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Kapitalismus - Sintflut ohne Arche? (Teil 4 von 4)

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 10.11.2001
Projekt-Typ: geschlossen
Status: Archiv

Marx als Steinbruch von Ideen

(1) Kurz schreibt im Schwarzbuch: "Hannah Arendt übersieht völlig, dass sich die Marxsche Theorie viel stimmiger auch genau umgekehrt lesen lässt, nämlich als radikale Kritik der Pseudo-Naturgesetzlichkeit (die von Marx immerhin als fetischistischer Verblendungszusammenhang dargestellt wird und nicht platt als zu exekutierende 'Gesetzmäßigkeit'." (545) Doch trotz derartiger positiver Bezüge auf Marx wird, wie bereits deutlich wurde, ein massiver Angriff auf dessen Geschichtsmaterialismus geführt. So kritisiert er den "Fortschrittsgedanken, der in Gestalt des 'historischen Materialismus' die kapitalistische Produktionsweise schlankweg als 'notwendiges Entwicklungsstadium' definierte". (174f.) In Bezug auf den häufig undialektischen, mechanischen Charakter des ML-Geschichtsmaterialismus wäre dem zuzustimmen, auch dass "mit dem 'Standpunkt der Arbeiterklasse' [...] in Wahrheit ein Standpunkt innerhalb der bürgerlichen, kapitalistischen Welt und ihrer permanenten, bewusstlosen Modernisierung eingenommen [wurde]. Realhistorisch wurde der 'Standpunkt der Arbeiterklasse' zum Standpunkt der 'Arbeit'." (173.)

(2) Hierfür aber macht Kurz auch und gerade Marx verantwortlich, weil dem angeblich auch "die liberalen Elemente seiner Theorie im Weg standen" (172), weil der mit dem Blick auf den Sozialismus-Kommunismus den Kapitalismus als eine unverzichtbare Voraussetzung, in diesem Sinne als ein notwendiges Durchgangsstadium ansah. Kurz "vergisst" hierbei eine Kleinigkeit. Der Liberalismus versteht im Gegensatz zu Marx den Kapitalismus als Endstadium und es stellt sich ihm die Frage nach der Rolle des Kapitalismus als Voraussetzung für die allgemeinmenschliche (sozialistische) Emanzipation überhaupt nicht. Kurz interessiert das nach dem 97er Lichtblick gleichfalls nicht (mehr). Stehen auch ihm "die liberalen Elemente seiner Theorie im Weg"?
Leute, die wie Kurz überhaupt nicht auf die Marxsche Argumentation hinsichtlich der revolutionären Rolle der Bourgeoisie eingehen und die unfähig sind, die "Größe und vorübergehende Notwendigkeit der Bourgeoisieregimes selbst [zu] begreifen", hat Marx kurz Lümmel genannt. (MEW 28/507f)

(3) Ansonsten tritt Kurz als Marxianer auf. Er lobt unter anderem, dass Marx "die Funktionsmechanismen der 'schönen Maschine' [die kapitalistische Produktionsweise - UW] in einer bis heute unübertroffenen Weise kritisch bloßgestellt" habe.(172) Er habe emanzipatorischen "Sozialrevolten zukunftsweisende Begriffe" geliefert "und zwar in Gestalt jener Enthüllungen des gesellschaftlichen 'Fetischismus' in den verselbständigten Selbstzweck-Formen des Kapitals, die auf eine radikale Kritik einer bewusstlosen Vergesellschaftung durch das Geld und auf einen davon emanzipierten 'Verein freier Menschen' hinausläuft." Weil aber damals leider "die am besten organisierten und bewusstesten Sozialrevolten schon untergegangen waren und Marx selber die liberalen Elemente seiner Theorie im Weg standen", finde sich bei ihm nur "eine traumartige Vermittlung zu den Motiven der rebellischen, emanzipatorischen Antimoderne", die "in seine Theorie merkwürdig schillernd und querliegend eingegangen" ist. (ebd.)

(4) Nun, dass die Kurzschen zukunftsfähigen Sozialrevolten schon lange Geschichte sind, ist nicht zu ändern. Dem Marxschen Liberalismus jedoch hilft Kurz nun endgültig ab. Das tut er, indem er sich eben auf Marx stützt, der - so Kurz - eine hervorragende Analyse der kapitalistischen Produktionsweise geliefert habe inklusive der Enthüllungen des Warenfetischismus, des praktischen und geistigen Eingebundenseins von (Lohn-)Arbeitern und Unternehmern in den Kapitalismus und in die entsprechenden Denkweisen. Das findet Kurz Klasse, nur den Geschichtsmaterialisten Marx, der einen inneren Zusammenhang zwischen der Existenz und Entwicklung des Kapitalismus und der Möglichkeit des Sozialismus-Kommunismus sieht, den lehnt er ab.

(5) Nun war aber Marx gerade deshalb zu den von Kurz gelobten und genutzten Erkenntnissen fähig, weil er den Kapitalismus als eine historische Errscheinung kritisierte und nicht moralisierend als einen Irrtum, als ein Resultat übler bürgerlicher Ideologen abtat, weil er ihn (und nicht die Sklaverei oder den Feudalismus) als eine gesellschaftliche Formation analysierte, die auf einem bestimmten Niveau der Entwicklung durch sozialistisch-kommunistische Bewegungen aufhebbar wird. Dass Marx gerade als Geschichtsmaterialist zu seinen Kritiken der politischen Ökonomie, inklusive der Erhellung des Fetischismus, fähig war, und diesen durch diese Kritiken entfaltete, das versteht Kurz nicht. Marx' Einsichten in die Bedingungen dafür, dass der Kapitalismus samt seiner Fetischismen aufgehoben werden kann, interessieren Kurz nicht. Er weiß nur, dass wegen dessen Geschichtsmaterialismus die Marxschen Ideologiekritiken "traumartig", "merkwürdig schillernd" und jedem theoretischen Anspruch "querliegend" sind. Gott sei Dank, Kurz hat diesen Mangel nun endlich behoben.

Marx - ein Kristall ewiger Wahrheiten?

(6) Das "Lümmelhafte" bei Kurz zu erkennen, ist ziemlich leicht. Das Andere ist, zu fragen, welche Probleme und Widersprüche der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung und ihrer theoretischen Durchdringung bei Marx bzw. im Marxismus hier ihre eigenartige "Auflösung" finden.

(7) Wie Kurz begreife ich die traditionellen Kämpfe der Arbeiterklasse inzwischen auch als notwendig innerkapitalistische Auseinandersetzungen, desgleichen den Real-"Sozialismus" als eine Gesellschaft, die die bürgerliche Epoche nicht einmal in wesentlichen Ansätzen hinter sich ließ (und auch nicht lassen konnte). Ich stimme Kurz auch in der Annahme zu, dass der ML, der den Real-"Sozialismus" als Herrschaftsinstrument flankierte und sich vielfach zu Recht auch auf Marx bezog, eine Theorie (und Ideologie) ist, die auf dem Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft verblieb. (Weiß 1998 und 2000) Kurz sieht das Ende des Ostens und den Zustand der Arbeiterbewegung jedoch als Hinweise auf den mechanisch-bürgerlichen Charakter auch des Marxschen Geschichtsmaterialismus und seiner Untauglichkeit als Basis von Gesellschaftskritik an. Ich finde dagegen, dass sich gerade der Geschichtsmaterialismus als Methode zur Analyse gerade dieser historischen Prozesse und des Erkennens ihres bürgerlichen Charakters bestens bewährt.

(8) Eine solche Behauptung kann allerdings nicht ignorieren, dass sich eine ganze Reihe von Marxschen Aussagen nicht bestätigt haben und dass sich der ML häufig durchaus folgerichtig auf Marx bezog. Das bedeutet, wer als ehemaliger ML-er der Kurzschen Einschätzungen bezüglich des sozialökonomischen Charakters von Arbeiterbewegung und Real-"Sozialismus" folgt und sich zugleich weiterhin zustimmend auf Marx bezieht, muss redlicherweise sein Verhältnis zu Marx neu bestimmen. Es geht nicht an, etwa die Vorstellung aufzugeben, die Diktatur des Proletariats sei der unumgängliche Weg vom Kapitalismus in eine sozialistische Gesellschaft (dies mit Kurz) und zugleich (gegen Kurz) zu erklären, mensch könne weiterhin in der gleichen Weise mit Marx argumentieren wie seinerzeit, als dieser als Kronzeuge für die Diktatur des Proletariats und des Real-"Sozialismus" bemüht wurde. In gleicher Weise wäre es unredlich, so wie Kurz den Marxschen Geschichtsmaterialismus zu verwerfen, sich aber zugleich seiner Kapitalanalyse inklusive seiner Entdeckungen über die Ursachen des Waren- und anderer Fetischismen zu bedienen, ohne den (bei Marx untrennbaren) Zusammenhang zwischen beiden selbst zum Gegenstand der Kritik zu machen.

(9) Dass mit der Leugnung der sogenannten historischen Mission der Arbeiterklasse und der Ablehnung der Diktatur des Proletariats zugleich der Standpunkt des gesamten Marxschen Denkens verlassen wird, ist in alter ML-Sicht unvermeidbar. "Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt."( LW 25/424, siehe auch 28/96ff). Abgesehen davon, dass Kurz die Loslösung sowohl von der Hoffnung auf proletarische Mission als auch vom Geschichtsmaterialismus als geistige Befreiung feiert, folgt er, indem er beides offenkundig als untrennbare Einheit behandelt, sozusagen stringent dem ML: das eine ist nur mit dem anderen zu haben oder beides ist zu verwerfen.

(10) Ist es aber - wie ich meine - nicht doch auf eine intellektuell redliche Weise möglich und geboten, die Orientierung auf die proletarische Diktatur aufzugeben, am Geschichtsmaterialismus aber festzuhalten? Richtig ist erst einmal, dass hinsichtlich des Übergangs zum Sozialismus-Kommunismus die Arbeiterbewegung in Marx' Geschichtsauffassung unleugbar einen zentralen Platz einnahm, dass die Marxsche Grundaussage zur proletarischen Mission nicht einfach aus dem Komplex seiner Geschichtsauffassung gestrichen, der "Rest" aber genutzt werden kann. Wer mittels des Geschichtsmaterialismus andere Wege in den Sozialismus als die über die Diktatur des Proletariats antizipieren will, muss sich in der Beziehung zu Marx äußerst komplexen Fragen stellen und diese eben geschichtsmaterialistisch beantworten:

(11) - Wieso hat Marx (und der Großteil der Arbeiterbewegung) dem Proletariat eine Mission zugebilligt, die ihre tatsächliche innerkapitalistische Rolle weit überschritt? Diese Annahme hat zum Beispiel Generationen von Sozialdemokraten und Kommunisten motiviert. Das ist im Gegensatz zu Kurz (der auch dies als Resultat des Betruges durch liberale Ideologen ansieht, denen auch Marx unterlag) im Marxschen Sinne nicht als Priesterbetrug zu analysieren. Es ist vielmehr zu fragen: Ist die Auffassung, das Proletariat sei Schöpfer der neuen Welt, nicht auch die Widerspiegelung eines realen, aber vergänglichen Scheins, eine Ideologie, die sich notwendig aus den konkreten, lange nicht überspringbaren historischen Bedingungen ergab und der auch Marx unterlag?

(12) - Dies bejahend und der historisch-materialistischen Methode folgend ist zu fragen: Unter welchen Bedingungen kann diese objektive Selbsttäuschung ihre reale Basis verlieren? Sind solche Bedingungen im heutigen Kapitalismus und in neuen sozialen Strömungen im Entstehen? Wird dies bejaht, dann müsste mittels der Marxschen Methode auf mögliche bzw. wenigstens marginal bereits existierende Formen gesellschaftlicher Praxis zu verweisen sein, die durch eine positive Entwicklung neuer Lebens- und Arbeitsweisen den Kapitalismus aufheben könnte.

(13) Dem Schwarzbuch-Kurz liegt ein solcher Anspruch fern. Er geht zu Recht davon aus, dass Marx der Arbeiterbewegung eine sozialistische Perspektive zubilligte, seine "Fortschrittsgläubigkeit" hinsichtlich des partiellen zivilisatorischen Fortschritts (innerhalb des Kapitalismus) und der allgemeinmenschlichen (sozialistischen) Emanzipation an die Kämpfe der Arbeiterklasse band und dass dies alles ein zentraler Punkt seines Geschichtsmaterialismus war. Da Kurz der Arbeiterbewegung nun keine sozialistische, sondern nur eine bürgerliche Perspektive zubilligt, schlussfolgert er: Marx nimmt mit seinem Geschichtsverständnis selbst einen bürgerlich-liberalen Standpunkt ein. Der historische Materialismus sei also theoretisch und praktisch widerlegt. Die erste Aussage als wahr vorausgesetzt, erscheint dies völlig logisch - logisch allerdings nur nach Kriterien des ML, nicht aber nach denen des Marxschen Geschichtsmaterialismus.

Widersprüche bei Marx

(14) Mit oben genannten Fragen ist ein anspruchsvolles Programm umrissen. Auch wenn es tatsächlich zu einer offenherzigen fortschreitenden Diskussion zwischen linken Theoriezirkeln käme, die Suche nach Antworten erfordert mehr als die Anstrengung des Begriffs (die freilich unverzichtbar bleibt). Die Diskussion kann nur als Selbstkritik ganz bestimmter sozialer Bewegungen erfolgreich sein. Es handelt sich um solche Bewegungen, die - und seien sie noch so marginal - bereits unter heutigen Bedingungen soziale Räume menschlicher Emanzipation, also neue Wirklichkeiten schaffen. Nur wenn sich die Diskutanten eng, d.h. auch lebensweltlich, mit dieser Praxis verbinden und sozusagen den Faradayschen Käfig der reinen Theorie verlassen, können sie sich zur Selbstkritik entsprechender Bewegungen befähigen, sozusagen die Rolle des organischen Intellektuellen übernehmen. Die Arbeit an o. g. Fragen zum Marxschen Geschichtsmaterialismus kann helfen, die Spezifika solcher Wirklichkeiten zu erfassen und die Bedrohungen zu erkennen, die sie abzuwehren haben.

(15) In diesem Sinne hier einige skizzenhafte Bemerkungen zu Marx: In der Entwicklung seiner Auffassungen zur geschichtlichen Rolle des Proletariats sind unterschiedliche Ansätze zu finden: Einmal erklärt er es als einen wesentlichen Vorteil der von ihm vertretenen Bewegung zur Aufhebung der Privateigentums durch die proletarisch-kommunistische Revolution, dass sie sich hinsichtlich ihrer Fähigkeit zu Begründung der menschlichen Gesellschaft ihrer Beschränktheit bewusst ist. Sie könne nur eine unverzichtbare Voraussetzungen für die Überwindung des Kapitalismus schaffen. Die positive Aufhebung des Kapitalismus selbst aber kann sie nicht bewirken.[12] Nicht diese kommunistische (Arbeiter-)Bewegung, die von Marx' historischem Standort aus gesehen, das Gebot der nächsten Zeit sei, sondern erst ihre Aufhebung begründe positiv die neue Gesellschaft.

(16) Der ML definierte die Entfaltung bürgerlicher Strukturen im Real-"Sozialismus" (Spaltung der Gesellschaft in Führer und zu Führende, Ausbau der Rolle des Staates, Entwicklung der "sozialistischen" Warenproduktion, Mobilisierung des bürgerlich-egoistischen Interesses als Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung usw.) als sozialistisch-kommunistischen Fortschritt. Insofern ignorierte der ML o.g. frühen Marxschen Gedanken und stellte sich in dieser Hinsicht gegen Marx bzw. theoretisch und praktisch-politisch gegen Menschen, die die Frage nach dem sozialistisch-kommunistischen Charakter (im Sinne der allgemeinmenschlichen Emanzipation bzw. des Marxschen "positiven Humanismus") (MEW EB I/583) des Ostens offen aufwarfen. (siehe In memoriam 1993) Die Tatsache, dass man auf dem eingeschlagenen Weg dem Sozialismus-Kommunismus offenkundig nicht näher kam, sondern entgegen dem Selbstverständnis auf eine Konvergenz mit dem westlichen Kapitalismus zusteuerte, wurde 1967 in der DDR kurzzeitig als Problem erkannt und behandelt. Das fand seinen Ausdruck u.a. in der Ulbrichtschen Formel vom Sozialismus als "relativ selbständiger sozialökonomischer Formation". (Ulbricht 1967, 38) Der ML beharrte aber weiter auf den Auffassungen, dass die Arbeiterklasse im Real-"Sozialismus" die herrschende sei und dass sie sich in Theorie und "sozialistischer" Praxis als Schöpfer des Sozialismus-Kommunismus bewähre. Zumindest hinsichtlich der Theorie konnte sich dabei der ML auf Marx beziehen, ohne unredlich zu sein. Diese Tatsache wendete der ML gegen den frühen Marx, der hinsichtlich seiner Auffassungen zum untrennbaren Zusammenhang zwischen (knechtender) Arbeitsteilung, Entfremdung und Privateigentum (MEW 3/32) sowie der Begrenztheit der (kommunistischen) Bewegung des Proletariats, als noch unreifer Marxist angesehen wurde.
Steht also Marx gegen Marx?

Ideen, eingebunden in Geschichte und umgeformt zur Ideologie

(17) Derartige widersprüchliche Ansätze im Marxschen Werk verstehe ich nicht einfach als Ausdruck eines unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der Marxschen Theorie. Dies anzunehmen hieße, die sozusagen (end-)gültige Marx-Theorie sei in den Arbeiten seiner letzten Lebensjahre enthalten. Die früheren Aussagen dagegen, insofern sie den späteren tatsächlich oder scheinbar widersprechen, wären dann als noch unterentwickelt, verkürzt, einseitig zu bewerten (also zu vernachlässigen).[13] In der Konsequenz wäre Lenin tatsächlich als der Marx des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen. Wo sich Widersprüche zwischen beiden auftun (etwa hinsichtlich der Annahme einer sozialistischen Warenproduktion oder des mit der sozialistischen Umwälzung untrennbar verbundenen Absterben des Staates) hätte dann Lenin (natürlich dann auch nur der ältere ) das letzte gültige Wort.

(18) Versuchen wir, die Marxsche geschichtsmaterialistische Methode auf diese Problematik selbst anzuwenden. Das heißt, Marx' unterschiedlichen Auffassungen zu einem bestimmten Problem nicht vordergründig als Ausdruck eines Erkenntnisfortschritts zu untersuchen. Wir orientieren vielmehr auf deren Bezogenheiten auf ganz bestimmte (tatsächliche oder nur angenommene) verschiedene geschichtliche Situationen und entsprechende Problemstellungen, die Marx in verschiedenen Lebensphasen umtrieben. Ebenso wie seine theoretische Entwicklung nicht der Logik eines geradlinigen Fortschreitens folgt, sind auch diese Fragen nicht als in einer hierarchischen Form angeordnet zu verstehen. Die letzteren Fragestellungen sind nicht von vornherein gegenüber den früheren etwa als die tiefergehenden, weiter in die Zukunft reichenden anzusehen.

(19) Ausgehend von den jeweils spezifischen Motivationen späterer Generationen, sich auf Marx zu beziehen, können sich durchaus frühere Marxsche Fragestellungen als die weitergehenden darstellen bzw. sie können es tatsächlich sein. So erscheinen mir die Aussagen des reifen Marx über die ökonomischen Bedingungen für die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise als treffende Beschreibungen heutiger postfordistischer Prozesse. Marx' frühe Aussagen über die Formen einer sozialen Praxis, die sich tatsächlich auf den Standpunkt der menschlichen Gesellschaft erheben und die bürgerliche Epoche hinter sich lassen kann, wären demgegenüber, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, als weiter in die Zukunft einer möglichen sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft gerichtete Überlegungen zu verstehen.

(20) Es ist ein erheblicher Unterschied, ob Marx versucht, eine Entwicklung geistig vorwegzunehmen, die über den Kapitalismus hinausführt in eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaft, die sich bereits auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt, oder ob er seine Aufmerksamkeit auf die innere Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise richtet und deren weit über seine Zeit hinausweisenden innerkapitalistischen Potenzen erkennt. Es ist zugleich ein Unterschied, ob er in den frühen 1840er Jahren mit den Pariser Handwerkern um W. Weitling zusammentrifft und von dem damals möglichen Erfahrungshorizont aus eine menschliche Gesellschaft zu denken versucht (von der er auch noch annimmt, sie sei bald praktisch zu erkämpfen) oder ob er es 30 Jahre später mit der organisierten starken Sozialdemokratie in einem Kapitalismus zu tun hat, dessen noch bevorstehende Dynamik er inzwischen theoretisch in einigen Grundzügen überschaut.

(21) Von einer sichtbaren Begrenzung der historischen Rolle der Arbeiterbewegung kann unter diesem späteren Gesichtspunkt des Wissens um den noch lange nicht ausgeschrittenen Horizont der kapitalistischen Produktionsweise und der politisch-praktischen Problemstellungen, vor denen etwa die Sozialdemokratie stand, überhaupt nicht die Rede sein. Das zu erwarten, wäre angesichts der seinerzeit erkennbaren und von Marx mit seinen Kritiken der Politischen Ökonomie auch erkannten Rolle, die die Arbeiterklasse zukünftig noch innerhalb des Kapitalismus zu spielen haben würde, nicht nur theoretisch unsinnig. Dies zum Thema zu machen, also etwa zwischen partieller und allgemeinmenschlicher Emanzipation zu differenzieren, wäre in Anbetracht der motivierenden Vorstellung kämpfender Sozialdemokraten, dass sie kurz- oder mittelfristig bereits um die sozialistische Gesellschaft ringen würden, auch politisch-taktisch verheerend.

(22) Die historische Begrenztheit der Arbeiterbewegung auf innerkapitalistische Kämpfe überhaupt zu erkennen und in der Arbeiterbewegung zu propagieren, dafür gab es zu Zeiten des älteren Marx sozusagen kein gesellschaftliches Bedürfnis. Bezüglich der tatsächlich erreichbaren Ziele des praktischen Klassenkampfes war diese Unterscheidung ohnehin irrelevant. Innerhalb der organisierten revolutionären Arbeiterklasse war also ein Bewusstsein von der historischen Begrenztheit ihrer Ziele und Möglichkeiten für lange Zeit undenkbar. Das gilt etwa bis zu dem Zeitpunkt, da das Nachdenken darüber, was eine gewählte proletarische Regierung mit ihrer Staatsmacht denn konkret anfangen könnte, keine utopische mehr war. Das drückte sich klassisch aus in Bernsteins Zweifel an der Fähigkeit der Arbeiterbewegung, ihre sogenannte historische Mission zu verwirklichen und an der Sinnhaftigkeit dieser Vorstellung überhaupt. "Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter 'Endziel' des Sozialismus versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles." (Bernstein, 1897/98, 556) Insofern die Bezugnahme der Arbeiterbewegung auf Marx mit der motivierenden Vorstellung eines Endziels verbunden war, mit der Vorstellung, ihr Kampf könne bereits ein Ringen um eine sozialistische Gesellschaft sein bzw. werden, insofern wurde Marx' Theorie zur Ideologie umgeformt. Indem dann im 20. Jahrhundert von Sozialdemokraten und Kommunisten (letztere in Bezug auf den Real-"Sozialismus") die innerhalb der bürgerlichen Epoche erreichbaren Erfolge der Arbeiterbewegung als bereits sozialistisch bezeichnet wurden, bedeutete das, einen Großteil des Marxschen Erbes gleich ganz über Bord zu werfen. Insbesondere traf das seine Kriterien, an denen er den sozialistisch-kommunistischen Charakter einer Gesellschaft maß.

Eine unmögliche Rede

(23) Das Wissen des frühen Marx über die Begrenztheit der Arbeiterbewegung hier anzuwenden, hätte bedeutet, den kämpfenden Proletariern etwa zu erklären: "Euer Kampf mit der Kapitalistenklasse ist unvermeidbar, führt aber selbst noch nicht aus der bürgerlichen Epoche heraus. Auch wenn ihr unter der motivierenden Losung antretet, den Kapitalismus selbst aufzuheben, selbst die größten Erfolge eures Klassenkampfes können die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, die knechtende Form von Arbeitsteilung, kapitalistisches Eigentum und Entfremdung noch nicht aufheben. Auch dann, wenn euch eine Revolution gelingt, ihr eine neue politische Macht installiert, die alte Unternehmerschaft vertreibt und die Produktionsmittel in Staatseigentum überführt, auch dann kommt ihr nicht aus dieser Beschränktheit heraus. Der Grund: Solange Lohnarbeit die Basis des gesellschaftlichen Reichtums ist und noch sein muss (dieser Zwang macht eure eigentliche Stärke aus), solange können die Funktionen des Kapitals noch nicht von den unmittelbaren Produzenten und den Konsumenten aufgehoben werden. Selbst euer vollständiger politischer Sieg hebt den existentiellen Zwang nicht auf, der euch wieder der Herrschaft des Kapitals unterwirft. Die alte Kapitalistenklasse, deren Rolle solange noch nicht ausgespielt, solange Lohnarbeit unumgänglich ist, rekonstruiert sich wieder als eine Klasse von Staatsfunktionären und ihr bleibt, was ihr seid - Lohnarbeiter.

(24) Der historische Sinn eures Kampfes besteht also 'nur' darin, die in der kapitalistischen Produktionsweise steckenden zivilisatorischen Potenzen tatsächlich freizusetzen und eine allgemeine kapitalistische Barbarei zu verhindern. Das alles könnt ihr erkämpfen und das ist für die menschliche Zivilisation von großer Bedeutung. Aber diese Produktionsweise selbst durch die Begründung einer neuen Gesellschaft zu überwinden, das liegt außerhalb eurer Möglichkeiten als Proletarier.

(25) Wenn es aber soweit gekommen sein sollte, dass euer Kampf keine zivilisatorische Potenz des Kapitalismus mehr freisetzen kann, wenn die Lohn-Arbeit tatsächlich zur miserablen Grundlage für die Produktion des menschlichen Reichtums geworden ist, wenn sie also einer freien Form der menschlichen Arbeit weichen kann, dann ist die Rolle der Arbeiterbewegung genauso ausgespielt, wie die zivilisatorische Rolle der Bourgeoisie erschöpft ist. Dann und erst dann könnt und müsst ihr (wie die Vertreter anderer Klassen und Schichten auch) euch nicht mehr als Klassenindividuen, sondern endlich als Menschen zur Geltung bringen. Dann geht es nicht mehr um den Wechsel von Klassenherrschaften, auch nicht um die Eroberung einer Diktatur des Proletariats, sondern um die unmittelbare Begründung von Assoziationen freier Individuen, um die positive Gestaltung der menschlichen Gesellschaft. Dann kann in den Strukturen der einst mächtigen Arbeiterbewegung keine menschliche Zivilisation mehr erkämpft werden, dann beginnt die Zeit neuartiger sozialer Bewegungen. Diese schaffen sich soziale Räume menschlicher Emanzipation außerhalb des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital.

(26) Das alles ist aber noch ferne Zukunft und nicht eure Sache. Dazu bedarf es noch einer gewaltigen weiteren Entwicklung des Kapitalismus. Dazu allerdings tragt ihr mit eurer Lohnarbeit und mit eurem Klassenkampf bei. Euer Ziel ist es nicht und kann es nicht sein, die knechtende Lohnarbeit überhaupt aufzuheben, sondern - auch und gerade zu eurem eigenen Vorteil - innerhalb der bürgerlichen Epoche deren widersprüchlich-zivilisatorischen Potenzen freizukämpfen."

(27) Diese Rede wurde so wohl so oder ähnlich nie geredet. Doch getrieben von den damaligen aktuellen und auch perspektivisch überschaubaren Bedürfnisse des Klassenkampfes verwirft Engels immerhin ausdrücklich das frühere Bekenntnis zu einem kommunistischen Humanismus (und der ML folgte ihm). Die eigene frühere "Behauptungen, dass der Kommunismus nicht eine bloße Parteidoktrin der Arbeiterklasse ist, sondern eine Theorie, deren Endziel ist die Befreiung der gesamten Gesellschaft, mit Einschluss der Klasse der Kapitalisten", seien nur noch Phrasen, abstrakt zwar weiter richtig, "aber in der Praxis meist schlimmer als nutzlos." Eine höhere als den Interessen der Arbeiterklasse verpflichtete Menschlichkeit könnten "nur Neulinge" oder "die schlimmsten Feinde der Arbeiter, Wölfe im Schafspelz" vertreten. (MEW 22/269f ) Das Marxsche Gedankengebäude, geeignet die Bedingungen zur erfassen, unter denen Klassen und damit Ideologie überhaupt aufhebbar werden, wurde so wie hier bei Engels gezeigt zur Ideologie, zum Ausdruck beschränkter Klasseninteressen, umgeformt und genau in dieser Form geschichtsmächtig. Dies geschah nicht aus Dummheit oder Bösartigkeit, sondern es war Ausdruck der gebieterischen Notwendigkeit, unter den noch lange nicht aufhebbaren kapitalistischen Bedingungen zivilisatorischen Fortschritt zu erkämpfen.

Ein Gemischtwarenladen?

(28) Was ist aber, wenn dieser Kampf um einen höchst widersprüchlichen Fortschritt durch die Zeiten des Leninismus, Stalinismus sowie der westlichen Arbeiterbewegung hindurch tatsächlich seine historische Rolle ausgespielt hat? Was geschieht dann, wenn die historische Alternative dann etwa so steht: Entweder die sozialistisch-kommunistische Bewegung wirft ihre Beschränktheit ab (die gemäß dem frühen Marx mit der Rolle der Klasse, auf die sie sich über 150 Jahre stützte, untrennbar verbunden war und teilweise noch ist), entweder es gelingt, den kommunistischen Humanismus, die positive Gestaltung von Gesellschaften der allgemeinmenschlichen Emanzipation, zur Aufgabe der nächsten Zeit zu machen oder die menschliche Zivilisation versinkt in Barbarei?

(29) Dann ist das Herangehen an Marx ein ganz anderes, als das das Engels demonstrierte oder etwa die Bolschewiki, die Kapital und Lohnarbeit revitalisieren und tayloristische Formen knechtender Arbeitsteilung einführen mussten, also zu bürgerlich-barbarischen Mitteln griffen, um überhaupt einen zivilisatorischen Fortschritt zu ermöglichen.

(30) Verstehe ich damit, so wie von Kurz im Schwarzbuch praktiziert, Marx als eine Art Gemischtwarenladen zur Bedienung je nach aktueller Fragestellung? Das würde weder der eigenen Fragestellung dienen noch Marx gerecht werden. Der war als Hegel-Schüler ein großer Systematiker und kein Eklektiker. Bei grundsätzlich neuen Erkenntnissen etwa in der Kritik der politischen Ökonomie konfrontierte er sich wiederholt selbst mit eigenen früheren Auffassungen (siehe den Zusammenhang zwischen zyklischer Wirtschaftskrise und Revolution oder seine ursprüngliche Ablehnung des gewerkschaftlichen Kampfes). Wer sich also auf frühe Marxsche Aussagen bezieht, weil sie für aktuelle Probleme bestimmte Lösungen nahelegen, der oder die tut gut daran, die Aussagen des späteren Werkes mit in die Überlegungen einzubeziehen. Das gleiche gilt auch umgekehrt. Gerade da, wo sich die Marxschen Aussagen scheinbar oder tatsächlich widersprechen, da wird es in Bezug auf die eigene Fragestellung regelmäßig interessant.

(31) Marx blieb zeitlebens Revolutionär. Sein entscheidendes Forschungsmotiv war, die Voraussetzungen und die möglichen Wege zu erhellen, auf denen die Menschen knechtende, entfremdete Verhältnisse überwinden können und Bewegungen, die in dieser Richtung wirken, zu stärken. Wenn er auf diesem Weg und mit dieser Motivation zu Aussagen kommt, die in abstrakter Gegenüberstellung einander ausschließen, dann kann dies eben Ausdruck einer tatsächlichen oder von Marx nur irrtümlich angenommenen konkreten historischen Situation sein, von der aus der Revolutionär Marx Wege in eine menschliche Gesellschaft suchte. Erst wer dies beachtet, kann Widersprüche im Marxschen Theoriegebäude auf eine solche Weise erkennen und kritisieren, die eine Weiterentwicklung, Korrektur oder eben Widerlegung von Marxschen Erkenntnisse bedeutet. Es ist dann eine solche Widerlegung, die nicht einer moralisierenden Denunziation dient, sondern einen tatsächlichen, auf gesellschaftliche Praxis orientierenden Erkenntnisfortschritt bedeutet.

Ein frühreifer Denker der menschlichen Emanzipation

(32) Der frühe Marx entdeckte einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Theorien (und Bewegungen), die auf dem Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft verbleiben, und denen, die den der menschlichen Gesellschaft gewinnen. In den Thesen über Feuerbach charakterisiert er die Methode des alten Materialismus. Für diesen ist gesellschaftliche Entwicklung nur denkbar, indem er "die Gesellschaft in zwei Teile [sondiert] - von denen der eine über ihr erhaben ist." (Diese Methode war ein Grundzug auch des ML mit seiner Revolutions-, Partei- und Staatstheorie.) "Die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit" ist dagegen der (sozialistisch-kommunistische) Standpunkt des neuen Materialismus. (MEW 3/6)

(33) Dessen (Marxsche) Methode zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf eine Form gesellschaftlicher Entwicklung orientiert, die eben nicht mehr der Spaltung des Gesellschaft in Teile bedarf, von der sich der eine (die jeweils herrschende Klasse, Staatsfunktionäre, Avantgarden und autoritäre Kräfte jeglicher Art - UW) über die anderen erhebt. In dieser materialistischen Geschichtsauffassung wird "das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung [...] als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden". (ebd. 3/6f)

(34) Diese Unterscheidung trifft Marx zu einem Zeitpunkt, als ihm noch nicht klar war, welch weiten Horizont die widersprüchlich-herrschaftsförmige Entwicklung der Gesellschaft noch auszuschreiten hat, bis die Bedingungen dafür entstehen können, dass eine solche revolutionäre Praxis überhaupt einen sozialistischen Charakter annehmen und nicht nur neue Formen von in Klassen gespaltenen Gesellschaft hervorbringen kann. Der Analyse der (kapitalistischen) Produktionsweise, durch die allein diese Bedingungen entstehen können, widmete er später den Großteil seiner Kraft als Wissenschaftler. Als ihm jedoch diese Erkenntnisse noch nicht zur Verfügung standen, geht er fälschlicherweise davon aus, dass die "allgemein menschliche Emanzipation" zumindest in Deutschland die nur noch einzig mögliche Form von Emanzipation sein kann und dass diese bald bevorstehe. (MEW 1/388) Getragen von dieser Illusion greifen seine damaligen Überlegungen weit über den Kapitalismus hinaus bis hinein in eine sozialistisch-kommunistische Zukunft.

(35) Von der Fähigkeit der heutigen Fragesteller, selbst historisch-materialistisch zu denken, hängt es nun ab, ob diese frühen Marxschen Entwürfe als mögliche theoretische Ansätze für die Lösung gegenwärtiger Probleme bewertet und nutzbar gemacht werden können oder nicht. Wenn die späteren Erkenntnisse von Marx über die tatsächlichen materiellen Bedingungen allgemeinmenschlicher Emanzipation in diese Fragestellungen einbezogen und wenn mittels dieses Instrumentariums die heutigen realisierten oder möglichen Umbrüche in den Formen materieller Produktion analysiert werden, dann kann gerade in diesen frühen Gedankenflügen von Marx entschieden mehr erkannt werden, als deren damaliger spekulativer Charakter. Dann erscheinen diese Gedanken genial.

(36) Sie verweisen nämlich auf ganz bestimmte Formen des gesellschaftlichen Fortschritts, die all den geschichtsmächtigen Bewegungen fremd und unzugänglich bleiben mussten, die über mehr als ein Jahrhundert lang um Emanzipation kämpften, aber den bürgerlichen Standpunkt überhaupt noch nicht verlassen konnten. Es sind Formen sozialer Bewegungen, die erst in heutiger Zeit geschichtsmächtig werden und eine neue Gesellschaftlichkeit begründen können. Im Gegensatz zu den Strukturen der Arbeiterbewegung und des Real-"Sozialismus", die im Maße ihres Erfolges immer wieder den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft reproduzierten, geht es hier um Bewegungen, die sich selbst nicht mehr quasireligös als Mittel zum Zweck, der späteren allgemeinen Emanzipation, des angeblich sozialistisch-kommunistischen Himmelreiches, ansehen.

(37) Solche Bewegungen bedürfen weder der selbstverleugnenden Aufopferung ihrer Anhänger noch der Dostojewskischen Großinquisitoren (Dostojewski 1988, 337ff) noch der Mediendompteure zeitgenössischer Art. Hier geht es statt dessen unmittelbar um die Begründung "sozialer Räume der [allgemeinmenschlichen] Emanzipation" (Kurz 1997, 66) durch die Akteure selbst.
Solchen Bewegungen, die als Utopie und als praktische - marginale - Strömungen immer wieder entstanden (und scheiterten), wächst heute sozusagen eine materielle Basis zu. Diese können sie revolutionär umgestalten eben durch solche Formen einer gesellschaftlichen Praxis, die als Bedingung ihres Erfolges der Rekonstruktion von Herrschaft von Menschen über Menschen, der Spaltung der Gesellschaft in hierarchisch angeordnete Teile, nicht mehr bedarf. Diese Formen sozialer Bewegungen sind allein zu einer positiven Begründung der menschlichen Gesellschaft geeignet.

(38) Die ökonomisch begründete Möglichkeit massenhaften Entstehens einer derartigen revolutionären Praxis charakterisiert den von Marx beschriebenen Wendepunkt menschlicher Geschichte. Es wird möglich, die bürgerliche Epoche zu verlassen, indem die Assoziationen freier Individuen ihre eigene Gesellschaft begründen. Dieses "Reich der Freiheit beginnt [...] da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört" (MEW 25/828) und vor allem deshalb erstmalig der Standpunkt einer bestimmten Art revolutionärer Praxis eingenommen werden kann. Es ist dies eine bestimmte Art von "Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der [...] Selbstveränderung" (MEW 3/6). Es ist eine Praxis, die der knechtenden Arbeitsteilung und damit des Privateigentums an Produktionsmitteln, der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen und anderer Entfremdungsformen nicht mehr bedarf, sondern der freien Entwicklung der menschlichen Individualität.

Von der genialen Illusion über den frühen Antikapitalismus ...

(39) "Sie müßten einer der Versammlungen der französischen ouvriers beigewohnt haben, um an die jungfräuliche Frische, an den Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervorbricht, glauben zu können. [... Jedenfalls] bereitet die Geschichte unter diesen 'Barbaren' unserer zivilisierten Gesellschaft das praktische Element zur Emanzipation des Menschen vor." (MEW 27/426) Wenn Marx solche soziale Räume der allgemeinmenschlichen Emanzipation in den Klubs der kommunistischen Handwerker im Paris der 1840er Jahre bereits im Entstehen sah und ihnen eine baldige Geschichtsmächtigkeit zusprach, dann war hier Illusion und Genialität in einem Punkt vereint.

(40) Illusion deshalb, weil in Wirklichkeit erst noch eine lange Zeit der knechtenden Unterordnung der Proletarier unter das Kapital bevorstand. Gerade in diesem Prozess (wie von Marx später akribisch beschrieben) würde die Vielseitigkeit des souveränen Handwerkers massenhaft zerstört werden und eine derartige Unterwerfung unter die kapitalistischen Produktions- und Lebensweisen erfolgen, die die neuen kapitalistischen Verhältnisse als sozusagen naturgegeben erscheinen lassen würde. Wie wir heute wissen, mussten die für ihre Interessen kämpfenden Proletarier in Zielen und Kampfformen schließlich unvermeidbar selbst Kriterien und Strukturen der bekämpften Gesellschaft übernehmen.

(41) Genial aber war die damalige Marxsche Begeisterung über den Adel an Menschlichkeit, der sich in den souveränen, vielseitigen, zur Selbstverwaltung befähigten Handwerkern zeigte, deshalb, weil genau damit auf Grundzüge verwiesen wird, die für Bewegungen von sozialistischem Charakter tatsächlich einmal möglich und unverzichtbar sein würden und weil Marx bereits damals auf das praktische Element der Emanzipation verweist und diese nicht als Produkt eines Aufklärungssozialismus bzw. -kommunismus sieht.

(42) Kurz dürfte Marx' damaligen Jubel über die sozusagen durch den Kapitalismus noch nicht "verhausschweinten" Handwerker wohl teilen. Der Unterschied: Er sieht in der Kapitalisierung nur Zerstörung. Marx, dem das kapitalistische Vernichtungswerk auch bewusst ist, erkennt aber darüberhinaus, dass auf einem bestimmten Entwicklungsniveau der bürgerlichen Epoche, und zwar nur durch diese, die materielle und subjektive Voraussetzungen entstehen, die für deren Aufhebung unverzichtbar sind. Er bezeichnet in seinen späteren Kritiken der politischen Ökonomie exakt denjenigen Punkt in der qualitativen Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, von dem an massenhaft solche "sozialistischen" menschliche Eigenschaften entstehen können, die er in den damaligen Pariser Handwerkern bereits zu erkennen glaubte und denen er irrtümlicherweise bereits die Kraft zur Aufhebung des Kapitalismus zubilligte.

(43) Wenn Marx später den Kapitalismus näher analysierte und (um deren Entwicklungslogik inklusive ihrer Aufhebbarkeit zu erkennen) hierzu den Standpunkt der kapitalistischen politischen Ökonomie nachvollziehbar macht, wenn Marx eine Arbeiterbewegung beförderte, die als Bedingung ihrer innerkapitalistischen Erfolge selbst Herrschaftsstrukturen entwickelte (also den Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft nicht verließ), dann gibt er durchaus Anlass, eines bürgerlichen (bei Kurz liberalen) Standpunktes bezichtigt zu werden. Dies setzt aber voraus zu vergessen, dass, um die Aufhebbarkeit des Kapitalismus zu erfassen, mensch sich wissenschaftlich auf den Standpunkt der politischen Ökonomie begeben muss. Das Einlassen auf die innerkapitalistische Logik ist in diesem Sinne eben eine Voraussetzung dafür, nicht nur das kapitalistische Zerstörungswerk, sondern auch - und das ist der eigentliche Zweck der Übung - die realen Bedingungen und Triebkräfte der Überwindung eben dieser Logik zu erkennen.

(44) Da es nach Kurz' Annahme hierfür des Kapitalismus als globale historische Erscheinung überhaupt nicht bedarf, ist ihm diese Marxsche Methode ein Beweis dafür, dass dieser selbst auf dem Standpunkt des bürgerlichen Liberalismus stehe und seine Erkenntnisse von diesem infiziert sei.
Um nicht nur den Gegensatz, sondern auch den historischen Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen bzw. angeblichen bürgerlichem Standpunkt und dem der allgemeinmenschlichen Emanziation zu erkennen, um Marx nicht nur als Kronzeugen der früheren, sich im innerkapitalistischen Rahmen bewegenden Arbeiterbewegung zu begreifen, sondern auch als einen glänzenden Partner auf der Suche nach heute möglichen Wegen zur Aufhebung des Kapitalismus, dazu bedarf es eines geschichtsmaterialistischen Denkens im Marxschen Sinne. Dies aber verwirft Kurz als angeblich mechanistische Fortschrittsgläubigkeit.

(45) Wer die Errungenschaften der bürgerlichen Epoche in ihrer Bedeutung für die Aufhebbarkeit des Kapitalismus begreift, kann durchaus fruchtbare Beziehungen zwischen einem Antikapitalismus, der aus der Abwehr erstmaliger oder forcierter Kapitalisierung entstand (und heute in vielen Regionen der Welt weiter entsteht) und den Emanzipationsbewegungen erkennen, die von einem bereits voll entfalteten Kapitalismus aus agieren. Es kann somit das Phänomen begriffen werden, dass die auf der Basis vorkapitalistischer Produktionsweisen entstehenden Strukturen des Kampfes gegen die Kapitalisierung heute tatsächlich von großem Einfluss sein können auf Emanzipationsbewegungen, die in den kapitalistischen Metropolen wirken. Siehe die große Anziehungskraft, die von den Kämpfen der mexikanischen Indianer ausgeht. Diese ringen in Chiapas um die Möglichkeit, weiter in traditionellen Strukturen existieren zu können. Angesichts der Gleichzeitigkeit dieses Kampfes mit den Möglichkeiten zur Aufhebung des Kapitalismus in den Metropolen, können die in den sozusagen vorkapitalistischen Kämpfen in den Peripherien entwickelten Strukturen und Mentalitäten von großer Bedeutung für die sozialen Bewegungen in den Metropolen selbst sein. Umgekehrt, können erfolgreiche Bewegungen in den Metropolen den peripheren antikapitalistischen Kämpfen überhaupt eine Perspektive eröffnen.
Kurz' Definition des Kapitalismus als Unsinn und Betrug und die Heiligsprechung des historisch frühen Antikapitalismus versperrt die Erkenntnis solcher Zusammenhänge.

... zur Theorie und Praxis der allgemeinmenschlichen Emanzipation

(46) Marx hat hinsichtlich der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise denjenigen Punkt vorausgesagt, da mit Zwang zur reellen Unterordnung unter die maschinelle Großindustrie (als Bedingung der Produktion menschlichen Reichtums auf hohem Niveau) auch der Zwang zur formellen Unterordnung unter das Kapital aufgehoben werden kann. (MEW 42/601) Wie wir heute in den ökonomisch fortgeschrittensten Bereichen kapitalistischer Produktion erkennen können, läuft genau dieser Prozess. In Ansätzen erleben wir die Aufhebung hierarchischer Formen der Arbeitsteilung, konkret der tayloristisch-fordistischen. Jedoch gibt es zugleich eine gegenläufige Tendenz. Obwohl schon längst als Bedingung einer Reichtumsproduktion auf noch größerer Stufenleiter anerkannt, ist von einer durchgängigen Abflachung von Hierarchien in Richtung des tatsächlichen Heraustretens der unmittelbaren Produzenten aus dem Fertigungsprozess und ihrer Erhebung zu souveränen Herren über die Produktion nicht die Rede. Das würde Souveränität der unmittelbaren Produzenten und der Nutzer der Produkte darüber einschließen, was, wie, wieviel und ob überhaupt produziert wird. Statt dessen findet in einigen Produktionsbereichen eine Re-Taylorisierung statt.

(47) Wo diese Souveränität (wie einst auch im Real-"Sozialismus") nicht realisierbar ist, dort verbleiben die zwecksetzenden, die arbeitsteilige Produktion zusammenfassenden und vorantreibenden Funktionen beim Kapital bzw. bei seinen personellen Funktionsträgern. Die Rolle des unmittelbaren Produzenten als eines dem fremden Willen formell untergeordneten Lohnarbeiters wird nicht angetastet. Wie viele Elemente einer möglichen neuen Art des Lebens und Arbeitens er auch schafft, der kapitalistische Produktionsprozess selbst kann unter diesen Bedingungen kein sozialer Raum einer menschlichen Emanzipation sozialistisch-kommunistischen Charakters werden. Dies kann jedoch für einen Sozialisten kein Grund sein, so wie Kurz den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen - die innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise entstehenden Möglichkeit einer menschlichen Gesellschaft.

(48) Worin besteht meist das theoretische Problem? Einigkeit besteht schnell darüber, dass, solange die formelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital nicht aufgehoben wird, von einer reellen Souveränität der Produzenten nie die Rede sein kann. Nur schwer verstanden wird jedoch, worin eine der unersetzbaren materiellen Voraussetzungen dafür besteht, diese formale Subsumtion aufzuheben. Es sind eben die innerhalb des Kapitalismus selbst entstehenden Ansätze zur Aufhebung der reellen Unterordnung unter die große Maschinerie und die damit entstehenden materiellen Möglichkeiten, durch einen Kampf um das Überwinden der formellen Kapitalherrschaft durch entsprechende soziale Bewegungen tatsächlich auch die reelle Subsumtion vollständig aufzuheben. Erst durch diese Möglichkeit und ihre Nutzung ist das Kapitalverhältnis überwindbar. Vorher muss jeder Versuch diese loszuwerden immer wieder in der "alten Scheiße" enden. (MEW 3/35) Wie das geht, hat der Real-"Sozialismus" in gewaltigem Maße demonstriert.

(49) Das heutige Entstehen von Möglichkeiten zur Aufhebung der reellen und formellen Subsumtion unter das Kapital ist mit der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie glänzend vereinbar und in ihren Begriffen gut darstell- und voraussagbar. Erfüllt hat sich die Marxsche Aussage über die Rolle der Lohnarbeit für die Entstehung des kapitalistischen Reichtums. Erfüllt hat sich weiter auch seine Annahme über die unverzichtbare Rolle der kämpfenden Arbeiterklasse für den zivilisatorischen Fortschritt. Daran ändert auch die heute erkennbare Tatsache nicht, dass es sich hierbei "nur" um diejenige Zivilisation handelt, die im Rahmen der Grenzen des Kapitalismus, der auf Wert gegründeten Gesellschaft, überhaupt möglich ist.
Nicht erfüllt hat sich die Annahme bzw. die marxistisch-leninistische Interpretation entsprechender Marxscher Aussagen, die Arbeiterklasse entwickle als Arbeiterklasse die Fähigkeiten, die neue Gesellschaftsformation selbst zu begründen.

(50) Es hat sich erwiesen, dass die Entwicklung einer großen fordistisch-tayloristischen Industrie ohne formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital unmöglich ist. Einen anderen Weg zur Schaffung der materiellen und subjektiven Voraussetzungen für die Aufhebung des Kapitalismus als den Durchgang durch den Fordismus konnte es im globalen Sinne nicht geben. Erst heute bildet sich eine Situation heraus, die der frühe Marx fälschlicherweise als bereits existent annahm: Soziale Bewegungen, die noch bürgerlicher Strukturen und des alten Materialismus bedürfen und den kapitalistischen Horizont nicht überschreiten, können nicht einmal mehr erfolgreich um eine partielle Emanzipation kämpfen. Emanzipationsbewegungen müssen allgemeinmenschlichen Charakter annehmen, praktisch sozialistisch-kommunistische Gesellschaften begründen, oder es wird sie nicht mehr geben. Die alte widersprüchlich-zivilisatorische Rolle der Arbeiterklasse, ihrer Parteien und des Staates wird gegenwärtig ausgespielt. Gerade die Begrifflichkeiten des frühen Marx, die Unterscheidung zwischen den Standpunkten der menschlichen und der bürgerlichen Gesellschaft, die Charakteristik der Methoden, durch die sich beide unterscheiden, sind für das Erkennen von möglichen Strukturen heutiger erfolgreicher Emanzipationsbewegungen hilfreich. (MEW 3/5ff)

(51) Heute können sozusagen beide Marx zusammenkommen, der der frühen Aussagen über die unumgänglichen Formen der allgemeinmenschlicher Emanzipation (die Engels, nicht aber Marx widerrief) und der Marx, der durch die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise erst das Entstehen derjenigen materiellen Bedingungen dafür erfasste, die unverzichtbar dafür sind, dass Assoziationen von freien, reichen Individuen eine neue Gesellschaft begründen können.

Raus aus den Sackgassen, rein in Bewegungen

(52) Das zwischenzeitlich angenommene und im Sinne eines (bürgerlich-)widersprüchlichen Fortschritts einst auch sinnvolle Nacheinander von Erobern der politischen Macht und der nachfolgenden Umwälzung der materiellen Basis mittels staatlicher (diktatorischer oder auch bürgerlich-demokratischer) Machtmittel ist heute gegenstandslos geworden. Damit ist auch der alte Grundkonflikt zwischen Anarchisten und Marxisten die Basis entzogen. Heute geht es um einen untrennbaren Prozess menschlicher Emanzipation, um das parallele Aufheben aller Formen von Herrschaft von Menschen über Menschen, der staatlichen ebenso wie der zwischen den Geschlechtern. Die Herrschaft der Gesellschaft über die Produktion, statt deren Unterwerfung unter diese in Form des (Staats-)Kapitals, ist endlich zur erfüllbaren Aufgabe geworden. Die entscheidende materielle Grundlage hierfür, die Möglichkeit des tatsächlichen Heraustretens der unmittelbaren Produzenten aus knechtender Arbeitsteilung, ihre reale Chance, sich zu Dirigenten und Kontrolleuren des Fertigungsprozesses zu erheben, ist in noch falscher kapitalistischer Form im Entstehen. Was zu suchen und zu erkämpfen ist, das sind die Formen des unmittelbaren Ringens um die Verfügung assoziierter Individuen über die Produktionsmittel, das sind die sozialen Räume, in der sich die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Mentalitäten entwickeln. Die Keimformen dessen sind nicht im ausgehenden Mittelalter zu finden, sondern in den heutigen Lebenswirklichkeiten.

(53) Wenn es aber stimmt, wie ich behaupte, dass heute die materiellen Bedingungen einer Aufhebung des Kapitalismus in sozialistisch-kommunistischer Weise im Entstehen sind, dann müsste nun auch die Wirklichkeit zur Theorie drängen. Dann könnte jener Marx, der in Gestalt des kommunistisch-freiheitlichen Denkers noch nie zum Begleiter einer wirklich geschichtsmächtigen allgemeinmenschlichen Bewegung wurde und es auch nicht werden konnte, endlich zur Geltung kommen. Es ist eine Bewegung, die von den Errungenschaften der bürgerlichen Epoche ausgeht und diese in der Gestaltung neuer Lebens- und Arbeitsweisen aufhebt.

(54) Kurz hat sich von einigen alten ML-Positionen, von der Hoffnung auf Strukturen der alten Arbeiterbewegung und auf die Eroberung von Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft abgewandt. Wenn er sich dazu entschließen könnte, auch sein Verständnis des Kapitalismus als böses schwarzes Loch, als Irrtum der Geschichte, aufzugeben, dann könnte er wichtige Ereknntnisse zur gemeinschaftlichen Suche nach einer Theorie und Praxis der menschlichen Emanzipation beitragen. Er könnte auf dieser Basis wieder anknüpfen an seine Überlegungen zu den Keimformen des Neuen und den entsprechenden konkreten Wegen aus dem Kapitalismus. Darüber ist sinnvoll zu streiten. Das Schwarzbuch dagegen hat eine Sackgasse beschritten, und zwar auf eine eindrucksvolle Weise bis zum Ende. Das ist auch eine Leistung. Denn wer diesem Gedankenweg bis zum pessimistischen Schluss gefolgt ist, der oder die weiß nicht nur, dass dort nichts zu holen ist. Wieder aus der schwarzen Hölle aufgetaucht, kann der Kritiker im Nachdenken darüber wie mensch in eine solche geraten kann und warum ausgerechnet das Resonanz hervorruft, einige neue Maßstäbe gewinnen für die Suche nach Wegen zur menschlichen Emanzipation. Ich habe dies unternommen und empfand in diesem Sinne die Lektüre des Schwarzbuches der Mühe wert.

(55) Deshalb und in Erwartung, dass auch Kurz noch vor der Supernova wieder auftaucht und dann einiges zur Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus zu sagen hat, ist ihm zu danken.

Anmerkungen (Fortsetzung)

(56) [12] Der Kommunismus, "die Aufhebung des Privateigentums, ...ist das wirkliche, für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung - die Gestalt der menschlichen Gesellschaft." (MEW Ergänzungsband I/545f) Der Kommunismus ist "die Aneignung des menschlichen Wesens, die sich mit sich durch Negation des Privateigent[tums vermi]ttelt, daher noch nicht als die wahre, von sich selbst, sondern vielmehr vom Privateigentum aus beginnende Position [...] Als einen wirklichen Fortschritt müssen wir es aber betrachten, daß wir von vornherein sowohl von der Beschränktheit als dem Ziel der geschichtlichen Bewegung, und ein sie überbietendes Bewußtsein erworben haben." (ebd. 553) Der Kommunismus ist "der durch Aufhebung des Privateigentums mit sich vermittelte Humanismus. Erst durch die Aufhebung dieser Vermittelung - die aber eine notwendige Voraussetzung ist - wird der positiv von sich selbst beginnende, der positive Humanismus." (ebd. 583) Der späte Marx und der ML gingen von zwei Phasen des Kommunismus aus, wobei die zweite Phase sozusagen die klassenlose menschliche Gesellschaft darstellen sollte, also etwa das, was hier positiver Humanismus genannt wurde bzw. im Text als eine Gesellschaft der allgemeinmenschlichen Emanzipation.

(57) [13] Genau mit dieser Argumentation schmetterte der ML zum Beispiel in den 1960er Jahren Bezugnahmen auf das Marxsche Frühwerk ab. Besonders Erkenntnisse dieses frühen Marx erschienen damals Revolutionären dies- und jenseits der Mauer in besonderer Weise dazu geeignet, durch die Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen in West und Ost revolutionäre Wege zur allgemeinmenschlichen Emanzipation zu erkennen.

Literatur

(58) Johannes Agnoli und Peter Brückner, Transformation der Demokratie, Europäische Verlagsanstalt Frankfurt/Main 1968.
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