitalismus sofort mit dem baldigen Ende zusammengebracht ist. Das halte ich für einen zu kurz greifenden Schluß, in dem - so will mir scheinen - implizit die alten Diskussionen um den Zusammenbruch des Kapitalismus aus der Luxemburg/Bernstein/Kautsky-Zeit reproduziert sind, d.h. ebenfalls eine klassische Sichtweise. Ich würde vorschlagen, die mit "baldig" angesprochen zeitlich-empirische Dimension versuchsweise zu streichen. Von den vier der Sache nach auseinanderlegbaren Momenten können dann das erste und das zweite wieder verbunden werden. Dabei ist mir zunächst das erste das Wichtigste: das Bild des Kapitalismus von Robert Kurz. Dem Anspruch nach muß Kurz nämlich in der Tat einräumt werden, daß er eine neuartige Begriffs- Bildung der Sache anzielt, die sich dadurch auszeichnet, daß sie auf einen unhintergehbaren Kernbestand der "Wissenschaft des Werts", genannt "Das Kapital", zurückgreift. Und diese Begriffsbildung ist dadurch näher ausgezeichnet, daß sie - und zwar aus theoretischen Gründen - ein katastrophales Ende der gegenwärtig herrschenden Bewegungsform von Vergesellschaftung antizipiert. Für diese Antizipation würde ich denselben Theoriestatus reklamieren wie für die Aussage des Karl-Heinrich Marx, daß mit fortschreitender Akkumulation die Totenglocke des Kapitalismus durch das Proletariat geläutet und eine Expropriation der Expriateurs stattfinden werde. Und genau an dieser Stelle und genau auf dieser Theoriebebene, der logisch-historischen nämlich, findet durch Kurz die Revision - d.h. ein Wieder-Ansehen - der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft statt, in welcher die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Das Zeit-Fenster, das die objektive Möglichkeit des Sturzes der Kapitalform durch das Proletariat enthalten haben mag, ist endgültig geschlosssen. Karl-Heinrich Marx ist damit jedoch nicht des Irrtums überführt, sondern weit eher des Aufweises einer wirklichen Möglichkeit, die sich jedoch de facto nicht realisiert hat. Nach dem Abschied von dieser Perspektive, der heutzutage wohlbegründet ist, entsteht nunmehr eine neue theoretische Perspektive: das katastrophale Vereenden der Sache als reale, d.h. sachhaltige Möglichkeit. Zu dieser Möglichkeit werden sich die Individuen verhalten müssen, denn auch wenn sie dies nicht tun, so sind sie doch in die Gewalt eines Naturprozesses einbegriffen, eines Naturprozesses, der an sich selbst dadurch bestimmt ist, daß er ein durch die Invididuen hindurch produzierter Naturprozeß ist. D.h. dieser Prozeß ist einerseits von der Schwere einer Naturgewalt, die rasant an Fahrt gewinnt, andererseits aber ist er damit nicht auch prinzipiell unbeeinflußbar, denn sonst wäre er ebenso unaufhebbar wie das Gravitationsgesetz. Die Aufhebung von etwas aber bedeutet, dass etwas aufgehoben wird bzw. - normativ gesprochen - aufgehoben werden muß. Dieses Etwas aber nimmt zu negativem Gewicht und diese Gewichtzunahme geht - metaphorisch gesprochen - in die Richtung auf das "Werden eines schwarzen Lochs", aus dem, wie man weiß, am Ende nicht einmal mehr das Licht herauszugelangen vermag. Das ist nun in der Tat ein Bild, verbunden vielleicht mit einer gewissen Lust am Untergang, die - für mich jedenfalls, den Ex-Sozialisten - durchaus nachvollziebar ist. Vor dem Hintergrund dieses Prozesses, der als solcher in seiner ganzen Tragweite begriffen werden muß, sofort wieder auf eine neue Möglichkeit zu Sozialismus zu spekulieren, halte ich für eine Form von traditionalem Denken, die - so leid es uns tun kann - obsolet geworden ist, mehr noch: die noch längst nicht am Ende ihrer Obsoletheit angekommen ist. Auf dem sachlichen Unmöglichgewordensein derartiger Lösungen zu insistieren, der Prozeßgewalt der Verwertung des Werts kühl und mit großem philosophischem Staunen ins Auge gesehen zu haben, das ist ein Verdienst und das mag nun in der Tat auch ein Moment des Furchtbaren an Kurz und den Seinen sein. Aber diese Furchtbarkeit ist nicht eine des Individuums RK sondern eine solche der Sache selbst, eine Sache, auf deren Begriff - allein schon der Psychohygiene wegen - nicht Verzicht getan werden kann. Als Resultat dieser Überlegungen ergibt sich damit, daß die theoretische Perspektive von Kurz nicht und in keiner Weise die traditionale Sichtweise von baldigem Zusammenbruch aus der Luxemburg/Bernstein/Kautsky-Zeit ist und mit dieser auch nicht verglichen werden kann, sondern eine solche, die im empirischen Material des Weltmarkts im 21. Jahrhundert entfaltet wird, weshalb eine Kritik, die Kurz et al. in den Umkreis dieses Schonmaldagewesenen stellen wollte, dem Grundsatz nach fehlgeht. Es geht eben nicht um die baldige Katastrophe, die zudem noch mit den Bedingungen ihrer Lösung zusammengedacht werden könnte: dem Sozialismus. Wenn man einen angemessenenen Katasthrophenbegriff akualiseren wollte, dann hätte man sich auf den Begriff der Katastrophe zu beziehen, der von W. Benjamin in den "Geschichtsphilosophischen Thesen" gefaßt worden ist, und man hätte dies zunächst eimal auszuhalten.

Wer sitzt denn nicht im Glashaus?

(12) Welche linken Kurz-&-Krisis-Kritiker hätten denn auch das Recht, sich einfach über diese aufgeflackerte Resonanz auf eine radikal gemeinte Kapitalismuskritik hinwegzusetzen? Diejenigen, die selbst eine Darstellung des Kapitalismus liefern, die Wege zu dessen positiver Aufhebung sichtbar machen oder eben beweisen, dass eine Hoffnung auf eine andere Welt völlig irrelevant bzw. nicht gangbar ist. Wer vermag das? Wir in unserer Gruppe sehen jedenfalls solche Theoretiker und Entwürfe nirgends. Einige von uns meinen, so etwas könne sich nur dort entwickeln, wo die Diskutanten unmittelbar mit der Praxis emanzipatorischer Bewegungen verbunden sind. Andere denken, dem müsste zunächst die Arbeit an einem tiefen theoretischen Verständnis von Grundprozessen des heutigen Kapitalismus vorausgehen. Sie hoffen, daraus ließen sich konkrete revolutionäre Schlußfolgerungen für die Gegenwart deduzieren. Andere wieder warnen, eine solche Theorie, erarbeitet im elitären Kreis, könne nur ein Führungs- und Herrschaftsinstrument von Avantgarden sein. Da genau dies gar nicht über die bürgerliche Gesellschaft hinausweisen könne, wäre das nicht der richtige Weg.
Wir greifen nicht nach Steinen. Wir nehmen statt dessen Kurz' Schwarzbuch und die Resonanz darauf als willkommene Herausforderung an. Vielleicht kommen wir damit einen Schritt aus dem Glashaus heraus.

(13) Wir stimmen stimmen mit Kurz in folgenden Punkten überein:
Erstens mit seiner Bewertung des Real-"Sozialismus" als nachholende - nichtsozialistische - Modernisierung.
Zweitens mit der Abkehr von den alten Formen der kommunistischen bzw. sozialdemokratischen Arbeiterbewegung.
Drittens mit der Einsicht, dass von den gegenwärtig etablierten Politikformen, "sozialistische" Parteien eingeschlossen, keine emanzipatorischen Impulse mehr ausgehen können, dass also die Hoffnungen des kleinen Mannes auf irgendeinen guten Staat, auf gute Führer bzw. die "eigene" Macht gegenstandslos (geworden) sind.
Viertens überprüfen wir so wie Kurz unser Verhältnis zu den Marxschen Grundideen (sogenannte historische Mission des Proletariats, im Kapitalismus entstehende materiellen Voraussetzungen und mögliche Wege einer sozialistischen Umwälzung usw.).

(13.1) Real-"Sozialismus" als nachholende - nichtsozialistische - Modernisierung:, 13.11.2001, 18:02, Birgit Niemann: Hier stellt sich mir folgendes Problem: Nachholende Modernisierung ist nach Rezeption der Kurz`schen Argumente ja soweit noch nachvollziehbar. Aber wessen nachholende Modernisierung war es denn nun ??? Auch Robert Kurz kann sich da nicht richtig entscheiden. Den Realsozialismus bezeichnet er munter durcheinander manchmal als "Staatssozialismus" und manchmal als "Staatskapitalismus". Wobei er ein wenig öfter zum "Staatskapitalismus" tendiert. Ihr könnt euch offensichtlich noch weniger als Robert Kurz entschließen, den Realsozialismus als Kapitalismus zu klassifizieren. Das verbergt ihr, indem ihr ihn einfach als "nachholende - nichtsozialistische - Modernisierung" bezeichnet. Nun kann aber der Realsozialismus nicht gleichzeitig ein "Staatssozialismus" und ein "Staatskapitalismus" gewesen sein. Mir scheint, diese geistige Unschärfe wird davon verursacht, dass Robert Kurz seinen Blick etwas starr auf das vom Kapital bevorzugt organisierte "Stoffwechselsystem" der "Warenproduktion durch abstrakte Arbeit" fixiert. Frei nach dem Motto: Wo sich die "Warenproduktion durch abstrakte Arbeit" ausmachen lässt, da ist auch Kapitalismus. Soweit wie ich mich allerdings an Marxens Kapitalanalyse erinnere, hat der zwar die als abstrakte Arbeit in Warenproduktion kanalisierte produktive menschliche Tätigkeit als Entstehungsort des vermarktbaren Mehrwertes ausmachen können, doch als "treibendes dynamisches Element", welches erst die verselbstständigten "Organisationskräfte" namens Kapital erzeugt, den Rückkopplungszyklus des Geldes auf sich selbst (Verwertung des Wertes) identifiziert. Mit der hübschen und vereinfachten Formel: W-G-W zu G-W-G' hat er den historischen Prozess des Umschlages der einfachen in die kapitalorganisierte (und kapitalakkumulierende) Warenproduktion, auch treffend zusammengefasst. Natürlich kann man Kurz nicht vorwerfen, dass die Verwertung des Wertes bei ihm vernachlässigt wird, doch sein letztendliches Kriterium ist immer die Warenproduktion durch abstrakte Arbeit. Wenn ich aber die Verwertung des Wertes als entscheidendes Kriterium für den Kapitalismus betrachte (wozu ich tendiere), dann fällt mir sofort die Frage in`s Hirn, wo war denn im Realsozialismus der gesellschaftliche Raum, in dem sich die Selbstbewegung des Kapitals vollzog, die den echten Kapitalismus doch ausmacht? Wenn aber nicht die Selbstbewegung des Kapitals die nachholende Modernisierung im Realsozialismus organisierte, dann muss es wohl doch die soziale Gesellschaft (mit all den ihr eigenen Interessenskonflikten) mehr oder weniger bewußt gewesen sein. Die Entscheidung, ob diese reale soziale Gesellschaft nun auch "sozialistisch" zu nennen war, hängt allein davon ab, von wem "Sozialismus" wie definiert wird.

(13.1.1) Re: Real-"Sozialismus" als nachholende - nichtsozialistische - Modernisierung:, 16.11.2001, 11:26, Stefan Meretz: Der gesellschaftliche Raum, in dem sich die Selbstbewegung des Kapitals des Realsozialismus vollzog, war der Weltmarkt. Hier trat der Realsoz wie eine kapitalistische Firma auf, die verschiedene Abteilungen hat, die ihre Geschäfte machen. So etwa wie Siemens mit seinen Abteilungen. Binnenlogisch hat der Realsoz dann "voluntaristisch" (eine Kritik der Rechten etwa der Gorbatschowisten) gegen das Wertgesetz verstossen, in dem er teilweise andere Verteilungen organisierte. Aber auch darin unterschied sich der Realsoz nicht wesentlich vom Siemens-Konzern, der in der guten alten fordistischen Hochzeit für seine "Mitarbeiter" Werkswohnungen, Kindergärten, Kantinen und Zusatzversicherungen hatte. - Für all das hat der Realsoz die Eigenbezeichnung "Sozialismus" geführt, warum soll man es also nicht so nennen und sagen, das war der gleiche (aber nicht identische) Schrott in grün?

(13.1.1.1) Re: Weltmarkt, 18.11.2001, 15:15, Birgit Niemann: "Der gesellschaftliche Raum, in dem sich die Selbstbewegung des Kapitals des Realsozialismus vollzog, war der Weltmarkt." Dieser Satz enthält aus meiner Sicht zwei Aussagen. Erstens, war innerhalb des Realsozialismus die Selbstbewegung des Kapitals nicht auszumachen, woraus ich schließe, dass es sich im Inneren nicht um Kapitalismus gehandelt haben kann. (Das deckt sich übrigens hervorragend mit meinen persönlichen Erfahrungen, denn wenn ich im Osten eine Freiheit wirklich gelebt habe, dann war es die Freiheit von den Sachzwängen des Kapitals. Andere Freiheiten mögen gefehlt haben.) Zweitens, in dem Ausmaß, in dem der Realsozialismus auf dem Weltmarkt agierte, musste er sich wie ein Kapitalsystem verhalten, wobei ich hinzusetze: dummerweise ohne selbst ein Kapitalsystem zu sein. Das ist dem Realsozialismus offensichtlich schlecht bekommen, denn schließlich ist er im Gegensatz zu Siemens heute nicht mehr da. Ich bezweifle, dass diese unterschiedlichen Ergebnisse allein eine Frage des Managments sind. Der Untergang des Realsozialismus auf dem Weltmarkt lehrt mich vor allem, dass der Realsozialismus gegen den Kapitalismus grundsätzlich nicht konkurrenzfähig war. Die Tatsache des Untergangs allein aber sagt z.B. rein gar nichts darüber aus, warum der Realsozialismus nicht konkurrenzfähig war. Auf Grund meiner eigenen realsozialistischen Erfahrungen habe ich den Verdacht, dass es gerade die "fehlende Selbstbewegung des Kapitals" war (also der fehlende Kapitalismus), die im Inneren die Erfolgschancen des Realsozialismus auf dem kapitalistischen Weltmarkt enorm verschlechtert hat. Auch ist der Realsozialismus schließlich weder die erste, noch die einzige soziale Gesellschaft, die der Konkurrrenz des Kapitals nicht standgehalten hat. In Wahrheit kenne ich keine einzige andere soziale Gesellschaft, die es länger als der Realsozialismus geschafft hat. Vor allem dann nicht, wenn als Konkurrenten moderne Kapitalsysteme auftraten, wie im wirklich brutalst betroffenen "neu entdeckten" Amerika. Allerdings bin ich kein Historiker, vielleicht wissen die mehr und anderes.

(13.1.1.1.1) Re: Weltmarkt, 30.11.2001, 14:49, Stefan Meretz: Das Hauptproblem scheint mir zu sein, dass der Realsoz konkurrieren wollte, weil er musste, weil er eben auch nur eine warenproduzierende Gesellschaft war. Ja, und da war der Realsozialismus, obwohl doch schon Staatskapitalismus, eben immer noch zu wenig Kapitalismus. So war ein Entkommen der Selbstbewegung des Kapitals nicht möglich. Praxisbeweis ist erbracht, weitere Versuche zwecklos. Eine andere Vergesellschaftungsform als die über den Wert muss her.

(13.1.1.1.1.1) Weltmarkt?wollte?mußte?, 13.05.2003, 08:36, Uwe Berger: Weil die war.proDuz.Gesell. konkurrieren kann solange der wachsenden Warenflut immer eine Individualidentät gegenübersteht, die aus der göttlich abgesegneten Familie mitwächst. Der Bewertung der Form einer Identität muss ein anderer Inhalt ermöglicht werden. Das nenne ich ein Informationszeitalter.

(13.1.1.2) Re: Realsozialismus analog Siemens?, 18.11.2001, 15:18, Birgit Niemann: "Hier trat der Realsoz wie eine kapitalistische Firma auf, die verschiedene Abteilungen hat, die ihre Geschäfte machen. So etwa wie Siemens mit seinen Abteilungen." Auch ich habe viel übrig für Vergleiche. Vernünftig gewählt, sind sind sie häufig erkenntnisfördernd. Doch wenn man Siemens mit dem Osten, oder um es systemisch einzugrenzen, z.B. mit der DDR vergleicht, dann ist es, als wenn ein Apfel - nein, nicht mit einer Birne sondern - mit einem Birnbaum verglichen wird. Für den, der biologische Vergleiche wegen Reduktionismus-Verdacht nicht mag, kann ich es auch adäquater formulieren. Es ist, als ob eine sklavenhaltendeTöpferwerkstatt im athenischen Kerameikos, die sowohl für den Athener Binnenmarkt, als auch für den antiken mittelmeerischen Weltmarkt produzierte, mit dem persischen Reich verglichen wird. War nun das persische Reich, dass mit Sicherheit auf dem antiken Weltmarkt ebenfalls sklaven-produzierte Waren verkaufte, denn auch "der gleiche (aber nicht identische) Schrott in grün" wie die athenische Töpferwerkstatt? Mir scheint, auf solcher nicht-analogen Grundlage kann ein Vergleich nur verzerrte Erkenntnisse liefern.

(13.1.1.2.1) Re: Realsozialismus analog Siemens?, 30.11.2001, 14:42, Stefan Meretz: Ich kann mit deinem Bild der antiken Töpferwerkstatt nicht viel anfangen resp. kein Argument gegen mein - zugegeben - angestrengtes Bild der "Firma Realsoz" entnehmen. Na gut, dann differenzierter: "Firma GDR" konkurriert gegen "Firma Siemens". So war es auch faktisch, nur das sich die "Firma GDR" in wesentlichen mehr Branchen rumtrieb.

(13.1.1.2.1.1) Re: Realsozialismus analog Siemens?, 04.01.2002, 14:25, Birgit Niemann: Na gut, dann versuche ich es anders. Was die antike Töpferwerkstatt und Siemens gemeinsam haben ist Folgendes: Beide sind echte ökonomische Subsysteme, die nur im Rahmen einer gesellschaftlichen Gesamtheit überhaupt lebensfähig sind. Ihr Dasein setzt voraus, das ihnen von anderen ökonomischen Subsystemen notwendige Existenzgrundlagen geliefert werden. Beide können prinzipiell nicht ohne den Markt existieren. Was dagegen die DDR mit dem persischen Reich gemeinsam hat, ist Folgendes: Beides sind komplette Gesellschaften, die jede für sich selbst lebensfähig sind. Natürlich wechselwirken Beide über Handel (Weltmarkt), Diplomatie und aggressive Akte (virtueller kalter Krieg bzw. echter heißer Krieg) mit anderen kompletten Gesellschaften ihrer jeweiligen Welt. Aber lebensfähig wären Beide auch ohne diese Wechselwirkungen. Das ist natürlich eine theoretische Überlegung, weil im wirklichen Leben zeitlich und örtlich benachbarte Gesellschaften immer miteinander stofflich und virtuell kommunizierten. Trotzdem hatte die DDR alle eigenen Vorraussetzungen, um ohne den Weltmarkt lebensfähig zu sein. Dann wäre sie vielleicht über eine gut organisierte Agrargesellschaft nicht hinausgekommen, aber die in ihr organisierten Individuen würden prima ihr Leben selbstbestimmt organisieren können, wenn sie sich ein solches Ziel gestellt hätten. Natürlich kann man auch ein Subsystem mit einer Gesamtheit vergleichen. Dann muss man aber genau die Fragen formulieren, die man mit einem solchen Vergleich beantworten will.

(13.1.1.2.1.1.1) Re: Realsozialismus analog Siemens?, 08.01.2002, 11:47, Bernd Binder: Ich habe beim Überfliegen dieses Kommentars den Vergleich der zentralen Planwirtschaft der DDR mit dem sozio-ökonomischen System des perisischen Reiches (angedeutet) gelesen. Da fällt mir dazu das Buch 'Asian Despotism' von dem marxistischen Sinologen Carl August Witfogel ein. Darin beschreibt er diejenigen Gersellschaften vor der Sklavenhaltergesell./Antike als zentral. Planwirtschaften (%Asiatische Produktionsweise oder hydraulische Gesellschaften) , die den Übergang von einer egalitären Epoche zur Sklavenhalterzeit darstellt. Im Netz gibt es viel Diskussion dazu. Nur so, ein Literatur Tipp :-)

(13.1.1.3) Re: Verstoss gegen das Wertgesetz:, 18.11.2001, 15:30, Birgit Niemann: "Binnenlogisch hat der Realsoz dann "voluntaristisch" (eine Kritik der Rechten etwa der Gorbatschowisten) gegen das Wertgesetz verstossen, in dem er teilweise andere Verteilungen organisierte." An dieser Stelle glaub ich, wird der Widerspruch besonders deutlich. Meines Wissens zeichnet sich der Kapitalismus doch gerade dadurch aus, dass sich das Wertgesetz wegen der "Selbstbewegung des Kapitals" blind und selbstorganisiert durchsetzt. Als Nebenprodukt der kapitaleigenen Verwertungstätigkeit ergibt sich sozusagen ebenso blind auch die Organisation der "restlichen" Gesellschaft, in der das Kapital in Form unzähliger Einzelkapitale agiert. Welche realen sozialen Verwerfungen das natürlich erzeugen musste, denen die soziale Gesellschaft dann wieder "teilbewußt" (sprich politisch) zu begegnen hatte (nicht selten mit Rebellionen und deren Niederschlagung beginnend), hat ja gerade Robert Kurz im Schwarzbuch erschöpfend behandelt. Wenn sich in einer Gesellschaft aber irgend eine "organisatorische Kraft" etabliert hat, die gegen diese blinde Durchsetzung des Wertgesetzes überhaupt so sehr verstossen kann, dass es dem Kapital gar nicht mehr gelingt, seine eigene Rückkopplung selbstorganisiert zu vollenden, ist dem Kapital sozusagen "das Rückrat" gebrochen und der Charakter der entsprechenden Gesellschaft kann nur "nichtkapitalistisch" sein. Womit noch nichts darüber gesagt ist, ob diese wie immer auch geartete "gesellschafts-organisierende Kraft" selbst blind ist oder vielleicht einen Hauch von Bewußtsein besitzt, oder dass diese betroffene soziale Gesellschaft auch eine sozialistische sein muss.

(13.1.1.3.1) Re: Verstoss gegen das Wertgesetz:, 30.11.2001, 15:03, Stefan Meretz: Dem Kapital kann nicht in seiner eigenen Logik, der blinden und selbstorganisierten Wertlogik, begegnet werden (kann schon, aber es ändert nix). Selbst die größte soziale Rebellion, der mächtigste Aufstand bricht dem Kapital bestenfalls den kleinen Finger, der schnell verheilt, wenn die Wertlogik nicht aufgehoben wird. In der irrigen Annahme vom Primat der Politik (unter Führung der Arbeiterklasse) liegt doch gerade die Ursache für den "Voluntarismus" gegen das Wertgesetz. Die Blindheit der Wertselbstbewegung ist nicht "politisch" aufhebbar, denn "Politik" (Demokratie, Parteien etc) selbst ist nur eine Regulationsform des blinden Bewegungszusammenhangs. Das haben noch stets alle Parteien erkannt: mehr als "Gestaltung" ist nicht drin. Aufhebung der (Wert-)Logik kann nur funktionieren, wenn es gelingt, eine andere Logik der Vergesellschaftung zu etablieren.

(13.1.1.3.1.1) Re: Verstoss gegen das Wertgesetz:, 04.01.2002, 13:47, Birgit Niemann: Was genau eigentlich verstehst Du unter Wertlogik? Die Warenproduktion durch abstrakte Arbeit oder den Rückkopplungszyklus von Kapital auf sich selbst, sprich die Verwertung des Wertes? Beides fällt zwar in den modernen selbstzweckhaften ökonomischen Systemen synergistisch zusammen, aber Beides ist nicht identisch. Für das theoretische Verständnis ist es meiner Ansicht nach notwendig, zwischen Beidem zu unterscheiden. Denn der Rückkopplungszyklus bildet die dynamische Triebkraft die den Selbstzweck begründet und die Warenproduktion durch abstrakte Arbeit entspricht der optimalen "Form", in der sich der Selbstzweck des Rückkopplungszyklus realisieren kann. Die Frage, die zu beantworten ist, sehe ich darin, ob beides zwingend untrennbar miteinander verknüpft sein muss bzw. sich ausschließlich gegenseitig bedingt, oder ob sich der Rückkopplungszyklus auch im Rahmen suboptimaler "Formen" schließen kann und die "Form" der Warenproduktion auch durch andere dynamische Triebkräfte als die Verwertung des Wertes in Gang gesetzt werden kann. Keines Eurer Argumente nimmt dieses Zusammenspiel wirklich auseinander. Ihr setzt im Geiste von Robert Kurz beider Untrennbarkeit als Identität einfach als gegeben voraus. Bei Marx hingegen finde ich diese unhinterfragte Identität so nicht.

(13.1.1.3.1.1.1) Re: Verstoss gegen das Wertgesetz:, 11.01.2002, 11:35, Stefan Meretz: Was ich unter Wertlogik oder Wertgesetz verstehe, steht hier. Es geht IMHO nicht um eine Identität, aber auch nicht um unabhängige Phänomene, sondern um einen systemischen Zusammenhang. In seiner Analyse hat Marx das analytisch getrennt und schrittweise aufgedröselt. Dennoch wäre es ein Missverständnis, einzelne Aspekte daraus als substanziell eigenständige Phänomene anzunehmen. Deswegen würde auch Marx die Frage, ob die (entfaltete) Warenproduktion und Wertverwertung systemisch zusammengehören mit "ja" beantworten. Andersherum: Der Versuch sich eine (einfache?) Warenproduktion jenseits der Wertverwertung vorzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Ich wüsste jedenfalls nicht, was das dann sein und wie das gehen soll.

(13.1.1.3.1.1.1.1) Re: Verstoss gegen das Wertgesetz:, 13.01.2002, 22:39, Birgit Niemann: Das es nicht um unabhängige Phänomene geht ist klar. Ich dachte, dass ich das oben auch zum Ausdruck gebracht hätte. Aber Sprache ist nun mal die Quelle aller Missverständnisse. Damit müssen wir zurechtkommen. Was ich aber an der analytischen Trennung so wertvoll finde ist, dass man z.B. beide Komponenten (abstrakte Arbeit und Rückkopplungszyklus) jede für sich historisch soweit wie möglich zurückverfolgen könnte. Selbst mit meinen bescheidenen Geschichtskentnissen fällt mir dabei auf, dass der Rückkopplungszyklus viel älter ist, als die abstrakte Arbeit. Und zwar nicht im Sinne einer einfachen versus entfalteten Warenproduktion, sondern tatsächlich im Sinne eines geschlossenen Rückkopplungszyklus. Unter einer einfachen Warenproduktion verstehe ich zum Beispiel den Bauern, der seine überschüssigen (nicht für den Eigenverbrauch bestimmten) Erzeugnisse als Waren auf dem Wochenmarkt verkauft. Auch noch den Dorfschmied, der seine Produkte ja ebenfalls verkaufen muss, um Lebensmittel zu erwerben. Beim familiären Handwerksbetrieb fange ich schon an, ein ganz kleines bischen unsicher zu werden, aber nicht sehr, weil keine Arbeitskraft gekauft wird, sondern biologisch reproduziert. Wenn ich mir aber die hochentwickelten Geldwirtschaften der griechischen und römischen Antike betrachte, da hört es für mich auf, dem einfachen Bild W-G-W auch nur entfernt zu ähneln. Wenn Arbeitskraft auf dem Markt gekauft wird, mit keinem anderen Ziel als Produkte herzustellen, die auf dem Markt als Ware mit Profit veräußert werden sollen, dann sehe ich G-W-G', auch wenn an der Arbeitskraft die biologische Hardware (Sklave) noch d'ranklebt. Natürlich springt gerade wegen der noch nicht von der Hardware abgetrennten Arbeitskraft der Rückkopplungszyklus nicht so deutlich in's Auge, wie später mit der Warenproduktion durch abstrakte Arbeit. Auch beherrscht er nicht im selben Maße, wie in der Moderne, die gesamte Gesellschaft. Wie weit er dass aber tatsächlich tut, ist aus meiner Sicht zumindestens der Untersuchung wert. Auch Aristoteles unterscheidet ja nicht umsonst die Ökonomik, mit dem Haushalt und seinem Patriarchen als Zweck der Arbeit, von der Chrematistik mit dem Selbstzweck der Vermehrung der Geldmenge, voneinander. Er macht sich ausgiebig lustig über die "chrematistisch tätigen" Typen, die ganz klar nicht einmal mehr Herr über ihre Zeit sind, sondern von der Zeit beherrscht werden. (Es wird hier langsam knapp mit dem Platz für Kommentare. Es überschreitet langsam auch das Thema: Kritik des Schwarzbuches. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, es woanders weiter zu behandeln.)

(13.1.4) Re: Real-"Sozialismus" als nachholende - nichtsozialistische - Modernisierung:, 19.11.2001, 10:26, ano nym: Staatssozialismus (=Oberbegriff für Staatskapitalismus von links) Realsozialismus=Diejenige Ausprägung von Staatsozialismus wie man sie in der UDSSR und heute noch in China antrifft. Realsozialismus ist eine Spielart des Staatssozialismus.(Wieweit nun Libyen und Syrien als staatssozialistisch aufzufassen sind, müsste noch untersucht werden). Ein "rechter" Staatskapitalismus wäre z.B. Argentinien unter Peron. Ideologisch waren all diejenigen Bewegungen staatssozialistisch, die über den Staat (Machteroberung,friedlich oder gewalttätig) den Sozialismus einführen wollten.(Auch wenn später dann irgendwann einmal der Staat absterben sollte,war die Formulierung dieser Zielsetzung doch etwas widersprüchlich). Kurz kann nun beide Begriffe parall benutzen. (So wie der Altmarxismus hinfällig wird, wird auch der Anarchismus hinfällig! Diese Differenz fällt weg).

(13.1.4.1) Re: Real-"Sozialismus" als nachholende - nichtsozialistische - Modernisierung:, 23.11.2001, 15:43, Jörg Schneider: Hier ist noch besonders zu betonen, daß Aufhebung(=Kommunismus)keine "Formation" oder "Stadium" ist, sondern ein Prozess. Anzumerken ist hier aber,daß der Begriff der Aufhebung, da die Wertkritik den Kommunismus,den Anarchismus,und die althergebrachte kritische Theorie bererbt,bzw.dabei ist diese unterschiedlichen Ausrichtungen zu beerben,eigentlich viel radikaler gedacht wird als bei Marx,daß der Begriff des "Kommunismus" viel zu gemässigt ist.Schön kann man das erkennen bei der Geschlechterthematik(im Schwarzbuch wie in den unterschiedlichen Krisis Ausgaben).So soll auch das Geschlechterverhältnis aufgehoben und das Patriarchat überwunden werden. (Die Wertkritik beerbt somit auch den Feminismus).Kurz und die Krisis analysieren darüber hinaus auch die Krise der Politik! hinauszudenken bemüht ist!

(14) Prinzipiell widersprechen wir Kurz in zwei Dingen:
Wir lehnen die Art - nämlich die mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung - ab, in der Kurz
erstens den Marxschen Geschichtsmaterialismus über Bord wirft und in der er sich
zweitens von den realen sozialen Auseinandersetzungen abwendet.
Die Diskussion darüber regt uns allerdings an, die eigenen geistigen Grundlagen zu überprüfen und selbst offener gegenüber konkreten sozialen Konflikten zu werden.

(14.1) Geschichtsmaterialismus, 18.11.2001, 16:19, Birgit Niemann: "Wir lehnen die Art ab, in der Kurz den Marxschen Geschichtsmaterialismus über Bord wirft." Um von weiteren vergleichenden Betrachtungen, die sich an den Kern der Dinge herantasten ohne in's Schwarze zu treffen, wegzukommen, möchte ich an dieser Stelle weitermachen. Ich teile o.g. Ablehnung, würde aber gern wissen, woran ihr sie festmacht. Ich selbst habe nach etwas längerem Denkprozess für mich folgendes herausgefummelt: Robert Kurz erhebt aus meiner Sicht die Form der "Warenproduktion durch abstrakte Arbeit" zur "Stoffwechselkonstante des Kapitals". Das meine ich in genau dem Sinne, in dem auch viele Anthropologen sowie Ökonomen die "Arbeit" zur "Stoffwechselkonstante des Menschen" erklären ohne ihren historischen Ursprung und die konkret historischen Bedingungen des Werdens und Vergehens verschiedener gesellschaftlich organisierter "Tätigkeitsformen" zu berücksichtigen. Genau an dem Punkt, an dem er die "Warenproduktion durch abstrakte Arbeit" zur Konstante erklärt und den Rückkopplungszyklus hinten ansetzt, wird der sonst so historische Robert Kurz ahistorisch und verliert den Anschluss sowohl an die Vergangenheit ebenso wie in eine wie immer auch zu gestaltende Zukunft. Für mich stelle ich immer wieder fest, dass genau an solchen Stellen die Kurz'schen Wertungen auftauchen, zu denen ich selbst (ganz ddr-mäßig, steinzeitmarxistisch am Kapital geschult, allerdings nicht im Hauptfach) andere Wertungen entwickle. Die weiter oben diskutierten Einschätzungen sind ein Beispiel dafür. Es würde mich wirklich brennend interessieren, worin und wie ihr den Kurz`schen Verstoß gegen den Marx'schen Geschichtsmaterialismus identifiziert habt?

(14.2) 23.11.2001, 15:31, Ano Nym: Dieser Formulierung kann ich nicht folgen. Kurz sprengt den Geschichtsmaterialismus. Die Geschichte hat Phasen der Determination und solche der Offenheit. Dies zeigt Kurz im Anschluß an Forschunngsresultate der neueren Geschichtswissenschaften sehr schön. Kurz bezieht Foucault auf die abstrakte Arbeit.(Eine Premiere!) Die andere "Aufgabenstellung" dieses Buches bestand darin, die winselnde Prowestlichkeit zu kritisieren ohne reaktionär zu werden.(Der letzte der dies Versucht hatte war R.Bahro.Er scheiterte und ging nach Rechts).Kurz hat diese Aufgabenstellung gemeistert! Konflikte und Kämpfe gibt es immer.Kurz verabschiedet sich gerade nicht von diesen!(Er rückt nur die Dimensionen zurecht-Bedeutung der Maschinenstürmer im Verhältnis zur Arbeiterbewegung).Hat sich aber einmal eine Fetischform fest etabliert, ist oder scheint es faktisch unmöglich zu sein,diese zu verlassen.(Unterschied zu subjektiven Verfassung und objektiven Verhältnissen-oder individuell betrachtet war der Kapitalismus schon immer abzuschaffen/zu überwinden,aber objektiv bestand nicht immer die Möglichkeit dazu!)Dies alles entschuldigt aber gar nichts, es gibt durchaus Handlungsspielräume!

Auf zum Ende ohne Schrecken

(15) Kurz will mit dem Schwarzbuch einer möglichen zukünftigen Rebellion eine "radikale theoretische Kritik" (781) zur Seite stellen. Diese soll "dem absurd und gemeingefährlich gewordenen System der totalen Konkurrenz von atomisierten Individuen den Spiegel seiner eigenen Geschichte" (12) vorhalten und so die "Selbsterkenntnis des kapitalistischen Menschen" befördern. Ein solches "Zusammenkommen von radikaler theoretischer Kritik und Rebellion", das eröffnet nach Kurz die "Widerstandslinie gegen die offene Barbarei" (782). Es werde "ein Ende des Kapitalismus ohne Schrecken erleichtern" (12). Der Anspruch fasziniert: Endlich jemand, der das Ende des allgemein siegreichen Systems zu denken wagt und dies auch noch ohne Schrecken. Allerdings - ich kenne meine Verführbarkeit - möchte ich schon wissen, auf welche Fakten sich diese Hoffnung gründet. Von einer Kapitalismus-Analyse, die etwas über dessen Ende aussagt, muss ich erwarten können, dass sie auf das Neue hinweist, das die alte Gesellschaft ablösen könnte. Sie muss eine Vorstellung davon entwickeln, wie und wovon die Leute - vielleicht nicht die heute älteren, aber doch die heutigen süßen Kleinen - dann leben werden. Als Ossi sah ich die von mir als sozialistisch verteidigte "neue" Welt zusammenbrechen. Nachträglich habe ich sie - dies auch mit Kurz - als eine Form nachholender kapitalistischer Modernisierung begreifen müssen. Das hat mich vorsichtig gemacht. Ich erwarte also auf 800 Seiten Kritik des Kapitalismus mit der Ambition, dessen Ende denkbar zu machen, überzeugendes Material, das auf eine mögliche nachkapitalistische Zukunft verweist. Es muss die Annahme fundieren, dass jenseits der heutigen Gesellschaft überhaupt ein menschen- und naturverträgliches sowie genußvolles Leben denk- und praktisch erkämpfbar ist.

(16) Der erste Blick ins Schwarzbuch lässt hoffen, denn hier werden Aufgaben gestellt, die nach meinen Erkenntnissen tatsächlich abzuarbeiten sind, wenn dieses Ziel angestrebt wird:

(17) Kurz vermeidet eine eindeutige Bezeichnung der erhofften Gesellschaft, die dem Kapitalismus folgen könnte. Ich bezeichne sie als Kommunismus bzw. Sozialismus, also als etwas, was meines Erachtens bisher noch nicht existierte.
Da diese Gesellschaft nicht als göttliche Schöpfung, sondern, wenn überhaupt, nur auf der Grundlage der alten Gesellschaft und nur durch die in ihr geprägten Menschen entstehen kann, sehe ich es als entscheidend an, in welchem Farben Kurz den Kapitalismus zeichnet. Sollte dieser tatsächlich aufhebbar sein, besteht die einzige Chance, zu einer theoretisch begründeten Aussage über mögliche nachfolgende Gesellschaften und über die Formen des Weges dahin zu kommen, darin, sich kritisch mit den Entwicklungen im Kapitalismus selbst zu beschäftigen.
Ist Kurz' Kapitalismusbild also wenigstens so erhellend, dass, etwa so wie mensch in der Morgendämmerung erste Konturen des neuen Tages ahnt, mögliche Übergänge in die neue Welt erkennbar werden? Wir werden sehen.

Kapitalismus als perverse Abkehr vom Natürlichen

(18) Kurz nennt den Kapitalismus häufig "das moderne warenproduzierende System"(60). Das wäre in Ordnung, wenn zum Beispiel in der weiteren Analyse darauf verwiesen werden sollte, was der Kapitalismus mit anderen vorkapitalistischen "unmodernen" Warenproduktionen gemein hat und was ihn davon unterscheidet. Das ist auch sinnvoll, wenn etwa gefragt wird, ob irgendeine progressive Gesellschaft, die den Kapitalismus aufzuheben vermag, eine warenproduzierende sein kann oder ob Sozialismus-Kommunismus nur als Überwindung der Warenproduktion jeglicher Art denkbar ist. Der Versuch jedenfalls, einer Warenproduktion einen sozialistischen Charakter zu verleihen, schlug im Osten fehl.

(18.1) Re: "unmoderne Warenproduktion", 18.11.2001, 18:49, Birgit Niemann: An dieser Stelle würde ich z.B. gern auf meine Töpferwerkstatt in Kerameikos zurückkommen. Was hat die athener Töpferwerkstatt mit Siemens gemeinsam und wie unterscheiden sie sich? Die Töpferwerkstatt produzierte für den Binnenmarkt und für den antiken mittelmeerischen Weltmarkt. Das tut Siemens auch, allerdings für den modernen Weltmarkt, der den ganzen Globus umfasst. Die antike Töpferwerkstatt realisierte vermutlich den Vertrieb auf dem Binnenmarkt selbst und auf dem Weltmarkt über Händler. Siemens vertreibt vermutlich hauptsächlich über Händler, wobei auch "siemenseigene" Händler dabei sein könnten. Die Töpferwerkstatt investierte Geld in den Kauf von "stofflicher Arbeitskraft" (Sklaven), um Töpferwaren zu produzieren, die auf dem antiken Binnen- und Weltmarkt Gewinn abwerfen sollten. Siemens dagegen investiert Geld in "virtuelle Arbeitskraft" (Lohnarbeiter), die natürlich ebenfalls stofflich eingesetzt werden muss, um Elektronikwaren zu produzieren, die auf dem Binnen- und Weltmarkt Gewinn abwerfen sollen. Der antike Töpfermeister (oder seine Haussklavin) kaufte sicherlich Lebensmittel und andere Waren, um seine Sklaven angemessen zu erhalten. Vielleicht hatte er auch ein eigenes Landgut, wo er dergleichen produzieren ließ. Siemens dagegen erhält "seine Arbeitskräfte" indem sie vom Managment mit virtuellen Lebensmitteln (Geld) entlohnt werden. Die Umsetzung in materielle Güter erledigen diese während ihrer "Freizeit" dann selbst. Die Athener Töpferwerkstatt konkurrierte mit den Töpfermeistern aus der Nachbarschaft um Kunden, von denen die Athener selbst vermutlich noch zum Teil ihre Schüsseln im eigenen Ofen brannten. Doch auf dem antiken Weltmarkt war athenische Keramik so berühmt, dass die meisten athenischen Binnen-Konkurrenten vermutlich gutes Geld gemacht haben. Der Weltmarkt war noch weit davon entfernt, gesättigt zu sein. Siemens dagegen hat es besser und schlechter. Kein Kunde stellt seinen eigenen Kühlschrank (Waschmaschine etc.) her.Alle müssen kaufen. Dafür ist der Weltmarkt heute relativ gesättigt und Marktanteile verschieben sich nur durch Verdrängung und die Zahl der Konkurrenten ist groß. Siemens muss heute systematisch Wissenschaft, Werbung und Rationalisierung betreiben, um durch erneuerte und billigere Produkte verdrängungs-konkurrenzfähig zu bleiben. Die antiken Töpferwerkstatt mußte noch nicht permanent erneuern und konnte sich den Luxus noch leisten, Individulität und Schönheit zu kultivieren und nur gelegentlich eine kleine technische Verbesserung des Handwerks anzubringen. Auf ungesättigten Märkten mit wenig Konkurrenten lebt es sich gut und ohne Hektik. Wohin ich auch schaue, ich finde nur graduelle Unterschiede zwischen Siemens und der antiken Töpferwerkstatt, aber keine grundsätzlichen. War die Arbeit in der antiken Töpferwerkstatt abstrakt? Ich weiß es nicht. Doch es gab durchaus auch Lohnarbeiter in den Werkstätten, z.B. künstlerisch geschätzte, freigelassene Sklaven. Und auch an eine organisierte, innere Arbeitsteilung würde ich schon glauben. Wenn auch noch nicht so absolut. Was ich aber bereits in der Antike deutlich erkenne, ist ein quicklebendiger und rund um vollständiger Rückkopplungszyklus W-G-W'. Er funktionierte mit Sklavenarbeit hervorragend und war nirgends gehemmt oder unterbrochen. Allenfalls wirkte er etwas unreif und "phantasievoll verspielt". Es stellt sich die Frage, ob der Rückkopplungszyklus die antike Gesellschaft beherrschte? Natürlich nicht, denn er produzierte zwar nützliche Waren, mit deren Hilfe er antikes "Kapital" akkumulierte, aber er reproduzierte noch nicht die Gesamtheit der antiken Gesellschaft, die eine durch und durch agrarische Subsistenzwirtschaft war (zumindestens vor Alexander und Rom). Was mich nun wirklich interessieren würde ist, zu ergründen, ob der Rückkopplungszyklus bereits in der Antike zur aggressiven gesellschaftlichen Ausweitung neigte. Das herauszufinden, reicht mein mageres Wissen in alter Geschichte leider nicht aus.

(18.1.1) Re: "unmoderne Warenproduktion", 04.01.2002, 14:00, Birgit Niemann: Ich habe gerade einen Fehler im obigen Kommentar entdeckt und komme an den Korrekturmodus nicht mehr heran. In der 9. Zeile von unten muss es natürlich G-W-G' heißen.

(18.2) Fehlschlag, 13.05.2003, 09:21, Uwe Berger: Weil der Charakter der Warenproduktion von den, sich in und mit ihm Adsoziationierenden, in Klassen, Gruppen und Kolonnen zur allseitigen Olymphdrainage (mach´s mit-nach-besser) der klassischen SklavenStädter Inhalte nicht entziehen konnte. Ist der Wettkampf um Zensuren von 1 bis 6 abgeschafft, kann sich die Individualität in dieser Entwicklungsphase adsoziieren und Azsoziation wird als Miteinander erkannt, weil die Wettkampfidentität um die Aufmerksamkeit des Individualgespenstes "Lehrer" aufhört. Aber 25 Schüler sind eine gute Therapie, Burnoutsyndrom = die Vorstufe einen neuen Inhalt zu finden. Wir müssen den anderen nur zeitig mitteilen, wie die Sackgasse vermieden würde, in der wir die ABC-Schützen gleichermaßen an die Wand stellen. Erfurt klingt noch recht seicht gegenüber Jordan oder Tigris; und einer kann nicht zweimal in den selben Fluß steigen (griechisch philosophische Tragödie)

(19) Bei Kurz ist die Sache eindeutig, die Bezeichnung des Kapitalismus als modernes warenproduzierendes System verweist darauf: Ein Ende des Kapitalismus ohne Schrecken denkt Kurz nur als Begründung einer Gesellschaft, in der die Mittel zum Leben nicht mehr als Waren produziert werden. In diesem Punkt impliziert sein Kapitalismusbild eine entscheidende Kontur der erhofften neuen Gesellschaft. Eine sozialistische oder kommunistische Warenproduktion ist unmöglich.

(19.1) Die unmögliche Warenproduktion, 18.11.2001, 22:23, Birgit Niemann: Und wieder bleiben wesentliche Fragen offen. Wohin ich in der Geschichte auch blicke, überall ist das Wachstum und die spezialisierende Differenzierung von Gesellschaften mit interner Zunahme von Güter-Tausch und Güter-Handel verbunden. Externer bzw. intergruppen-Gütertausch ist noch viel älter. Tausch und Handel aber, die über den Gesichtskreis persönlich verbundener Individuen hinausgehen, haben überall, sei es im alten China, im indischen Kulturkreis, am antiken Mittelmeer oder im vorkolumbianischen Mittelamerika, unabhängig voneinander Tauschäquivalente hervorgebracht. Keine Kultur realisierte eine andere Idee. Ein Tauschäquivalent aber kann nur, ob man das wahrhaben will oder nicht, abgelöst von den konkreten Gebrauchswerten sein. Genau darin aber liegt die Potenz zur Verselbsständigung, die zuerst, ob zufallig oder nicht, im Mittelmeerkulturkreis erfolgte. Danach hatten die anderen Kulturkreise keine Gelegenheit mehr, diese Verselbstständigung selbst zu vollziehen. Es ist für mich kaum vorstellbar, eine differenzierte, hochspezialisierte Gesellschaft zu haben, in der spezielle Gebrauchswerte ausgetauscht werden müssen, ohne ein Tauschäquivalent zu entwickeln. Was könnte denn an die Stelle eines Tauschäquivalentes treten? Oder ist Tausch vermeidbar, wenn Spezialisierung die gesellschaftliche Reproduktion beherrscht? Oder soll die gesellschaftliche Reproduktion gar nicht spezialisiert sein? Wenn sozialistische Warenproduktion grundsätzlich unmöglich ist, dann muss die bisher noch nie realisierte sozialistische Gesellschaft das Problem des Austausches ohne Tauschäquivalent lösen. Oder soll der neue Sozialismus etwa eine Ansammlung parallel existierender Subsistenzwirtschaften mit persönlich bekannten Individuen sein? Das hatten wir allerdings etwa 95% der Zeit der Menschheitsgeschichte lang. Genau das ist überall aber verschwunden. Das war doch keine zufällige Willkür.

(20) Der an Marx gebildete Mensch, der auch mit dem Aufblühen und dem Scheitern der "sozialistischen" Warenproduktion sowie mit den verheerenden Wirkungen der westlich-kapitalistischen vertraut ist, kann dem gut folgen. Bietet nun die Kurzsche Kapitalismus-Analyse über diese Negativ-Bestimmung des Neuen hinaus auch eine Vorstellung davon, wie sich eine postkapitalistische Gesellschaftlichkeit anders als auf der Grundlage von Warenproduktion konstituieren könnte?

(21) Gemach! Zunächst wird mit kräftigen Worten dasjenige noch geschwärzt, was nicht nur dem durchschnittlichen Schwarzbuch-Leser gewiss schon als düster bekannt ist. Es ist legitim, in der Nähe des Todes schwarz zu tragen. Doch - und nur dies macht uns den Kapital-Tod überhaupt annehmbar - es geht hier zugleich um das Begründen eines neuen Lebens. Es geht um mehr als um einen fröhlichen Abschied vom Alten. Wenn das Nachdenken zum Beispiel über eine vergehende Vegetation dem Erkennen derjenigen Pflanzen oder Keime dient, die Ausgangspunkt einer neuen Kultur sein könnten, dann müssten diese wohl farblich besonders herausgehoben werden. Es ist dann nicht hilfreich, unterschiedslos den ganzen alten Wald samt aller Lebewesen in Schwarz zu tünchen, so als sei alles - gleich einer Sintflut ohne Arche - unterschiedslos zu vernichten.

(22) Kurz aber verfährt genau so. Er bleut dem Leser ein: Der Kapitalismus, ja das ganze Arbeiten und Leben in ihm sei so etwas von rabenschwarz, dass es bereits unbegreifbar ist, wieso die in ihm noch vegetierenden Menschen sich selbst überhaupt noch ertragen können. Er wird für diese schwarze Sicht seine Gründe haben. Verschieben wir es zunächst, danach zu fragen. Nehmen wir auch erst einmal an, er wird später noch Argumente für seine Hoffnung benennen, dass der Kapitalismus zwar enden wird, aber das menschliche Leben nicht notwendig in einer allgemeinen Zivilisationsvernichtung vergehen muss, sondern in lebensfähigen neuen Kulturen neu erblühen kann.

(23) Erst einmal breitet Kurz umfänglich ein solches Material über den Kapitalismus aus, das dem willigen Leser auch das schmerzhafteste eigene Ende sowie einen allgemeinen Untergang eher noch als ein Glück erscheinen lässt, als das Weiterleben in diesem System.

(24) Was erfahren wir also über den Kapitalismus und uns Unwesen, die in ihm vegetieren?

(24.1) Was erfahren wir?, 30.12.2001, 19:36, Birgit Niemann: Das Wichtigste, was wir bei Kurz über den Kapitalismus und uns Unwesen, die wir in ihm vegetieren erfahren, ist in den drei obigen Notizen nicht enthalten. Wir erfahren Genaueres über den fortgeschrittenen Grad der Verselbständigung des auf sich selbst zurückgekoppelten Kapitals und über das kontinuierliche, historisch konkrete Fortschreiten dieser Verselbständigung. Weiterhin bekommen wir am Gegenstand nachgewiesen, dass diese Verselbständigung bisher von keiner in Handlungen umgesetzten Geistesanstrengung erfolgreich behindert werden konnte und wir werden mit einer Theorie konfrontiert, warum das so war. Diese Theorie ist in sich und mit der Realität konsistent genug, um uns zu provozieren, uns zu ihr zu verhalten. Zuzüglich wird deutlich herausgearbeitet, dass die Richtung dieses Fortschrittes einerseits zum beschleunigten Verschwinden selbstbestimmter (wenn auch engstirniger und kleinkarierter) ökonomischer Reproduktiongemeinschaften und anderseits zur fortschreitenden Funktionalisierung menschlicher Subjekte führte. Auch erfahren wir nicht nur näher das, sondern wie und warum diese Subjekte mittlerweile nicht mehr nur von den erzwungen, sondern von fast allen verbindlichen sozialen Verpflichtungen und gesellschaftsreproduzierenden "Möglichkeitsbeziehungen" befreit wurden. Von keiner soziologisierenden Selbstverblendungshoffnung beschränkt dokumentiert Kurz wunderbar klar, wie die "schöne Maschine" des blinden "kapitalorganisierten Stoffwechsels" an sich toter Waren ganz gespenstisch immer "geistfreier" und "quasi-lebendiger" wird. Gerade das nichtmoralisierende, ungeschminkte und historisch genaue Ausleuchten dieses objektiv ablaufenden Prozesses bis in die ferneren Verästelungen menschlichen Daseins und Denkens hinein, ist für mich die stärkste Seite der Kurz'schen Darstellung, in der sich verständlicherweise auch die subjektiv hilflose Wut und Ohnmacht gegenüber diesem als objektiv erkanntem Prozess immer wieder Bahn bricht. Hinzu kommt die erfrischende und wenigstens theoretisch wieder salonfähig gemachte konsequente Ablehnung der abstrakten Arbeit, die Kurz in seiner Theorie untrennbar mit der Verwertung des Wertes verkoppelt hat. Fast jeder heutige Mensch kann die wesentlichen Aussagen am eigenen Leibe nachvollziehen und sich in den historischen Zusammenhängen wiederfinden, was sich durchaus als Aktivator individueller Bedürfnisse nach organisierter Abwehr des in seiner Schonunglosigkeit Schockierenden erweisen kann. Obwohl das dargestellte und analysierte Faktum, wie das Kapital in den 500 Jahren seines Wirkens den ehemals doppelt freien Lohnarbeiter mit einer dritten Freiheit, der Freiheit von fast allen materiellen Grundlagen für einen selbstständig organisationsfähigen Geist, beglückt hat, nicht gerade in begeisterten Optimismus ausbrechen lässt. Doch ohne adäquate Reflektion der eigenen Lage, sei sie auch noch so beschissen, kann selbst gedachtes Ausbrechen und virtueller Widerstand nichts als Illusion oder wütend bewußtloses Strampeln sein.

(24.2) historreichlicher Irrtum, angefangen bei Adam und Eva, 13.05.2003, 09:42, Uwe Berger: Es heißt doch auch: wer war eher da Henne oder Ei? - Nach dem Hahn hat da noch niemand gekräht. Wovon stammeln wir ab? Gedanken schaffen mehr Möglichkeiten, Antwort finden wir nur im Tun

(25) Nun können einem die alltäglichen Nachrichten über das Dahinsiechen von Ethnien und Völkern sowie das Sterben ganzer Regionen schon die kalte Wut aufsteigen lassen. Kurz' heiliger Zorn ist nachvollziehbar. Doch ein Verständnis des Kapitalismus als absurd lässt diesen als etwas Widernatürliches, Entartetes, Künstliches erscheinen. Es wäre dann eine Gesellschaftsordnung, die Kraft der Bösartigkeit des einen Teils der Menschen, der Privilegierten, und der Dummheit des anderen, ins Leben getreten ist und die sich nur dank solcher Bos- und Dumpfheit aufrechterhält. Das impliziert: Als diese Bösartigkeit und Dummheit noch nicht herrschten oder dann, wenn sie wieder aufgehoben sein werden, da gab es Natürlichkeit und Menschlichkeit bzw. dann wird es diese wieder geben.

(25.1) absurder Kapitalismus, 30.12.2001, 19:39, Birgit Niemann: "Doch ein Verständnis des Kapitalismus als absurd lässt diesen als etwas Widernatürliches, Entartetes, Künstliches erscheinen." Diese Einschätzung kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Kurz zeichnet sich aus meiner Sicht nicht durch ein Verständnis des Kapitalismus als "absurden Irrtum der Geschichte" aus. Er charakterisiert mit derartigen Begriffen lediglich den Anblick der "schönen Maschine" aus der Blickrichtung der von ihr verwerteten menschlichen Subjekte. Damit reflektiert er die subjektive Realität des menschlichen Funktionselementes und nicht den Prozess selbst. Auch macht gerade er immer wieder darauf aufmerksam, dass es eben nicht ein privilegierter Teil der Menschen ist, die den Prozess treiben (obwohl diese ihn faktisch organisieren), sondern die blinde Logik der Selbstverwertung des Kapitals, die selbst ihre Macher erbarmungslos funktionalisiert. Mit scheint, mit den obigen Behauptungen wird Kurz für denkerische Fehlleistungen geprügelt, die er selbst gar nicht vollzieht. Für mich drückt sich im Schwarzbuch nicht eine Einschätzung des Kapitalismus als "Resultat von gewollter Bösartigkeit" aus, sondern die Ahnung, dass der Kapitalismus eben gerade die Fortsetzung der blinden Natur mit virtuellen Mitteln ist. Obwohl Kurz selbst diesen Gedanken gar nicht zu Ende denkt. Das Kapital begann mit dem doppelt freien Lohnarbeiter und hat 500 Jahre gebraucht, um die dreifach freie, postmoderne individuelle Monade zu erzeugen (frei von Substistenzmitteln, frei von persönlichen Abhängigkeiten und anderen Bindungen, nahezu frei von organisationsfähigem Geist). Gegenwärtig ist das Kapital gerade dabei, die Vorraussetzungen dafür zu schaffen, den Menschen auch noch von seiner biologischen Reproduktion und seinem eigenständigen Genom zu befreien. Diese hochgefährliche Entwicklung wird leider in der Linken kaum wahrgenommen und erst recht nicht reflektiert. Ob die (Un)Wesen, die im Ergebnis dieser vierten Befreiung entstehen werden, überhaupt noch Menschen genannt werden können, ist meiner Ansicht nach fraglich. Über "freie Menschen in freien Vereinbarungen" wird unter solchen Individuen sicher nicht einmal mehr geredet werden.

(25.1.1) Re: absurder Kapitalismus, 11.01.2002, 11:17, Stefan Meretz: Das Bild vom dreifach freien Lohnarbeiter finde ich ja witzig, aber was ist "organisationsfähiger Geist", dessen Abwesenheit die dritte "Freiheit" ausmachen solle? In der Lohnarbeit ist dergleichen geradezu Voraussetzung für das Funktionieren derselben.
Und zweite kleine Anmerkung: "individuelle Monade" ist wohl ein gelungener Pleonasmus - oder übersehe ich da was?

(25.1.1.1) Re: organisationsfähiger Geist, 13.01.2002, 23:30, Birgit Niemann: Mit organisationfähigem Geist bezeichne ich nicht die individuellen geistigen Fähigkeiten eines einzigen Menschen, sondern die Verkopplung "individueller Geister" mit Ressourcen, die es den Individuen erst ermöglichen, ihren kooperierenden Geist auch so erweitert zu reproduzieren, das organisiertes Handeln nicht nur wünschenswert, sondern auch real möglich werden kann. Auch habe ich den Eindruck, das es einer wachsenden Zahl postmoderner Spaßindividuen bereits am Willen zur Organisation und zur gesellschaftlichen Reflexion fehlt. Wille ist für mich zweifellos eine Kategorie, die mit Geist zusammenhängt. Wo kein Wille zur Organisation, da auch kein organisationsfähiger Geist. Das gilt natürlich nicht für alle, aber mir scheint, die Tendenz ist steigend und sie ist ein Erzeugnis der Warenwirtschaft. Wenn du thematisierst, dass Geist heute stärker als je die Vorraussetzung für erfolgreiche Selbstvermarktung ist, dann denkst du sicherlich auch an Informatiker und Wissenschaftler. Aus meiner Wissenschaft weiß ich allerdings die Tendenz zu berichten, dass in ihr das "Datensammeln" Priorität vor der "Reflexion" gewinnt. Nun ist "Datensammeln" zweifellos eine Vorraussetzung für Reflexion, weil es das "Denkmaterial" ja liefert, aber eine Vorraussetzung ist noch nicht der Reflexions-Prozess selbst. Selbst dann nicht, wenn dafür eine bestimmte Art von instrumentellem Denken benötigt wird. Zum Zweiten: Ich weiß nicht, wass ein Pleonasmus ist und werde gleich meinen Brockhaus fragen. Aber wenn er bedeuten soll, das eine "indivduelle Monade" "doppelt gemoppelt" (Begriff aus meiner Kindheit) ist, dann hast du zweifellos recht. Ich versuche zukünftig besser aufzupassen.

(25.2) Kalte Wut, 13.05.2003, 11:01, Uwe Berger: Weil es kein natürliches Dasein ist, was sich da offenbart, sondern eingefrorener Symbolismus, (der Mensch ißt seinen Nächsten nicht, er schlachtet ihn nur) wie erklärt einer was böse heißt: (soll ich erst böse werden?!). Stupid white man - Gutartigkeit und Stummheit stellen sich ein, wenn wir den authentischen Ausdruck fördern und aufhören den Symbolismus zu pflegen. Wenn wir und unser nächstes (die Schwerkraft zieht uns alle an) aufgehoben sind Dank Hier und Jetzt, denn da fallen alle Symbole (vergangene Zukunft) in sich zusammen. Überheblich ist, wer meint ein Vergangenes aufheben oder einem Zukünftigen Gewicht zu verleihen. Das wird nur immer schwerer. natürlich menschlich leicht bleiben - nicht Aufhebens machen, sondern loslassen! Gefühl mit VerNUNft in uns heben, ein in Waage halten, wer könnte sagen, was das wiegt? ...Was?nun... Welche Tat? Gelegenheit gibt Rat

Zorn auf den Kapitalismus - etwas an sich Gutes?

(26) Ist diese Methode fragwürdig? Ist es, wenn mensch die weitere Existenz des Kapitalismus als Zivilisationsbedrohung ansieht, nicht völlig gerechtfertigt, ihn als Teufelswerk zu brandmarken, um so möglichst viele Menschen auf die (vermeintlich) antikapitalistische Seite zu ziehen? So hat schon W. Weitling (zum Ärger von Marx und Engels) den Kapitalismus vernünftelnd und moralisierend verflucht (MEW 20/18, 7/416). In diesem Sinne haben häufig auch die Propagandisten des ML gepredigt - lange Zeit durchaus erfolgreich bis sich dann die jahrzehntelang missionierten Menschen plötzlich und für die Ideologen aller Seiten überraschend für den westlichen Kapitalismus entschieden. Ist diese von Marx bekämpfte (und doch auch selbst praktizierte) Methode, Stimmung gegen den Kapitalismus zu machen, deswegen falsch, weil sie nicht mehr so wie bei Lenin allmächtig erscheint (LW 19/3), sondern schließlich am Ende des 20. Jahrhunderts in der Niederlage endete? Kann sie nicht wieder geschichtsmächtig werden? Die Nachwendeerfahrung hat doch im Osten zu einer geradezu stehende Redewendung geführt: "Die SED hat die DDR immer hemmungslos schöngeredet. Was aber im Parteilehrjahr über den Kapitalismus gesagt wurde, hat sich bewahrheitet." Selbst Karl-Eduard von Schnitzlers Gift und Galle in Schwarzem Kanal erscheint rehabilitiert. Also her mit dem Zorn über einen absurden Kapitalismus, über die sogenannte Abweichung vom Natürlichen, über die Absurdität und die Unvernunft von Menschen, die noch in bürgerlicher Mentalität verfangen sind? Kurz schreibt zuweilen so, wie etwa der Prediger Thomas Münzer am Bad Frankenhäuser Schlachtberg gepredigt haben muss, ehe die Bauern niedergemacht wurden.

(27) Was ist problematisch am Anprangern eines Gesellschaftszustandes als überfällig durch Anrufung eines Natürlichen nach dem Muster "Als Adam grub und Eva spann, ... wo war denn da der Edelmann?" Hat nicht die ideologische Mobilisierung unter der Fahne eines angenommenen Naturrechts, des Vernünftigen, des Einfachen tatsächlich im zivilisationsfördernden Sinne Geschichte gemacht, auch und gerade in der bürgerlichen Aufklärung (gegen die Kurz allerdings, wie noch zu zeigen ist, vehement zu Felde zieht)?

(28) Meine Meinung vorweg: Die Kritik an gesellschaftlichen Zuständen durch deren Denunziation als angeblich unnatürlich und absurd sowie das Mobilisieren von Menschen durch die Beschwörung eines vermeintlich natürlichen, vernünftigen Lebens - das war bei Münzer stark und bei Rousseau großartig. Es war in der alten Arbeiterbewegung noch zivilisationsfördernd. Bei Brecht (Lob des Kommunismus und An die Nachgeborenen: Der Kommunismus ist das dem Kapitalismus entgegenstehende Vernünftige, schwerzumachende Einfache, das mit unfreundlichen Mitteln durchzusetzende Freundliche) ist es schon bedenklich. In unserer Zeit kann diese Methode keinerlei historische Berechtigung im Sinne der Förderung zivilisatorischen Fortschritts mehr für sich in Anspruch nehmen. Das Ringen um Zukunft auf Basis einer verkürzten Kapitalismuskritik zu führen, aber etwa als Kampf gegen sogenannte Entartungen (von Teilen der Kapitalistenklasse) und unter Berufung auf irgendeine Natürlichkeit (zum Beispiel der Arbeiterklasse, auf deren Naturrecht zur Lohnarbeit) und ewige Gerechtigkeit - das ist für Sozialisten völlig unerträglich geworden. Warum?

(28.1) zivilisatorischer Fortschritt, 30.12.2001, 20:50, Birgit Niemann: Was zum Teufel soll "zivilisatorischer Fortschritt" überhaupt sein ? Ist damit die Verrechtlichung der menschlichen Beziehungen einschließlich der zwischenstaatlichen gemeint ? Verbirgt sich dahinter die zunehmende technisch-ökonomische Differenzierung und Komplexität der Gesellschaften bei steigender Arbeitsproduktivität durch fortschreitende Funktionalisierung ihrer handlungsfähigen Subjekte ? Oder wird hier vielleicht auf ein eingebildetes Fortschreiten der "Humanisierung" und "Demokratisierung" menschlicher Beziehungen angespielt ? Mir scheint, alle drei genannten und weitere nicht genannte Prozesse finden statt und hängen auch miteinander zusammen. Allerdings kann ich darin nur wenig "zivilisatorischen Fortschritt" des Menschen und seiner sozialen Gesellschaft erkennen. Vielmehr sehe ich vorrangig Elemente von Eigenentwicklung des Kapitals auf Kosten der Menschen und ihrer Gesellschaften. Insbesonders seit dem 11. September diesen Jahres kann man ja auch geradezu zuschauen, mit welch atemberaubendem Tempo die ach so "zivilisatorischen Errungenschaften" der internationalen und nationalen Verrechtlichung der menschlichen Beziehungen zugunsten von kapitaler Macht- und Sicherheitspolitik wieder verworfen werden. "Humanisierung" und "Demokratisierung" sind ohnehin Orwell'sche Begriffe, die seit Beginn der "Zivilisation" schon immer nur in sehr eingeschränkten Zusammenhängen Gültigkeit hatten. Wesentlich häufiger als durchgesetzt, wurden sie im Rahmen kapitaler Vereinnahmungstrategien funktionalisiert. Aus meiner Sicht würde es die Diskussion erleichtern, wenn auf solche unbestimmten und inhaltsarmen Begriffe wie "zivilisatorischer Fortschritt" verzichtet wird und stattdessen tatsächliche und konkrete Entwicklungen in ihren realen Verknüpfungen verfolgt und reflektiert werden.

(29) Erstens sind unlängst im Osten Gesellschaften gescheitert, deren Führer und Ideologen sowie die lange Zeit treu folgenden Völker entsprechend dieser Methode dachten und handelten. Hier wurde ein Verständnis von Kapitalismus propagiert, das dessen Weiterexistenz zumindest im 20. Jahrhundert faktisch als Betrug ansah, als Ergebnis falscher, täuschender Ideen und als Resultat der dementsprechenden Dummheit des verführten gutgläubigen Volkes sowie des bürgerlichen Terrors. Vor dieser Folie erschien der "Sozialismus" dagegen als natürlich, vernünftig, als Ausdruck der Fähigkeit, das Volk entsprechend aufzuklären, zu führen und die bürgerlichen Lügen/Lügner zu vertreiben.

(30) Zweitens sind auch im Westen alle Avantgarden gescheitert, die gleichfalls im Stile der Schwarzbuch-Methode die sogenannten unnatürlichen, unvernünftigen kapitalistischen Zumutungen brandmarkten. Durch anklagendes Aufklären von Menschen über kapitalistische Ungerechtigkeiten und Absurditäten förderten sie Massenempörungen, organisierten und führten auf dieser ideologischen Basis zeitweilig Millionen Menschen im praktischen Kampf. Nicht nur, dass sie den Kapitalismus nicht stürzten, ihre Organisationen selbst sind inzwischen zerfallen oder passen sich zunehmend dem einst Bekämpften an.

(30.1) Scheitern der Avantgart im Kapitalismus und mögliche Alternative, 30.06.2003, 10:42, Christian Simon: Es ist richtig zu urteilen, dass die bisherige Avantagrt (z.B. APO, RAF, etc.) in der sozialen Marktwirtschaft gescheitert sind, auch wenn sie populistisch die Massen bewegen konnten. Das hat meiner Meinung nach zwei Hauptgründe:# 1. Bekämpften sie Kapitalismus mit Kapitalismus (siehe Planwirtschaft) basierend auf einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung 2. Sahen sie es nie als ihre Aufgabe an, eine Alternative zum bestehenden System zu entwickeln (siehe z.B. Rudi Dutschke)# Beide Gründe sollten in Zukunft von der Avantart vorher geklärt werden, um erneute Depressionen (z.B. der 68er Revolution) zu vermeiden und den Menschen eine wirkliche Alternative und damit Perspektiven zu bieten. Nach Revolution und Anarchie zu schreien ist einfach, das System zu verändern hingegen eine Herausforderung. Meiner Meinung nach benötigt man hierfür folgende Annahmen: 1. Entkapitalisierung des Produktionsfaktors Kapital 2. Entkapitalisierung des Produktionsfaktors Arbeit 3. Annahme unbegrenzter Ressourcen und einer Wissensgesellschaft 4. Globalisierung, Informatisierung und Technokratisierung um die Bürokratie, die Transparenzlosigkeit und die Umweltzerstörung zu überwinden. mfg Christian Simon

(31) Drittens gab es bereits ein spezifisches Kapitalismusbild, das national-sozialistische, das auch auf einer derartigen denunziatorischen Methode beruhte. Ohne den Kapitalismus tatsächlich infrage zustellen, vermochten die National-Sozialisten einen diffusen Antikapitalismus von Millionen zu mobilisieren und ein ganzes Volk für die Teilhabe an den bisher größten Verbrechen an der menschlichen Zivilisation zu befähigen. Weder der verkürzte und auch völkisch werdende[6] Antikapitalismus der Kommunisten noch der der Sozialdemokraten konnte dieser Nazi-Methode durchschlagenden Widerstand entgegensetzen. Die "antikapitalistischen" Grundzüge der Ideologien dieser Todfeinde waren einander zu ähnlich. Der Übergang eines Großteils der organisierten Arbeiterbewegung auf die Seite der Nazis von 1933, die gleichfalls schnelle Einordnung einer nazistisch geprägten Bevölkerung in die Strukturen eines westlichen Kapitalismus (Marcuse 1998, 27ff) bzw. eines "Sozialismus" und die geradezu blitzartige Wende 1989/90 erscheinen so nicht mehr als ein Rätsel.

(32) Weiter zum 2. Teil...

Anmerkungen

(33) [1] Robert Kurz, Schwarzbuch des Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Eichborn Verlag Frankfurt/Main 1999, 816 Seiten. Im folgenden Text beziehen sich Seitenangaben ohne Literaturverweise immer auf das Schwarzbuch.

(34) [2] Gruppe Krisis, Manifest gegen die Arbeit, Eigenverlag, Moosdruck Leverkusen 1999, 50 Seiten.

(35) [3] Kurz ist Kolumnist in der Südeutschen Zeitung sowie im Neuen Deutschland.

(35.1) 04.01.2002, 16:41, Birgit Niemann: Das ist doch gut so. Je mehr Leute er mit der kritischen Grundhaltung zum Kapitalismus erreicht, desto besser. Bedenklich wäre das nur, wenn die von ihm unter die Leute gebrachten Auffassungen von den Konkurrenzbedürfnissen der entsprechenden Zeitungen diktiert würden. Das aber würde ein denkender Mensch sofort am Inhalt der Aussagen feststellen können.

(36) [4] So Michael Heinrich und Thomas Kuczynski in einer Podiumsdiskussion mit Robert Kurz in der Humboldt-Universität Berlin am 16.3.2000.

(37) [5] Kurz rechnet wie ein Buchhalter vor: Der Menschheit gehe es bis heute in nahezu jeder Hinsicht schlechter als im 14. und 15. Jahrhundert. Die bürgerliche Gesellschaft habe keinerlei zivilisatorische Leistung erbracht. (72)

(38) [6] Siehe das zu Beginn der 1930er Jahre entwickelte Programm zur nationalen und sozialen Befreiung der KPD.


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