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Arbeit und Wissen in der modernen Gesellschaft -- Zur Kritik eines engen Arbeitsbegriffs

Maintainer: Hans-Gert Gräbe, Version 1, 26.10.2000
Projekt-Typ:
Status: Archiv

Vorbemerkung

(1) Die hier eingespielte Basisversion dieses Textes habe ich bereits im Juni 1996 fertiggestellt. Teile wurden auf dem Dresdner Kolloquium "Der Osten im Übergang vom Industrie- zum Informationskapitalisums" (Sept. 1995) vorgetragen. Eine Kurzversion des Textes erschien unter demselben Titel in Heft 24 der "Texte zur politischen Bildung" der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V., 41-55. Ich nehme jedoch diesen alten ungekürzten Text als Grundlage, weil er an einer Reihe von Stellen ausführlicher argumentiert als es in der Druckversion aus Platzgründen möglich war.

Einleitung

(2) Man geht heute allgemein davon aus, daß wir uns mitten in einer technologischen Umwälzung befinden, die in ihren Auswirkungen, wenn überhaupt, nur mit der (ersten) industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist, die den Einsatz von Kraft- und Werkzeugmaschinen mit sich brachte. Wenn deren Effekt in der Potenzierung der menschlichen Muskelkraft lag, der mit der Ablösung der Manufaktur durch die Großindustrie auch vollkommen neue Formen der Produktionsorganisation mit sich brachte, so steht heute mit dem Einsatz (u.a.) der Mikroelektronik die Potenzierung der menschlichen Geisteskraft auf der Tagesordnung.

(3) Auch dabei ist ein tiefgreifender Umbruch der Produktionsorganisation zu erwarten. Die neuen technischen Mittel schaffen die Basis dafür, in Zukunft materielle Produktionsprozesse in ganz neuen Größenordnungen geistig vorwegzunehmen und damit zu flexibilisieren als das bisher möglich war. Flexible Produktion erlaubt es dabei zunehmend, die Bedingungen für die Realisierung des geistig vorweggenommenen Produkts vorzuhalten statt das Produkt selbst und damit maßgeschneiderte Lösungen erst dann zu produzieren, wenn sie benötigt werden. Damit rückt das Ende der Massenproduktion und der damit verbundenen fordistischen Produktionsweise in greifbare Nähe und deren Ablösung durch eine (wenigstens in ihrer Potenz) stärker bedarfsorientierten Produktionsweise steht auf der Tagesordnung.

(4) In einem solchen Kontext spielt nicht die Arbeitskraft schlechthin, sondern deren Kompetenz, materielle Produkte und Effekte geistig vorwegzunehmen und diese dann bei Bedarf (heute meist noch mit fremdem Geld, auf fremde Rechnung, zur Mehrung fremden Gewinns) zu materialisieren, eine entscheidende Rolle. Der Kern dieser neuen Produktionsbedingungen liegt in der Tatsache begründet, daß zunehmend

die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängt weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie.[...]

In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper -- in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.

(5) Wir sind damit an einem Wendepunkt der Geschichte angelangt, wo Produktionsbedingungen reifen, die kapitalistischen Wertschöpfungsprinzipien in der von Marx beschriebenen Form zunehmend die Grundlage entziehen, denn

sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört auf und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert das Maß des Gebrauchswerts.([MGr, S. 592 ff.])

(6) Erwerb und Reproduktion von Kompetenz, die in allen bisherigen Gesellschaften außerhalb des geregelten materiellen Produktionsprozesses erfolgte und, insofern sie die individuelle Arbeitskraft betraf, unter deren allgemeine Reproduktionskosten subsumiert wurde, wird nunmehr zu einem Bereich des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, auf den nicht nur immer mehr, sondern in naher Zukunft vielleicht schon der entscheidende Teil der gesellschaftlichen Ressourcen zu konzentrieren ist.

(7) Dies bedarf der Setzung neuer Prioritäten in der Verteilung dieser gesellschaftlichen Ressourcen ebenso wie neuer Prinzipien, die einen effektiven Einsatz derselben für die anstehenden Reproduktionsaufgaben sichern. Daß ein solches Effektivitätsmaß nicht zuerst ein Zeitmaß sein kann, also marktwirtschaftliche Mechanismen in diesem Bereich nur von sehr zweifelhafter Leistungskraft sein werden, ist jedem ernsthaft in der Wissenschaft tätigen allerdings auch ohne obiges Marx-Zitat klar.

(8) Andererseits spielte der Übergang zu einer stärker kompetenzorientierten Produktionsweise unter dem Schlagwort der wissenschaftlich-technischen Revolution auch in Überlegungen zur Ausgestaltung eines Sozialismuskonzepts eine wichtige Rolle. Interessante Überlegungen auf einem in dieser Komplexität später wohl nicht wieder erreichten Niveau entstanden dazu in der DDR insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung des Neuen Ökonomischen Systems und in Reflexion der ersten Kybernetikwelle in den sechziger Jahren, die ja auch um die DDR (noch) keinen Bogen machte. Die Patina, die diese Argumente darüber hinaus in unserer schnellebigen Zeit nach 30 Jahren bereits angesetzt haben, läßt sie doppelt reizvoll erscheinen.

(9) Wir wollen deshalb hier den Versuch unternehmen, damals formulierte Konsequenzen einer sich mit urwüchsiger Gewalt durchsetzenden Tendenz der Anpassung der Produktionsorganisation an einen neuen Produktivkraftstand heute, 30 Jahre danach, erneut aus der Schublade zu holen und, um die Erfahrungen eines gescheiterten Generationenentwurfs reicher, auf Kontinuität und Modifikationsbedarf hin abklopfen. Die hierzu verwendeten Zitate(1) sind dabei zumeist aus [PWB] oder [Kreschnak] entnommen. Beide Quellen haben je ihren eigenen Reiz: [PWB] als eine vollständig überarbeitete Auflage eines ML-Standardwerks, in der 1974 anerkannte DDR-Autoren die entsprechenden Diskussionen der sechziger Jahre in der DDR subsumierten, und [Kreschnak] als nunmehr auch schriftlicher Beleg dafür, daß die (bisher spärliche) aktuelle Debatte im PDS-Umfeld zu unserer Thematik in entscheidenden Denkmustern oft noch der damaligen Sichtweise folgt, was hier nicht unwidersprochen hingenommen werden soll(2).

(10) Bei dieser Vorgehensweise sei aber ein Umstand vorab expliziert. Während der "klassische" Marxismus noch eine Transzendenz der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Bewältigung der anstehenden Umbrüche voraussetzt und diese somit direkt mit dem Attribut "sozialistisch" auftreten, diskutiert heute auch die Linke darüber, ob bzw. inwieweit ein solcher Umbruch noch unter kapitalistischen und hier insbesondere privateigentümlichen und marktwirtschaftlichen Bedingungen möglich ist(3). Die konservativen Kräfte sind davon sowieso überzeugt und, als die derzeit wenigstens in Deutschland hegemoniale politische Kraft, auf dem besten Wege, ein für sie offensichtlich schlüssiges Konzept solcher Veränderungen in die Tat umzusetzen. Rundherum also eine perverse Situation, wenn die eigentlich progressiven, auf Veränderung drängenden Kräfte (mit wenig Erfolg) eine Verteidigungsschlacht nach der anderen schlagen, während die konservativen, auf Werterhalt bedachten Kräfte die Grundlagen ihres eigenen Wertesystems in Frage stellen und versuchen, dieses nach Kräften umzumodeln.

Arbeit als gesellschaftliches Phänomen

(11) Wir wollen zunächst verschiedene Facetten des Begriffs der Arbeitsgesellschaft genauer herausarbeiten. Dabei werden sich bald einige noch nicht so deutlich auflösbare Eigentümlichkeiten desselben herausstellen, insofern Wissen ins Spiel kommt. In einer Gesellschaft, für die (nicht nur deskriptive Formen von) Information eine zunehmend wichtige Rolle spielen, ist aber ein genaueres Verständnis dieser Effekte von zentraler Bedeutung.

(12) Ausgangspunkt für G. Heydens Beitrag zum Stichwort "Arbeit" in [PWB] ist die Marxsche Sicht auf Arbeit als

einen Prozeß zwischen Mensch und Natur, [...] worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.
Arbeit in diesem sehr umfassenden Sinne als Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, die Natur der menschlichen Gemeinschaft eingeschlossen, ist die zentrale Konstituente menschlichen Seins und Werdens. Die im Mittelpunkt unseres Interesses stehende Produktivkraftentwicklung kann neue Dimensionen dieses Wechselverhältnisses zwischen Mensch und Natur eröffnen, Dimensionen, die oft genug auch einschneidende Veränderungen in der Sozialisation mit sich bringen und stets eine Intensivierung der Interdependenzen zwischen Mensch und Natur statt deren Abschwächung zur Folge hatten, diese aber niemals beenden, ohne damit die physische Existenz der Menschheit als solcher zugleich in Frage zu stellen. In diesem Sinne ist ein "Ende der Arbeitsgesellschaft" nicht abzusehen; die ständige Diskussion darum ist jedoch ein Indiz, daß eben eine solche neue Dimension dieses Wechselverhältnisses zwischen Mensch und Natur ins Haus steht.

(13) Zugleich impliziert die zitierte Sicht auf Arbeit neben dem Hinweis auf den im Gesamtverhältnis eindeutigen Prozeßcharakter als Wechselspiel eng miteinander verbundener Kontrahenten(4) die Existenz von wenigstens zwei interagierenden, aber doch grundlegend unterschiedlichen Komponenten menschlicher Arbeitstätigkeit: einer aktorischen und einer reflektorischen. Der Mensch tritt in diesem Arbeitsprozeß zugleich als Agent, als zielgerichtet Veränderungen induzierendes Subjekt, und als Rezipient auf, der die Folgen seiner eigenen und der Tätigkeit anderer beobachtet, analysiert und die daraus gewonnenen Erkenntnisse systematisiert. Diese Analysetätigkeit ist die Grundlage für die weitere Qualifizierung eigener zukünftiger Aktionen, die ihrerseits neue Analysen auslösen etc. Erst aus dem Zusammenspiel beider Komponenten wird eine bewußte Gestaltung und Weiterentwicklung des Mensch-Natur-Verhältnisses möglich, wobei zweifellos der Reflexion die entscheidende Rolle zukommt, diese den Kreis schließt, Höherentwicklung ermöglicht und so den Menschen aus dem Tierreich heraushebt.

(14) Den Menschen als soziales Wesen zeichnet dabei zugleich die Fähigkeit aus, eigene Analyseergebnisse anderen Individuen verfügbar zu machen. Auf diese Weise, durch die Sozialisation individueller Erfahrungen, entsteht schließlich ein gesamtgesellschaftlicher Wissenspool, der in einem koordinierten, arbeitsteiligen Vorgehen verschiedener Individuen sein aktorisches Pendand findet. Wir wollen diese durch ihre Sozialisation gebrochene und koordinierte Summe individueller Arbeiten im folgenden als Gesamtarbeiter bezeichnen und ihn in Gegensatz zu ebendieser Summe von Individualarbeitern setzen. Eine scheinbare Subjektsetzung einer solchen gesamtgesellschaftlichen Struktur ist zwar problematisch, wir halten sie jedoch an dieser Stelle für gerechtfertigt, weil sich Gesamtarbeit als für die menschliche Sozialisation als Ganzes entscheidend auf einem anderen raum-zeitlichen Abstraktionsniveau reproduziert als jede einzelne Individualarbeit. Mehr noch, das komplizierte, widersprüchliche Gefüge der individuellen Reproduktionsprozesse, die Bewegungsmechanismen und Interessenkonflikte, die dabei auftreten, konstituieren gerade diesen Gesamtarbeiter.

(15) Die aktorische und reflektorische Komponente menschlicher Arbeitstätigkeit hat auch Heyden im Auge, wenn er weiter schreibt

Arbeit wird als körperliche und geistige geleistet. [...] In allen antagonistischen Klassengesellschaften war die körperliche Arbeit Attribut der ausgebeuteten und beherrschten Volksmassen und wurde weniger geachtet als die geistige. [...] Der geistigen Arbeit wurde alles Verdienst an der raschen fortschreitenden Zivilisation zugeschrieben. Sie war Vorrecht der besitzenden Klassen oder von ihr privilegierter Personen.

(16) Ob eine derart verkürzende Zuordnung jeglicher geistiger Leistung der jeweils herrschenden Klasse den Realitäten gerecht wird, sei dahingestellt. Sie weist jedenfalls darauf hin, daß der reflektorische Teil des menschlichen Arbeitsprozesses im Vergleich zum aktorischen eine wesentlich wichtigere Rolle bei der (Neu-)Installierung und Sicherung von Herrschaftsverhältnissen spielt oder wenigstens gespielt hat. Dies liegt zweifelsohne vor allem in der Potenzierung aktorischer Macht, dem Selektionsvorteil begründet, die eine adäquate, über den üblichen Rahmen hinausgehende Einsicht in wichtige Zusammenhänge bietet. Die Möglichkeit, durch genaue Kenntnis der Verhältnisse dieselben durch gezielten geringen eigenen Energieeinsatz zu seinen Gunsten zu verändern war schon immer ein entscheidender Teil der hohen Kunst der Herrschaftssicherung. Um so erstaunlicher ist es, daß sich Wert- und insbesondere Arbeitswerttheorien gewöhnlich schwertun mit der Bewertung solcher für die Konstituierung menschlicher Sozialisation offensichtlich nicht unbedeutenden Arbeit.

Arbeit und Arbeitsteilung

(17) Weiter hebt Heyden die sozialisierende Rolle von Arbeit hervor, die Tatsache,

[...] daß der Mensch durch seine Arbeit sich selbst, seine Produktivkräfte, seine Gesellschaft, also seine Geschichte erzeugt. Damit wird, im Gegensatz zur klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie, die die Arbeit nur als Quelle des materiellen Reichtums faßt, ihre persönlichkeits- und geschichtsbildende Rolle hervorgehoben.
Diese sozialisierende Funktion entspringt vor allem aus der Arbeitsteilung, der Notwendigkeit zu kooperativem Zusammenwirken, das nicht nur die Persönlichkeitsstruktur des einzelnen Individuums, sondern auch die Dynamik menschlicher Sozialisation in ihrer Gesamtheit, also den Gesamtarbeiter im oben eingeführten Sinne, entscheidend bestimmt.

(18) Der im Laufe der menschlichen Entwicklung beständig fortschreitende Prozeß dieser Arbeitsteilung hat mittlerweile zu multifunktionalen, in vielseitigen, vielschichtigen und autonomen Teilzusammenhängen sehr unterschiedlicher funktionaler Bedeutung zusammenwirkenden Gesellschaftsstrukturen geführt. Die Gesellschaft teilt sich dadurch in eine Vielzahl relativ unabhängiger Bereiche, die weitestgehend autonom agieren und eigenverantwortlich gesamtgesellschaftlich notwendige Reproduktionsleistungen vollbringen. Eingebettet sind diese relativ stabilen Strukturen in einen gesamtgesellschaftlichen Abstimmungprozeß, der Ressourcenallokation und Transferleistungen vermittelt.

(19) Im Spannungsfeld dieser Input-Output-Erwartungen findet die relative Autonomie der Teilstrukturen zugleich ihre Grenzen und werden Handlungszwänge erzeugt, die deren Freiheitsgrade determinieren. Die sich in der Arbeitsteilung manifestierende Kooperation derart vielschichtiger, auch raum-zeitlich höchst unterschiedlich dimensionierter Prozesse und Strukturen ist für das Funktionieren des Gesamtwesens in seiner heutigen Ausprägung unentbehrlich.

(20) In diesem Sinne erscheint die ebenfalls auf Marx zurückgehende Prognose in [Kreschnak, S. 7], daß mit dem Einsatz "kybernetischer Maschinen"

der Mensch, der nicht mehr Hauptagent des Produktionsprozesses ist, auch nicht mehr genötigt (sei), sich dem Zwang der Arbeitsteilung zu unterwerfen, durch den er zu einem Rädchen im Massengetriebe wird,
direkt aberwitzig. Statt dessen ist, historischer Erfahrung folgend, mit jedem Sprung in der Produktivkraftentwicklung eine weitere Ausprägung der Kompliziertheit dieses arbeitsteiligen Zusammenwirkens auf einem völlig neuen Niveau zu erwarten.

(20.1) Arbeitsteilung, 06.02.2001, 00:10, Rolf Köhne: Die Aussage bzüglich der arbeitsteilung ist sicherlich so, wie sie da steht, aberwitzig. Aber der letzte Teilsatz ist dennoch - nach meinen Erfahrungen- richtig. Hochautomatisierte Produktionsprozesse brauchen "Wächter" (Marx), die eben kein Rädchen im Getriebe sind, sondern wissen, was abläuft und die im Störungsfall wissen, was zu tun ist. Die "Kompliziertheit des arbeitsteiligen Zusammenwirkens" steckt in der "kybernetischen Maschine" - und der Mensch ist gefordert, ein besseres Verständnis vom Prozeß zu haben als eben diese Maschine.

(21) Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß diese Strukturen und die von ihnen erzeugten Werkzeuge in ihrer Mehrzahl eine Vergegenständlichung von Reflexionen vergangener Arbeit sind. Eine solche Vergegenständlichung, ob nun in neuen Produkten oder neuen Begriffen und Theorien, erlaubt es, diese Analyseleistung von gestern heute als einheitliches Ganzes, als Entitäten, in neue Analyse- und Reflexionsprozesse einzubringen. Deren Ziel ist es, das Wissen, welches aus einer durch solche Komplexitätsreduktion erst möglichen Analyse von Wirkzusammenhängen einer neuen Dimension geschöpft wird, wiederum in Begrifflichkeiten oder Produkten zu komprimieren, die morgen ihrerseits in vergegenständlichter Form in noch umfassendere Zusammenhänge (mit in der Regel noch umfassenderen raum-zeitlichen Horizonten) eingehen:

Arbeit ist kein gleichbleibender, sich auf gleicher Ebene wiederholender Prozeß, sondern ein Entwicklungsprozeß zu immer höheren Formen.

(22) Daß mit solch neuen, höheren Formen auch neue raum-zeitliche Horizonte für damit zu verbindendes Reflexionsvermögen und Reflexionsbedarf eröffnet werden, wird man bei der Analyse der mit der heute ablaufenden Revolutionierung der Produktivkräfte verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen entscheidend berücksichtigen müssen.

(23) Insbesondere stellen die sich in diesem Kontext bereits herausgebildeten zivilgesellschaftlichen Strukturen wichtige kulturelle Leistungen der Menschheit dar.

(24) Die Dynamik und Eigenheiten eines solchen vielschichtigen und vielgesichtigen Reflexionsprozesses immer umfassenderen Charakters, der aus vielen relativ autonomen Teilprozessen mit oft unterschiedlicher Prioritätensetzung besteht, sind durch starke Zielkonflikte geprägt, die entweder spontan oder aber, insofern die Reflexion der Bedingungen der eigenen Existenz im Ergebnis bereits zur Installierung entsprechend geeigneter Strukturen geführt hat, geordnet ausgetragen werden.

(25) Das bedeutendste Konfliktfeld bildet dabei der Streit um die für den individuellen Arbeitsprozeß notwendigen Ressourcen, welcher bereits in einer sehr frühen Phase der Arbeitsteilung zur Herausbildung von Verfügungseinschränkungen in Form der Entstehung von Privateigentum führte.

(26) Dort, wo sich aus diesen Eigentumsrechten Rechte auf Delegierung von Verfügungsgewalt zu einem wohldefinierten Arbeitsprozeß (und nachfolgende Aneignung des Ergebnisses durch den Eigentümer und nicht den Produzenten) ableiten lassen, beginnen die Klassengesellschaften und der Entfremdungscharakter (eines Teils) der Arbeit; also Arbeitsbedingungen,

in denen der arbeitende Mensch von den Produktionsmitteln durch Eigentumsschranken getrennt ist, er also nur mit Erlaubnis der Besitzenden arbeiten, d.h. leben kann, die Arbeit damit entfremdeten Charakter annimmt. Diese Form ist aber historisch vergänglich.

(27) Die letzte Bemerkung ist, wenigstens den entfremdeten Charakter der Individualarbeit als Erfüllung einer über Transmissionsmechanismen vom Gesamtarbeiter übermittelten gesellschaftlichen Notwendigkeit betreffend, wohl zu relativieren. Schließlich ist die Einordnung des Arbeitsvermögens des Individualarbeiters in einen umfassenderen Gesamtplan und die damit verbundene Fremdbestimmung, die im Fall des Privateigentums als einfache Unterordnung unter einen fremden Willen daherkommt, als Verkauf der eigenen Arbeitskraft an jemanden, der mit dieser auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung mehr anfangen kann, eine Entäußerung des Konflikts zwischen dem Gesamtarbeiter und dem Individualarbeiter, der jede Arbeitsgesellschaft begleitet. Auch eine nicht auf Privateigentum beruhende Gesellschaft benötigt Mechanismen für die Organisation koordinierten und arbeitsteiligen Zusammengehens im gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozeß und wird dabei um Formen im obigen Sinne fremdbestimmter Arbeit nicht herumkommen. Mehr noch, die hohe Komplexität des heutigen und noch mehr des morgigen Arbeitsprozesses macht an vielen Stellen ein Zusammenwirken nach einem einheitlichen "Plan" dringender denn je erforderlich.

(27.1) Komplexität und einheitlicher Plan, 06.02.2001, 00:30, Rolf Köhne: Komplexität der Arbeitsprozesse und einheitlicher Plan des Zusammenwirkens heißt in der Praxis eben gerade nicht, daß die Arbeit mittels eines komplexen, detailierten Planes erledigt wird, in dem der einzelne dann wirklich nur ein Rädchen im Getriebe ist. Die Komplexität ist nur zu bewältigen, wenn der einheitliche Plan höchst allgemein das Ziel vorgibt und es den Arbeitenden selbst überlässt, wie sie dieses Ziel erreichen.

(28) Zweifellos sind dabei subtilere Abhängigkeitsverhältnisse als die rohe Kommandogewalt einer hierarchisch strukturierten Produktionsorganisation möglich und, wie wir weiter unten noch genauer sehen werden, notwendig. Zweifellos werden solch neuartige, kreative Spielräume öffnende Abhängigkeitsverhältnisse den Charakter der Arbeit und auch deren Organisationsformen grundlegend verändern. Die damit verbundene Unterordnung des Individualarbeiters unter den Gesamtarbeiter, die soziale Determiniertheit der Inhalte von Individualarbeit, der Kern der Entfremdung der Arbeit, besteht aber fort. Selbst sehr erträgliche Arbeitsbedingungen mit einem hohen Grad an individuellen Entscheidungsspielräumen, wie alternativ in [Kreschnak] als Folge des Übergangs zur Informationsgesellschaft prognostiziert, können diese Fremdbestimmung mystifizieren(5), aber nicht beseitigen.

(28.1) Mystik?, 06.02.2001, 00:35, Rolf Köhne: Ich weiss, daß die Ziele meiner Arbeit (als Software-Ingenieuer)fremdbestimmt sind. Aber je weniger mir da jemand reinredet, wie und wann ich es machen soll, je mehr Spass macht es mir. Ich kann daran nichts Mystisches erkennen.

(29) Mehr noch muß man als unmittelbare Folge der heute erreichten Dynamik der Produktivkräfte davon ausgehen, daß diese Fremdbestimmung sogar noch im Wachsen begriffen ist. Die Antwort auf die Frage nach der Erträglichkeit derartiger Verhältnisse als immanenter Bestandteil der Reflexion der eigenen Arbeitsbedingungen wird dabei heute sicher eher berufs- als gesellschaftsspezifisch beantwortet werden und von der Erfüllung der sozialisierenden Funktion der Individualarbeit für das Individuum abhängen.

(30) Daraus abzuleiten ist allerdings die wenigstens moralische Verpflichtung der Gemeinschaft, jedem Erfüllung bringende (nicht unbedingt nur bezahlte) Arbeit zu ermöglichen, die allein aus der Existenz von Privateigentum in seiner heutigen Form nicht gesichert werden kann. Allerdings wird man, wie oben bereits ausgeführt, um die zivilgesellschaftlichen Erfahrungen, die in entsprechenden menschlichen "Erfindungen", wie den Kategorien Besitz, Eigentum, Verfügungsgewalt oder Mechanismen wie denen des Warenaustauschs, der Marktwirtschaft etc. in Bezug auf dieses Spannungverhältnis zwischen Individualarbeiter und Gesamtarbeiter enthalten sind, nicht herumkommen.

(30.1) Dünne Argumente, 06.02.2001, 00:46, Rolf Köhne: Warum sollte man nicht um Besitz, Eigentum, Ware, Markt etc. herumkommen? Wo im Text ist "wie oben bereits ausgeführt" ?

(31) Getrennt von der moralischen Pflicht zur Sicherung von Arbeitsmöglichkeiten ist (die ebenfalls nur moralische) Pflicht des Gemeinwesens zur Sicherung der Existenz seiner Individuen zu betrachten, obwohl beide in allen bisherigen Gesellschaften für Mehrheiten durch den über die physische oder strukturelle Drohung des Existenzentzugs vermittelten Zwang zu fremdbestimmter Arbeit eng miteinander verzahnt sind. Kausal besteht ein Zusammenhang zwischen Arbeit und Existenzsicherung allerdings nur auf der Ebene des Gesamtarbeiters, der ja als gesamtgesellschaftlicher Arbeitsprozeß per definitionem die Reproduktion des bestehenden Wechselverhältnisses mit der Natur, d.h. der Grundlagen der Existenz der menschlichen Gemeinschaft, zum Inhalt hat. Dagegen ist das Brachliegen individuellen Arbeitsvermögens oder gar dessen Vernichtung für das Funktionieren des Gemeinwesens unerheblich, solange die verschiedenen Funktionalitäten des Gesamtarbeiters nur gewährleistet sind.

(32) Dieser Zusammenhang zwischen Arbeit und Existenzsicherung auf der Ebene des Gesamtarbeiters kann sich allerdings nur durch die koordinierte Wirkung der Summe der Individualarbeiten realisieren, weshalb ein diese Kausalität vermittelnder Mechanismus in jedweder Gesellschaft notwendig ist.

(33) Eine zentrale Rolle in einem solchen Mechanismus spielte in allen bisherigen Gesellschaftsordnungen die Bewertung der Individualarbeit durch den Gesamtarbeiter, d.h. das Werte- und Bewertungssystem der jeweiligen Gesellschaft. Darauf wird unten noch genauer einzugehen sein. Hier sei jedoch schon konstatiert, daß die Kompliziertheit eines Wertfeststellungsverfahrens in gleichem Maße wie die des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gewachsen ist. Man wird deshalb auch in Zukunft davon ausgehen können, daß die Kompliziertheit dieses Transmissionsmechanismus weiter wächst. Aus systemtheoretischer Sicht ist es sogar klar, daß sich diese Transmission, der raum-zeitlichen und kausalen Schichtung des Arbeitsprozesses folgend, nur über mehrere Stufen effektiv realisieren kann.

(34) Die im Kapitalismus dafür angelegte Stafette Gesamtarbeiter -- Eigentümer -- Individualarbeiter hat dabei entscheidende Defizite besonders in ihrem ersten Teil, in dem marktwirtschaftliche Mechanismen den Transmissionsriemen spielen sollen. Der Grund hierfür liegt in der herausgehobenen Stellung des Eigentümers, wodurch es außerordentlich schwierig wird, ihm gegenüber Fremdbestimmung durchzusetzen und damit andere als unmittelbar marktwirtschaftsadäquate raum-zeitliche Horizonte transparent werden zu lassen.

(35) Andererseits sind diese marktwirtschaftlichen Mechanismen, die sich im Laufe der Jahrhunderte "so ergeben" haben, gerade die vom Gesamtarbeiter selbst installierten Strukturen, die dem Eigentümer gegenüber Fremdbestimmung durchsetzen sollen. Dies wollen wir bei der Frage nach deren Veränderbarkeit, dafür notwendiger zeitlicher Horizonte und vor allem dem generellen inneren Wesen derartiger Strukturen stets vor Augen haben.

(35.1) Falsches Bild, 06.02.2001, 01:02, Rolf Köhne: Hier liegt der Denkfehler! Marktwirtschaftliche Mechanismen sind, wenn überhaupt, die vom Gesamt-Konsumenten selbst installierten Strukturen ... Also: Individualkonsument-Gesamtkonsument-Eigentümer-Gesamtarbeiter-Individualarbeiter. Da stört der Eigentümer nur, da sein Profitkalkül nur diejenigen als Individualkonsumenten (=zahlungsfähige Nachfrage) anerkennt, die er zuvor als Individualarbeiter hat arbeiten lassen.

(36) Diese Strukturen in neue, den gewachsenen raum-zeitlichen Dimensionen des Reproduktionsprozesses entsprechende zivilgesellschaftliche Strukturen einzubetten, ist also die aktuelle Aufgabe, die der Gesamtarbeiter auf dem Gebiet der Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen zu lösen hat, um die neue Dimension von Fremdbestimmung, die die gesamtgesellschaftliche Beherrschung des neuen Produktivkraftniveaus erfordert, zu vermitteln.

(37) So wie sich marktwirtschaftliche Mechanismen auf die Regulierung eines Verhältnisses sehr bestimmter raum-zeitlicher Dimension beschränken und damit die Illusion der Freiheit des Eigentümers lassen, werden sich diese neuen Steuerungsinstrumente als Transmissionsriemen für Kausalität neuer raum-zeitlicher Dimension allerdings ebenfalls nur auf eine sehr indirekte Einflußnahme, ein Setzen (und Durchsetzen) von Rahmenbedingungen, beschränken.

(38) Die so weiter zu verlängernde Kette von Transmissionen entspricht damit der wachsenden Vielschichtigkeit des Gesamtarbeitsprozesses wesentlich besser als der Versuch einer Abkürzung dieser Kette auf die Transmission Gesamtarbeiter = (Volks-)Eigentümer -- Individualarbeiter in der bisherigen realsozialistischen "Lösung". Dasselbe gilt, im Sinne von [Kurz] verallgemeinernd, für jede etatistisch-kapitalistische Lösung, insbesondere für Lösungsansätze für die ökologische Krise, die den Weg in Richtung einer Ökodiktatur, welcher Ausprägung auch immer, suchen.

(38.1) Das falsche Bild hat Tradition, 06.02.2001, 01:11, Rolf Köhne: Wäre der Realsozialismus von meinem oben vorgeschlagenen Bild ausgegangen, dann hätte er die Sache nicht auf den Gesamt/Individualarbeiter verkürzt, sondern eben den Konsumenten mitgedacht. Aber man war halt der Meinung, man wisse, was die Menschen konsumieren wollen, und hat munter am Bedarf vorbei produziert. Mein Vorschlag: In o.a. Bild den Eigentümer durch demokratische Übereinkunft zu ersetzen.

(39) Allerdings sollte man sich bewußt sein, daß der einer solchen Verkürzung zu Grunde liegende Hang zum Determinismus, der meint, daß nicht nur alles nach einem "großen Plan" läuft, sondern auch alles nach einem ebensolchen Plan unmittelbar beherrscht werden kann, keineswegs, wie bei [Kreschnak] unterstellt, Ausfluß der auf jahrhundertelanger zaristischer Selbstherrschaft basierenden "asiatischen" Produktionsweise ist, sondern an höchst europäische Denktraditionen anknüpft, die selbst in der Kybernetikwelle der 60er Jahre nochmals fröhliche Urständ feierten.

(40) Bereits in [PWB] werden jedoch mit dem Begriff der "großen Systeme" (Stichwort Systeme, Autor H. Liebscher) Alternativen aufgezeigt, die in der Tradition ganzheitlicher Betrachtungsweise gerade "asiatischer" Philosophie weit zurückreichende Wurzeln haben. Der in [Kreschnak] mit viel Pathos wiederentdeckte Begriff der unscharfen Systeme ist eine mittlerweile weithin unstrittige methodologische Konstituente moderner Wirtschaftstheorien und -praktiken. Allerdings versucht auch dieses Herangehen, trotz der Unschärfe der Formulierung von Bedingungen, gerade die Vorhersage des Verhaltens solcher Systeme, um sie kalkulierbar und einer Fremdbestimmung zugänglich zu machen.

(41) Dies steht Kreschnaks Schlußfolgerung diametral gegenüber, daß

diese Produktionsinstrumente [...] auch benötigt werden, um schrittweise jede Art von Fremdentscheidung menschlicher Angelegenheiten abzubauen, um in einem langwierigen Prozeß zu sichern, daß künftig alle Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten auch selbst entscheiden können und tatsächlich selbst entscheiden.
Die hier unterstellte Fähigkeit zur Lokalisierung globaler Reflexionsprozesse, einen entsprechenden technischen Entwicklungsstand nur vorausgesetzt, ist Ausdruck eines allerdings durchaus noch gängigen Technikoptimismus, der spätestens mit [Weizenbaum] sehr skeptisch hinterfragt wurde.

Arbeit im allgemeinen und nützliche Arbeit

(42) Doch kehren wir zum Arbeitsbegriff zurück. Die Ausführungen Heydens in [PWB] setzen fort mit der Marx zugeordneten Einengung des Arbeitsbegriffs auf nützliche Arbeit, zweckmäßige Tätigkeit,

Der Arbeitsprozeß [...] ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse. [...] Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit [...] ewige Naturnotwendigkeit [...]
deren Credo wie folgt beschrieben wird:
Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn derselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht, daß er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muß. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eigenen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.

(43) Die Einengung des Arbeitsbegriffs auf eine solche Transformation eines Zwecks in eine Wirkung fokussiert den Blick allerdings auf lediglich einen Teilzusammenhang des Arbeitsbegriffs in seiner bisher betrachteten Dimension und engt ihn zweifach ein: zum einen durch eine Beschränkung der Sicht auf den Individualarbeiter und zum anderen durch die Beschränkung der reflektorischen Komponente auf eben diese geistige Vorwegnahme des Arbeitsergebnisses.

(44) Die Marxsche Ökonomie, die ganz wesentlich die Interaktion der Individual-Arbeitsprozesse in diesem Verständnis untersucht, abstrahiert damit insbesondere von der Genese der zugehörigen Reflexionsprozesse. Zwar ist sie durchaus bereit anzuerkennen, daß der Mensch

durch die ideelle Vorwegnahme des Arbeitsergebnisses, durch eine jeweilige Zwecksetzung innerhalb des Arbeitsprozesses, in der Lage ist, neue Gesetzmäßigkeiten, die in der Natur wirken, aufzudecken und in seinen Dienst zu stellen,
beläßt aber diese, den Arbeitsprozeß zu seinem Ausgangspunkt, der Zwecksetzung, rückkoppelnde Reflexionsleistung im Status eines schmückenden Beiwerks, eines wünschenswerten und notwendigen, jedoch dem "richtigen" Arbeitsprozeß nachgeordneten Anhängsels und Automatismus.

(45) Arbeit in diesem engen Sinne ist produktive Arbeit, jede darüber hinausgehende, das menschliche Verhältnis zur Natur beeinflußende Tätigkeit eine zwar essentielle, aber maximal einer Alimentation unterliegende Beschäftigung.

(46) Besonders deutlich wird das in verschiedenen Versuchen, die ausschließlich auf produktive Arbeit ausgerichtete Marxsche Werttheorie zu erweitern wie etwa in [Fl]. Fleißner unterscheidet dort zwischen wertproduzierender und wertverbrauchender Arbeit und diskutiert Mechanismen, die Alimentierung der wertverbrauchenden aus der wertproduzierenden Arbeit aus der heute üblichen unmittelbaren staatlichen Bevormundung in autonomere Bahnen zu lenken. Solche Versuche schreiben jedoch die Unterscheidung in wichtige Kernarbeitsbereiche und weniger wichtige "Dienstleistungsbereiche" fest, die sich aus der historischen Genese heutiger Produktionsverhältnisse zwar leicht erklären lassen, aber eine ungerechtfertigte Aufwertung der einen Seite des Arbeitsprozesses im weiteren Sinne implizieren, die mit zunehmender Bedeutung von Wissen und Information, also der anderen Komponente, immer fragwürdiger wird.

(47) Diese Beschränkung ist allerdings essentiell für das Marxsche Verständnis des Verhältnisses zwischen capital fixe und capital circulant, obwohl er andererseits diese Grenzen bereits damals, vor mehr als 100 Jahren, wahrnahm. Wir kommen weiter unten auf dieses Thema zurück.

Produktive Arbeit und geistige Arbeit

(48) Wir hatten gesehen, daß die reflektierende Komponente ein wichtiges Glied in der Kausalkette des Arbeitsprozesses bildet und auch in den von Marx vorrangig thematisierten unmittelbaren Produktionsprozeß, den Produktionsprozeß im engeren Sinne, implizit eingreift. Wir wollen nun die Genese der Reproduktion dieser Komponente in groben Zügen verfolgen, wobei wir zwischen der für eine qualifizierte Zwecksetzung notwendigen Reproduktion von Individualerfahrung, der Kompetenz des Individualarbeiters, und der durch Sozialisation gebrochenen Summe heutiger und vergangener Individualerfahrungen und -analysen, der Kompetenz des Gesamtarbeiters, zu unterscheiden haben.

(49) Beide sind natürlich eng miteinander verzahnt, da die individuell gebrochene Erfahrung des Gemeinwesens auch ein wesentlicher Bestandteil der Kompetenz des Individualarbeiters ist. Wir haben es hier mit einem ähnlichen Wechselspiel von Sozialisation und individueller Aneignung zu tun wie wir dies oben für das Wechselverhältnis von Gesamtarbeiter und Summe der Individualarbeiter im Rahmen des Arbeitsprozesses im weiteren Sinne beschrieben haben.

(50) Wir wollen deshalb der sich durch die Sozialisierung individueller Reflexionsleistungen reproduzierenden gesellschaftlichen Struktur einen eigenen Namen geben und sie im weiteren als Informationsraum bezeichnen. Dieser Informationsraum ist damit eine wichtige Konstituente der Arbeitsgesellschaft insgesamt, dessen Bedeutung mit dem Einsatz von Werkzeugen zur Potenzierung der menschlichen Geisteskraft weiter zunehmen wird.

(51) Fragt man nach dem Wert von Arbeitsleistung für diesen Informationsraum, so war noch zu Marxens Zeiten die Antwort (Kapital, Kap. 13) einfach:

Ein Wasserrad ist nötig, um die Bewegungskraft des Wassers, eine Dampfmaschine, um die Elastizität des Wassers auszubeuten. Wie mit den Naturkräften verhält es sich mit der Wissenschaft. Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreis eines elektrischen Stroms oder über Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut. Aber zur Ausbeutung dieser Gesetze für Telegraphie usw. bedarf es eines sehr kostspieligen und weitläufigen Apparats.
Wissenschaftliche Reflexionsleistungen, einmal vollzogen, werden in diesem Verständnis also kostenfrei in den Verwertungsprozeß einbezogen; einzig die, aber schon wieder aktorische, Produktion der entsprechenden Maschinen verursacht Kosten(6).

(52) Gesamtgesellschaftlich kann der Aufwand für die Reflexionsleistung natürlich keineswegs außer Ansatz bleiben und so bleibt die Frage nach den Mechanismen offen, dafür entsprechende gesellschaftliche Ressourcen zu allokieren. Die Fragestellung hat dabei wiederum zwei Aspekte zu beachten, die Reproduktion der Kompetenz des Individualarbeiters durch Partizipation am Informationsraum und die Reproduktion der Strukturen des Informationsraums selbst.

(53) Bis in die jüngste Vergangenheit hinein erfolgte die Reproduktion der Strukturen des Informationsraums vor allem über "gelehrte Personen" und deren Interaktion. Wissen und Wissensreproduktion, kurz Wissenschaft, bildete dabei ein relativ autonomes Gebiet im gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozeß, das sich in außerökonomischen Strukturen unter den Fittichen der jeweils herrschenden Klasse und dem Einsatz eines Teils des von ihnen angeeigneten Mehrprodukts reproduzierte.

(54) Eine Kontrolle des Einsatzes dieser Mittel war dabei nur bedingt möglich, weil die Spezifik der betrachteten Sphäre eine Zweckbestimmung, eine ideelle Vorwegnahme des Arbeitsergebnisses nur sehr beschränkt erlaubt.

(55) Entsprechend erfolgte die Ressourcenverteilung im Gegensatz zur aktorisch-produktiven Arbeitsleistung nicht über das Maß der (konkreten) Individualarbeit, sondern über das sich vor allem in gesellschaftlicher Reputation der "gelehrte Personen" ausdrückende Maß des Arbeitsvermögens. Dies ist nur zu verständlich, hat doch eine aktuelle Reflexionsleistung die Subsumierung vergangener solcher Reflexionsleistungen zur Voraussetzung, wozu nur ein enger dafür präpositionierter und präparierter Personenkreis überhaupt in der Lage war.

(56) Mit dieser Form der Bezahlung nach Kompetenz statt nach (mit einem Zeitmaß gemessener) Arbeitsleistung wurde für diesen Personenkreis zugleich in gewissem Umfang die Reproduktion individueller Reflexionsfähigkeit als gesellschaftlich relevante Arbeit anerkannt. Dies stand ganz im Gegensatz zur großen Masse der körperlich arbeitenden Individuen, für die eine solche Vorbereitung auf die Individualarbeit nicht notwendig war bzw. diese einen derart geringen Umfang ausmachte, daß sie in den Reproduktionsprozeß der Großfamilie ausgelagert werden konnte.

(57) Unter der Voraussetzung einer im gesamtgesellschaftlichen Maßstab relativen Beschränktheit der für die Reproduktion des Informationsraums aufzuwendenden Mittel war eine Alimentation dieser Sphäre, d.h. eine Bereitstellung von Mitteln ohne intrapersonellen Effizienzmaßstab für deren Einsatz, durchaus angemessen.

(58) Wir haben es hier mit einer für Privateigentumsverhältnisse sehr interessanten Inkarnation des Imperativs "Eigentum verpflichtet" zu tun: der indirekten Alimentation einer Funktionalität des Gesamtarbeiters durch eine, ökonomisch ebenso höchstens indirekt sinnvolle, Alimentation von Individualarbeit. Es handelt sich um nach unmittelbar ökonomischen Kriterien sinnlose Ausgaben, die aber zur Herrschaftssicherung ungenügend reproduzierte Funktionalitäten des Gesamtarbeiters stützen, indem Arbeit ermöglicht wird, deren Ergebnis ihrerseits diese Funktionalität des Gesamtarbeiters erst nach einem eigenen Sozialisationsprozeß bewirkt (das zur fernen Zukunftssicherung der eigenen Kinder in den (Privat-)Lehrer investierte Geld entfaltet seine Wirkung eben nicht unmittelbar durch die Tätigkeit des Lehrers, sondern erst durch die entwickelte Kompetenz seiner Schüler)(7).

(59) Dieser qualitative Unterschied in der Bewertung von körperlicher und geistiger Arbeit setzt sich in modifizierter Form bis heute fort: den in entsprechenden, zu großen Teilen staatlichen Institutionen zusammengefaßten Geistesarbeitern wird über ihr Gehalt und die Festlegung ihrer Arbeitsaufgaben die Reproduktion auch ihres Reflexionsvermögens alimentiert(8), während dies für den Muskelarbeiter, sofern es ihn in Reinkultur überhaupt noch gibt, ein selbst steuerlich nur beschränkt abziehbares Privatvergnügen darstellt.

(60) Zwei Unterschiede gibt es dennoch. Dies ist zum einen die Herausnahme von Teilen der Reproduktion des Reflexionsvermögens des Muskelarbeiters aus dem familiären Reproduktionsprozeß durch inzwischen generell staatlich alimentierte Grund- und partiell staatlich alimentierte Berufsbildung(9), die den immer komplexeren Bedingungen der modernen Produktion geschuldet ist.

(61) Zum anderen handelt es sich um die deutliche Tendenz, die oben beschriebene indirekte Alimentierung der Wissens- und Wissensträgerreproduktion zunehmend aus marktwirtschaftlichen Zusammenhängen herauszuhalten und dem Gemeinwesen zu übertragen. Besonders eindrucksvoll wird dies durch den fast vollständigen Zusammenbruch der ostdeutschen Industrieforschung demonstriert.

Arbeit und Wissenschaft

(62) Wir wollen nun einen genaueren Blick auf die Strukturen selbst zu werfen, die sich zur Reproduktion der Reflexionsfähigkeit der menschlichen Gemeinschaft herausgebildet haben. Sehen wir uns dazu einige Ausführungen von H. Hörnig in [PWB] zum Thema "Wissenschaft" an. Da heißt es zuerst

Die Entstehung und Entwicklung der Wissenschaft ist letzten Endes bedingt durch die produktive Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer äußeren Natur; sie ist Ergebnis der wachsenden Macht ihres praktischen Handelns. Alle großen Neuerungen der Wissenschaft haben ihren Ausgangspunkt in der Praxis, vor allem in der materiellen Produktion und finden ihre Verwirklichung in der Praxis.

(63) Eine solche vordergründige Orientierung des Wissenschaftsbegriffs an ihrem unmittelbaren praktischen Nutzen kann nach unseren bisherigen Ausführungen nicht überraschen, ebensowenig allerdings im folgenden deren Relativierung, weil Wissenschaft eben zuerst Reflexionsleistung und nicht verändernde Tätigkeit beinhaltet.

(64) Halten wir jedoch fest, daß Wissenschaft hier wiederum eindeutig als unmittelbarer Teilprozeß des gesellschaftlichen Gesamtarbeitsprozesses, also als allgemeine Arbeit, charakterisiert wird, der sich, entsprechend dem bereits weiter oben entwickelten Szenario, wesentlich aus der Reproduktion bisheriger und der Produktion neuer Reflexionsleistungen in stetig wachsender raum-zeitlicher Dimension speist.

(65) Dies erfährt im weiteren ebenso seine Vertiefung wie die Nutzorientierung ihre Relativierung:

Die Wissenschaft ist allgemein gekennzeichnet durch den Prozeß der Erarbeitung von Wissen und das geschichtlich entstandene System wissenschaftlicher Erkenntnis bzw. einzelner Wissenschaften. Beide Seiten stehen in einem engen wechselseitigen Zusammenhang und bedingen einander. [...] Die Erarbeitung und Aneignung des Wissens ist ein schöpferischer und gesellschaftlicher Arbeitsprozeß. Die wissenschaftliche Arbeit ist [...] allgemeine Arbeit. [...] Wissen ist Voraussetzung und Ergebnis wissenschaftlicher Tätigkeit. [...] Aus der Sicht ihrer Ergebnisse ist Wissenschaft ein historisch entstandenes System von Wissen über die Natur, die Gesellschaft und das Denken, dem objektive (relative) Wahrheit zukommt. Dieses System von Wissen wird in Begriffen, Aussagen, Theorien und Hypothesen fixiert. [...] Das wesentlichste Element der Wissenschaft ist das theoretische Wissen. Es entsteht durch Ordnen von bekannten Erscheinungen, Zusammenhängen und Erkenntnissen, durch Abstraktion und Systematisieren.

(66) Die hier vorgenommene Beschränkung auf Kompression von Reflexionsleistungen in (gedanklichen) Begriffs- und Theoriegebäuden hängt damit zusammen, daß Hörnig Mindestanforderungen an diese Kompression stellt, ab der er eine solche erst als Wissenschaft anerkennt. Zusammenfassung und Systematisierung von Erfahrungen allein reicht dafür nicht aus.

(67) Wir wollen diesen Gedanken hier nicht weiter verfolgen, sondern davon ausgehen, daß für den Produktionsprozeß bisherigen Umfangs die Kompression von Reflexionsleistungen in Erfahrungen, Produkten und insbesondere Werkzeugen eine unmittelbarere Bedeutung hat. Die damit erfolgende Verschmelzung von Reflexions- und aktorisch-produktiver Leistung zu einem im Ergebnis einheitlichen Ganzen erleichtert es, diese den klassischen, über Austauschprozesse vermittelten Bewertungsmechanismen zu unterziehen.

(68) Dies bedingt allerdings bei den gegenwärtigen Austauschverhältnissen, wie wir in [Gräbe] genauer expliziert haben, die Sicherung exklusiver Verfügungsgewalt nicht nur über die materiellen Ressourcen, sondern auch über die dabei verwendete Reflexionsleistung; ein gravierender Widerspruch zum gesamtgesellschaftlichen Charakter des Wissensreproduktionsprozesses, der um so stärker zum Tragen kommt, je einfacher es wird, die Reflexionsleistung vom eigentlichen Produkt zu trennen.

(69) Die "reine Wissenschaft" betreffend heißt es weiter:

Die wissenschaftliche Erkenntnis ist eingebettet in den gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozeß. Die Wissenschaft kann nur in diesem Zusammenhang zur Produktivkraft werden. Ursprünglich mittelbar in die praktische Produktionstätigkeit eingeschlossen, ist die Wissenschaft infolge der Teilung von körperlicher und geistiger Arbeit in ständig steigendem Maße zu einem speziellen Gebiet der gesellschaftlichen Arbeitsteilung geworden. Dieser Bereich der gesellschaftlichen Arbeit umfaßt eine große und wachsende Zahl wissenschaftlicher Einrichtungen, wissenschaftlicher Arbeiter und wissenschaftlicher Organisationen.

Dieser Prozeß der Vergesellschaftung der Wissenschaft hat aus ihr eine bedeutende Institution werden lassen, die gewaltige materielle Mittel zu ihrem Unterhalt benötigt.

(70) Halten wir zuerst fest: Auch Hörnig konstatiert, daß in der bisherigen Entwicklung des Gesamtarbeiters hin zur Beherrschung immer komplexerer Zusammenhänge ein großer und steigender Anteil desselben mit Reflexionsleistungen beschäftigt ist, wobei wir weiter unten sehen werden, daß sogar eine ständige Verschiebung der relativen Gewichtung zwischen aktorisch-produktiven und reflektorischen Leistungen zugunsten letzterer zu verzeichnen ist.

(71) Die im Zitat verwendete Formel "Wissenschaft als Produktivkraft" könnte in diesem Kontext in der Formel "Wissenschaft als entscheidende Produktivkraft" präzisiert werden, als, erstmals im Laufe der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, Dominanz der reflektorischen Komponente des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozesses über die aktorisch-produktive.

(72) Dies würde implizieren, daß der Mensch in entscheidenden Teilen neben den eigentlichen Prozeß der unmittelbaren materiellen Reproduktion seiner eigenen Lebensgrundlagen, den Produktionsprozeß im engeren Sinne, tritt und sich der Schwerpunkt seiner Arbeitstätigkeit auf eine (zudem immer mittelbarere) reflektierende Begleitung und Steuerung desselben verschiebt.

(73) Nach unseren bisherigen Ausführungen kann es sich dabei allerdings nicht um die Herrschaft der einen über die andere Komponente des Gesamtarbeiters handeln, da nur in deren Zusammenspiel die zu erbringende Reproduktionsleistung möglich wird. Aber selbst eine Verschiebung der Gewichte, des Zentrums des Gesamtarbeiters, in dessen reflektorische Komponente stellt, wie wir unten noch genauer sehen werden, die derzeit dominierenden Produktions- und Verteilungsverhältnisse als dafür unangemessen in Frage.

(74) Bei Hörnig wird diese Formel allerdings in der engeren, in der Folge oft wohlfeilen und kanonisierten Auslegung "Wissenschaft als unmittelbare Produktivkraft" verwendet, die unterstellt, daß die alleinige Erweiterung des Begriffs der nützlichen Arbeit um die Komponente des nützlichen Wissens ausreicht, um den im Gesamtarbeitsprozeß entstehenden Reflexionsbedarf zu berücksichtigen. Wir finden hier wieder die guten Traditionen europäischen deterministischen Denkens, das übrigens in der Steuerungs- und Regelungseuphorie der ersten Kybernetikwelle einen ihrer Gipfel hatte. Daß komplexe Systeme auf eine solche Weise nicht zu reflektieren sind, war bereits damals in Ansätzen deutlich und ist heute Gegenstand verschiedener philosophischer und auch schon mathematischer Zugangsversuche. Abgesehen davon, daß selbst im Sinne der Produktivkraftdefinition in [PWB] Wissenschaft immer Produktivkraft war, wird mit einem solch eingeengten Verständnis die fundamentale Bedeutung der Eigenständigkeit der reflektorischen Leistung des Gesamtarbeiters nicht genügend berücksichtigt.

Zum Wert von Wissen

(75) In unseren bisherigen Ausführungen wurde deutlich, daß die für eine Vermittlung des Gegensatzes von Gesamt- und Individualarbeiter wichtige Bewertung von Reflexionsleistungen und Informationen allgemein sehr eigenwilligen Spielregeln folgt. Wir wollen deshalb an dieser Stelle einige Überlegungen zu einem solchen Bewertungsverfahren einschieben.

(76) Greifen wir wieder zuerst zu [PWB] und schlagen unter dem Stichwort "Wert" (Autor: W.P. Eichhorn) nach. Dort wird vor allem auf die bei Marx zentralen drei Aspekte des Wertbegriffs in Bezug auf Produkte menschlicher Arbeitstätigkeit hingewiesen,

(77) Die entscheidende Bedeutung, die jedem Bewertungsvorgang im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zukommt, liegt sicher im dritten Punkt: er soll ein objektives Maß zur Verfügung stellen, nach dem sich dieser Reproduktionsprozeß optimieren kann.

(78) Die herausragende Leistung von Marx liegt zweifellos darin, diesen werttransportierenden Mechanismus für den kapitalistischen Produktionsprozeß in den von ihm betrachteten Dimensionen sehr detailliert und schlüssig herauspräpariert zu haben. Für das an dieser Stelle vor allem wichtige Verhältnis von lebendiger und vergegenständlichter Arbeit wird ein rekursives Bewertungsverfahren beschrieben: Der in einer früheren Bewertung gefundene Wert der vergegenständlichten Arbeit wird durch den aktuellen Produktionsprozeß ganz (Arbeitsgegenstand, capital circulant) bzw. teilweise (Arbeitsmittel, capital fixe) auf das Produkt übertragen, welches dann, einschließlich der zu seiner Herstellung aufgewendeten lebendigen Arbeit, einer neuen Bewertung auf dem Markt unterzogen wird.

(79) Die Wertdifferenz als Ausdruck des Werts der neu vergegenständlichten Arbeit teilt sich dann auf in notwendige Arbeit und Mehrarbeit etc. Wert in diesem Sinne mißt vor allem die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Als Optimierungsmaß führt diese Art der Bewertung zum Gesetz von der Ökonomie der Zeit(10). Zeit ist auch zugleich das Maß, mit dem Arbeitskraft gemessen und nach dem sie bezahlt wird, wenn wir einmal die subtile Unterscheidung zwischen Lohn und Gehalt, zu der wir uns schon oben kurz geäußert hatten, außer acht lassen.

(80) Halten wir an dieser Stelle drei Dinge fest, ehe wir den Meister selbst zu Wort kommen lassen wollen: Zum einen hat diese Art rekursiver Bewertung Prozeß,charakter und ist damit wie jeder Prozeß an wohlbestimmte zeitliche Dimensionen gebunden. Für eine kapitalvermittelte Wertbestimmung wird diese ganz wesentlich durch die Zirkulationszeit von Kapital bestimmt, die, indirekt proportional in die Profitrate eingehend, mit der durchschnittlichen Zirkulationszeit einen Risikohorizont für Investitionen schafft, der nur durch genaue Marktprognosen, also wiederum Reflexionsleistungen, aufgeweitet werden kann. Das Bestreben, jegliche menschliche Arbeitsleistung dem kapitalistischen Verwertungsprozeß zu unterwerfen, ist aus dieser Perspektive ebenso verständlich wie zum Scheitern verurteilt, sobald die zu bewertende Arbeitsleistung sich in anderen raum-zeitlichen Dimensionen bewegt. In diesem Sinne steht bei Marx der Begriff "Produktionsprozeß" stets auch für Arbeit einer ganz bestimmten solchen Dimension, womit er nicht mehr generell als Synonym für "Arbeitsprozeß", besonders in dessen hier zu untersuchender Neudimensionierung, taugt. Weiter oben haben wir deshalb bereits vom Produktionsprozeß im engeren Sinne gesprochen.

(81) Zum zweiten ist eine realistische Bewertung gesellschaftlich notwendiger Arbeit auf dem Markt nur in Anwesenheit einer genügenden Anzahl voneinander unabhängiger Anbieter möglich. Die mit der Monopolpreisbildung verbundene Möglichkeit der Eigenbewertung von Arbeit führt regelmäßig dazu, daß sich der Eigentümer über den Gesamtarbeiter stellt und dieser andere Mechanismen (bis hin zu Kartellrecht und staatlichem Eingriff in das Preisbildungssystem) einsetzen muß, um dem Eigentümer gegenüber seinen Bestimmungsanspruch durchzusetzen.

(82) Diese Art der Aushöhlung der Bewertungsmechanismen ist aber im Wachsen begriffen. Einmal durch die mit der wachsenden Dimension des Arbeitsprozesses notwendigen Konzentration des Kapitals, womit sich die relative Selbständigkeit des Eigentümers gegenüber dem Gesamtarbeiter auf raum-zeitlich neuem Niveau reproduziert, ohne daß dabei effektive Instrumente der Durchsetzung von Fremdbestimmung in Aussicht stehen. Hier werden sicher zivilgesellschaftliche Strukturen, insbesondere die Installation von Gegenmächten, eine entscheidende Rolle spielen müssen.

(83) Zum anderen durch die, mit Outsourcing-Strategien vielfach über einen (Pseudo-)Markt vermittelte, weiter wachsende Spezialisierung und Arbeitsteilung im engeren Produktionsprozeß, die den Produzenten zunehmend in die Rolle eines Spezialisten versetzt und ihm erlaubt, in gewissen Rahmen dem Konsumenten seine Bedingungen zu diktieren(11). Preisbildung auf dieser Grundlage ist nicht mehr Aufwandsmaß, d.h. die Frage, zu welchem Minimalpreis die Ware auf den Markt gebracht werden kann, sondern Nutzenmaß, d.h. die Frage, zu welchem Preis sich (noch) Abnehmer finden(12).

(84) Und schließlich verlangt die marktwirtschaftliche Bewertung des geschaffenen Gebrauchswerts exklusive Verfügungsgewalt über das Produkt, um dessen Eingang als vergegenständlichter Wert in zukünftige Bewertungsverfahren zu ermöglichen. Einen solchen Übergang von an Eigentumsrechte gebundener Verfügungsgewalt kann man aber, wenigstens in seiner klassischen Form, wohl nur für materielle Produkte sichern.

(85) Dagegen kann es ein solches dingliches Eigentum an Wissen und allgemeiner Information nicht geben. Wissen hat stets den immanenten Drang in sich, Allgemeingut zu werden. Wissen hat in diesem Verständnis also in der Tat höchstens als an einen materiellen Gegenstand gebundenes "nützliches Wissen" die Chance bewertet zu werden und geht dann wie ein Arbeitsmittel in den Bewertungsprozeß ein. Genau wie das Maschinenprodukt mit jedem Exemplar ein Stück der (durchschnittlichen) Herstellungskosten der Maschine selbst davonträgt, tritt hier Wissen als ein Stück spezieller Produktivkraft auf. Für eine solche Einbeziehung muß man aber sichern, daß anderen dieselben durchschnittlichen Kosten für dasselbe Wissen entstehen: man muß die Taube auf dem eigenen Dachboden gefangenhalten, statt sie in die freie Welt fliegen zu lassen, und damit den Charakter des Wissens als allgemeine Produktivkraft, als gesamtgesellschaftliches Ereignis, vergewaltigen.

(86) Immanente Voraussetzung für die Einbeziehung von Wissen in die (marktwirtschaftliche) Bewertung ist also die Kontrolle über dessen Weitergabe, sprich Duplikation, in den Händen des Erzeugers. Er muß mit allen Mitteln verhindern, daß in Ansatz zu bringendes Wissen Allgemeingut wird. Urheberrechte, Patente und Lizensierungsverfahren sind die Folge, die Freizügigkeit von Wissen als eine seiner Grundfunktionalitäten wesentlich einschränken.

(87) Das Funktionieren des kapitalistischen Verwertungsprozesses für Wissen hat also rigorose Beschränkungen für dessen kommunikative Komponente zur Voraussetzung. Besonders kraß und absurd wird diese Frage, wenn Information selbst, wie zunehmend im Informationszeitalter gefordert, einer Bewertung unterliegt.

(88) Doch lassen wir Marx selbst zu Wort kommen. Mit Hinblick auf die sich im Rahmen der (ersten) industriellen Revolution abzeichnenden Entwicklungen heißt es bei ihm, seine gesamte bisherige ökonomische Theorie relativierend ([MGr, S. 592 ff.]):

In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie [...] Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr als in den Produktionsprozeß eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß selbst verhält.

(89) Die Bedeutung der strukturierenden Kraft, die diese Macht der Agentien erst für den Produktionsprozeß (hier ganz klar: im engeren Sinne) zähmt, wird deutlich erkannt; gleichwohl steht ihr der Autor ziemlich ratlos gegenüber, wenn es um Mechanismen geht, die in ihnen vergegenständlichte Reflexionsleistung zu bewerten. Die von ihm selbst unmittelbar vorher betrachteten Mechanismen eines capital fixe, die ja Arbeitszeitmaß sind, scheinen ihm jedenfalls dafür nicht auszureichen:

In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper -- in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.

(90) Wir sind damit wieder dort angekommen, wo wir bereits im Abschnitt 2.4 waren: Das individuell gebrochen reflexive Leistung des Gesamtarbeiters aufsaugende Arbeitsvermögen des Individualarbeiters als der entscheidende Grundpfeiler von Produktion (hier durchaus auch im weiteren Sinne), allerdings eben nicht nur einer besonderen Spezies von Individualarbeiter, der "gelehrten Personen", wie noch dort, sondern generell. Auch aus dieser Sicht löst sich die Trennung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zunehmend auf. Allerdings kann dieses Arbeitsvermögen nicht alleiniges Wertmaß sein, da es, wenn überhaupt meßbar, allein die potenziellen Fähigkeiten des Individualarbeiters auszudrücken vermag und damit nicht zum objektiven Maß zur Optimierung des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses taugt.

(91) Die hier aufgezeigte Konsequenz ist keineswegs die Vision einer kommunistischen Gesellschaft, auch wenn sie in vielem so klingen mag. Im Gegenteil, hier wird beschrieben, wie in einem gewissen Stadium der industriellen Revolution(13) der bestimmende Teil des gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozesses den raum-zeitlichen Rahmen des Produktionsprozesses im engeren Sinne sprengt und die reflektorische Komponente des Gesamtarbeiters eine Aufwertung zu dessen dominierender Komponente erfährt.

(92) Wir sind wieder bei der bereits im Abschnitt 2.5 im Konjunktiv diskutierten Formel "Wissenschaft als entscheidende Produktivkraft" und können den dortigen Ausführungen hinzufügen, daß eine derartige Verschiebung von Schwerpunkten auch eine Neudefinition von Bewertungsverfahren erfordert. Dabei wird auch das Gesetz von der Ökonomie der Zeit,

das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen,
durch ein allgemeineres zu ersetzen sein, das einen effektiv organisierten Produktionsprozeß im engeren Sinne in die Effektivierung des Produktionsprozesses im weiteren Sinne einzubetten vermag. Offen bleibt allein, wie dieses neue, übergreifende Wirkprinzip, nach dem die Arbeitsleistung des Individualarbeiters durch den Gesamtarbeiter zu bewerten ist, denn nun aussehen mag.

(93) Daß dieser Konjunktiv in Wirklichkeit Zielpunkt einer mit unbarmherziger Konsequenz aus der Kapitallogik folgenden Entwicklung ist, beschreibt Marx so:

Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch dadurch, daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren stört, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. [...] Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie aufgewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffenen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten.

(94) Deutlicher noch heißt es zu diesem Thema bei Kurz ([Kurz, S. 106]):

Trotz ihrer Zerstörungskraft gegenüber Mensch und Natur ist die Konkurrenzmaschine gleichzeitig negative Emanzipation, indem sie durch ihre ununterbrochene Produktivkraftentwicklung unvermeidlich bis an die Schwelle einer "Abschaffung der Arbeit" gelangt, d.h. der abstrakten, repetitiven, allein "wertproduktiven" Produktionsarbeit; damit hebt sie freilich auch ihren eigenen inneren Grund auf und macht sich selbst obsolet. Die inhaltliche Vernetzung der Reproduktion zu einem Gesamtsystem direkter Vergesellschaftung steht im Gegensatz zu den Warenkategorien, aber das zum Selbstzweck ausgeformte warenproduzierende System selbst ist es ja, das diese Verwissenschaftlichung und Vernetzung erst schafft und somit, bewußtlos seinem beschränkten, "sinnlosen" Zweck folgend, sein eigenes Gegenteil hervorbringt. Die Konkurrenz arbeitet, ohne es zu wissen und zu wollen, an der Zerstörung ihrer eigenen Grundlage.
Die Lösung dieser Wertkrise ist also, unabhängig von einer Transzendenz gesellschaftlicher Verhältnisse, immanentes Erfordernis, wenn man das oben beschriebene neue Abstraktionsniveau des Gesamtarbeiters erreichen will.

(95) Die skizzierten Entwicklungen stehen in einem eigentümlichen Verhältnis zu Vorstellungen von Arbeit im Sozialismus und Kommunismus, wie sie insbesondere im Umfeld der Diskussion um wissenschaftlich-technischen Fortschritt entwickelt wurden. G. Heyden etwa leitet unter dem Stichwort "Arbeit" in [PWB] aus den bisherigen Überlegungen folgende Vision einer sozialistischen und kommunistischen Zukunft ab:

Im Sozialismus und Kommunismus ist die Arbeit unmittelbar gesellschaftlich und nimmt in zunehmendem Maße wissenschaftlichen Charakter an, d.h. sie wandelt sich grundlegend, sie wird zur freien Arbeit freier Produzenten. "Die Arbeit der materiellen Produktion kann diesen Charakter nur erhalten dadurch, daß erstens ihr gesellschaftlicher Charakter gesetzt ist, zweitens, daß sie wissenschaftlichen Charakters, zugleich allgemeine Arbeit ist, nicht Anstrengung des Menschen als dressierte Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozeß nicht in bloß natürlicher, urwüchsiger Form, sondern als alle Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint."

Die schöpferische Arbeit der sozial gleichen und hochgebildeten Arbeiter kennzeichnet die zum ersten Lebensbedürfnis gewordene Arbeit im Kommunismus.

Die Frage der Vergesellschaftung der Produktion einmal außer acht gelassen(14), stimmt dieses Bild so genau mit den von uns mit Blick auf die Potenzierung menschlicher Geisteskraft primär aus dem Studium der Produktivkraftentwicklung gezogenen Schlußfolgerungen überein, daß sich sofort die Frage erhebt, ob nicht die im gesamtgesellschaftlichen Rahmen strukturelle Bewältigung dieses Produktivkraftschubs der eigentliche Kern einer sozialistischen Vision sein muß.

(96) Dies zeigt, daß die prognostizierten Inhalte dieser Vision durchaus ihre Berechtigung haben, während die daraus abgeleiteten Formen wohl gründlich zu überdenken sind. Kurz wird hier noch deutlicher ([Kurz, S. 289]):

Die Menschheit ist damit konfrontiert, daß sie durch die selbstgeschaffenen Produktivkräfte hinter ihrem Rücken auf der inhaltlich-stofflichen und "technischen" Ebene kommunistisch vergesellschaftet wurde. Dieser objektive Zustand ist mit den konträren Subjektformen an der gesellschaftlichen Oberfläche unvereinbar. Der vermeintlich gescheiterte Kommunismus, mit dem die Zusammenbruchsgesellschaften nachholender Modernisierung verwechselt wurden, ist weder Utopie noch ein fernes, nie zu erreichendes Ziel weit jenseits der Realität, sondern er ist schon da, er ist das Allernächstliegende in der Wirklichkeit selbst, freilich in verkehrter negativer Form innerhalb der kapitalistischen Hülle des warenproduzierenden Weltsystems: nämlich als verkehrter Kommunismus der Sachen, als globale Vernetzung des Inhalts der menschlichen Reproduktion; gesteuert jedoch durch die blinde und tautologische Selbstbewegungsstruktur des Geldes, die keinerlei sinnlicher Bedürfnislogik folgen kann [...]

(97) G. Klaus expliziert in [PWB] den visionären Gedanken dann noch wie folgt:

Die wissenschaftlich-technische Revolution schafft die reale technische Grundlage für einen grundlegenden Wandel im Charakter der Arbeit, die es den Menschen ermöglichen wird, eine neue Stellung im unmittelbaren Produktionsprozeß einzunehmen. [...] Das Ergebnis dieser Entwicklung wird darin bestehen, alle schwere körperliche Arbeit, die den menschlichen Organismus einer ständigen Überbelastung aussetzt, zu beseitigen, die schematische geistige Arbeit an Maschinen und Automaten zu übergeben und damit zugleich den unter antagonistischen gesellschaftlichen Bedingungen entstandenen und extrem verschärften Gegensatz zwischen vorwiegend körperlich und vorwiegend geistig arbeitenden Menschen zu überwinden.

Die sich im Verlauf der wissenschaftlich-technischen Revolution vollziehenden Veränderungen der menschlichen Arbeitstätigkeit bzw. die neue Stellung des Menschen im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß werden vor allem durch folgende Tendenzen gekennzeichnet: Je mehr der Produzent aufhört, Bestandteil technischer Aggregate zu sein, desto mehr wird er schöpferischer Planer und Lenker der Produktionsprozesse. Entsprechend der veränderten Tätigkeit ist eine stärkere Disponibilität der Arbeiter notwendig, verändern sich auch die Berufe, die Berufsstrukturen und die Arbeitsteilung. Und nicht nur eine höhere Spezial- und Allgemeinbildung ist erforderlich, sondern -- angesichts der Komplexität der Prozesse, in denen der Mensch sich auskennen muß, um sie erfolgreich ausführen, planen und leiten zu können -- auch größere Disziplin (! vgl. zur "freien Arbeit freier Produzenten" -- HGG), neue moralische Qualitäten, die Fähigkeit, schöpferisches Glied bzw. Leiter eines bewußt organisierten Arbeitskollektivs zu sein, müssen entwickelt werden.

(98) Diese Ausführungen verbinden nun erstmals (in diesem Text) die bisher im Konjunktiv bzw. Imperativ vorgebrachten Visionen eines tiefgreifenden Umbruchs der Arbeitsgesellschaft mit einem konkreter zeitlich terminierten technologischen Umbruch. Nehmen wir dies deshalb hier als eine Art Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen und untersuchen im nächsten Kapitel genauer, welche der prognostizierten Elemente des Umbruchs der Arbeitsgesellschaft sich dabei bereits abzeichnen.

Die zweite industrielle Revolution

(99) Wir wollen im folgenden versuchen, wichtige Aspekte des derzeit ablaufenden grundlegenden technologischen Umbruch, der zweiten industriellen Revolution(15), zu charakterisieren. Ein solcher läßt sich oft an einem Sprung in der technologisch beherrschbaren mittleren Energiedichte erkennen. In diesem Sinne steht die Mikroelektronik und die Miniaturisierung technischer Artefakte im Mittelpunkt der zu diskutierenden Entwicklungen.

(100) Die Möglichkeit, auf dieser technologischen Basis auch Informationen auf eine vollkommen neue Art und Weise zu erschließen, festzuhalten und zu verarbeiten ist eine wichtige, aber nicht die zentrale Konsequenz; wir werden auf diesen Aspekt hier nicht näher eingehen. Die zentrale hier zu ziehende Schlußfolgerung besteht darin, daß mit diesen neuen technischen Artefakten menschliche Reflexionsleistungen einer neuen raum-zeitlichen Dimension in Theorien, Produkten, Strukturen etc. vergegenständlicht werden können und damit für den Alltag zur Verfügung stehen.

(101) Sinn dieser Vergegenständlichung von Reflexionsleistungen ist es, die aus der detaillierten Analyse in der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse in komprimierter Form in den Informationsraum einzubringen und damit gesamtgesellschaftlich verfügbar zu machen, d.h. jedermann, auch dem, der gar nicht in der Lage ist, diese Analyse selbst vorzunehmen, zur erschließen.

(102) Allerdings ist diese Nutzung nicht zum Nulltarif möglich: der Nutzer muß wenigstens die Spezifikation des zu nutzenden Produkts begreifen (können). Er muß nicht nur wissen, wozu man das Produkt verwenden kann, sondern auch, wie dies zu geschehen hat, d.h. welche Mechanismen zu welchem Zweck in Gang zu setzen sind und welche Folgen dies hat. Erst vor diesem ebenfalls wachsenden gesamtgesellschaftlichen kommunikativen Hintergrund ist ein technologischer Durchbruch in eine neue Dimension möglich.

(103) Kurz gesagt, die in der wachsenden Rolle technischer Artefakte einer neuen Reflexionsdimension begründete höhere Komplexität der Struktur des Informationsraums verlangt von jedem Individualarbeiter auch eine neue Dimension der eigenen Bildung. Kreschnaks Optimismus

Heute lassen sich Erkenntnisse und Mittel der modernen Logik und Mathematik so zum Modellieren von Entscheidungsprozessen und zur Entscheidungsvorbereitung mit Hilfe leistungsfähiger Computer nutzen, daß Menschen mit normaler Bildung und ohne sonderliche Spezialkenntnisse immer besser solche Mechanismen überblicken können [...]
enthält einen sehr gefährlichen Trugschluß: Er mißt gestrigen Reflexionsbedarf mit der Elle morgiger Technik.

(104) Gerade die Diskussion zur Technologiefolgenabschätzung streicht den ungeheuer gewachsenen Kompetenzbedarf auch außerhalb enger Fachkreise heraus, um qualifiziert Entscheidungen entsprechend ihrer Tragweite fällen zu können. Dieser Kompetenzbedarf ist mittlerweilen so groß, daß zunehmend einzelne Menschen gar nicht mehr in der Lage sind, diese aufzubringen und damit Sachentscheidungen entsprechenden Entscheidungsstrukturen übertragen werden. Daß bei der dabei notwendig wachsenden Kommunikation die oben genannten Werkzeuge eine wichtige innovative Rolle spielen, steht allerdings außer Frage.

(105) Der mit der ersten industriellen Revolution bereits sprunghaft gewachsene Allgemeinbildungsbedarf, der durch die Einführung und staatliche (also gesamtgesellschaftliche) Absicherung der Schulpflicht bedient wurde, erfährt damit eine neue Dimension, auf die noch keine adäquate strukturelle Reaktion in Sicht ist. Im Gegenteil, eine aus kurzfristigen Erwägungen heraus betriebene rigide Sparpolitik greift hier Zukunftsreserven in einem Umfang an, der wohl mit dem ökologischen Raubbau durchaus auf eine Stufe gestellt werden kann.

(106) Mehr noch ändert sich auch das Berufsbild selbst klassischer "einfacher" Berufe grundlegend, da die Beherrschung entsprechender neuer technischer Artefakte zur Berufsausübung notwendig wird. Dies bezieht sich auf den kleinen Handwerker genauso wie auf den Facharbeiter in einem großen Unternehmen (zu dessen Berufsbild heute oft ein so umfangreiches technisches Wissen gehört, daß die Grenzen zum Ingenieur sich immer mehr verwischen) oder die Sekretärin, die als einfache Schreibkraft zunehmend ausstirbt, nachdem Texterfassungs- und Kopiersysteme das Zusammenstellen und insbesondere Vervielfältigen von Informationen grundlegend vereinfacht haben.

(107) Die Einbeziehung des aktorisch-produktiv tätigen "Normalarbeiters" in den modernen Produktionsprozeß hat also heute die Aneignung vergangener Reflexionsleistungen in einem solchen Maße zur Voraussetzung, daß sich die Grenzen zwischen körperlicher und geistiger Arbeit zunehmend verwischen. Dabei wachsen oftmals nicht nur die Anforderungen an die in die Berufsausübung einzubringenden Kenntnisse und Fertigkeiten, sondern auch ganz neue soziale Kompetenzen (Teamarbeit, Eigenverantwortlichkeit etc.) sind gefragt.

(108) Es bleibt mit [Schubert] zu konstatieren(16):

Wir erleben derzeit, wenn auch durch aktuelle krisenerscheinungen überdeckt, wie die produzenten aus ihren handwerklich präformierten arbeitsprozessen herausgerissen werden und ihre arbeitskraft fürs kapital nur noch gebrauchswert hat, wenn in ihr die "allgemeine produktivkraft", das "gesellschaftliche gehirn" (Marx) angeeignet ist.

Zwischen produzent und arbeitsprozeß schiebt sich gleichsam eine numerische datenwand, während sich der arbeitsprozeß enthierarchisiert. Neben sauberkeit, fleiß, ordnung und pünktlichkeit treten neue schlüsselqualifikationen, wie sie etwa in den ende der 80er jahre reformierten berufsbildungsplänen formuliert wurden (koordinierungsfähigkeit, abstraktionsfähigkeit, selbstkritikfähigkeit, teamfähigkeit usw.). Solange der kapitalistisch organisierte arbeits- und verwertungsprozeß fordistisch daherkam und nach taylors betriebswirtschaftlichem vernutzungskonzept hand- und kopfarbeit trennte und in entsprechende unterordnungsverhältnisse preßte, war die arbeitskraft durch eine ständisch gegliederte schule darauf prima vorbereitet, in der erziehung und bildung nach dem muster einer kadettenanstalt verabreicht wurde. Heute dagegen zeichnet sich ab, daß die mentalität eines katzbuckelnden werktätigen fürs moderne kapital keine vernutzungsqualität mehr besitzt.

(109) Daß dieser neue, viel intensiver in einen stark enthierarchisierten Arbeitsprozeß einbezogene Arbeiter damit, wie in [PWB] behauptet und in [Kreschnak] repliziert,

[...] aufhört, Akteur innerhalb des Produktionsprozesses zu sein, [...] sich diesem Prozeß in dieser oder jener Weise zu unterwerfen [...] und statt dessen neben ihn tritt und so Kopf und Hände freibekommt,
ist allerdings nur für den Produktionsprozeß im engeren Sinne richtig. Zugleich besteht ein zunehmender Druck auf den Arbeiter, zur Reproduktion seiner "Vernutzungsqualität" den freien Kopf mit Wissen vollzustopfen und sich so die reflektorische Leistung des Gesamtarbeiters stets von neuem anzueignen. Da dies individuell sehr unterschiedlich geschieht und überdies im Laufe des Aneignungsprozesses eine vielfache Brechung erfährt, entsteht eine Vielzahl sehr verschiedener Individualarbeiter, die für unterschiedliche Produktionsprozesse von sehr verschiedenem Nutzen sind.

(110) Die sehr unterschiedliche individuelle Kompetenz, die aus dieser individuell verschiedenen Aneignung der Kompetenz des Gesamtarbeiters resultiert, führt zum einen zu einer wachsenden Individualisierung und Spezialisierung und rückt zum anderen die kommunikativen Aspekte der Gesellschaft weit mehr in den Vordergrund als bisher.

(111) Die zunehmende individuelle Unvergleichbarkeit der Individualarbeiter entzieht zugleich einer objektiven marktwirtschaftlichen Bewertung von Aufwand-Nutzen-Verhältnissen zunehmend die Grundlage. Ein abstraktes, für alle gültiges Maß durchschnittlich aufgewandter Arbeitszeit ohne Berücksichtigung von Zwecksetzung und bereits vorhandener individueller Kompetenz, wie es noch für den fordistisch "dressierten Gorilla" zur Anwendung kommen konnte, wird vom Stand der Produktivkräfte zunehmend überrollt, auch wenn das neue Maß, der subjektive direkte Aufwand-Nutzen-Vergleich, noch in der alten Geldform daherkommt und von dieser vielfach deformiert wird.

(112) In diesen Zusammenhang ist wohl auch eher die in [Kreschnak] konstatierte Zunahme unternehmerischer Elemente im Individualarbeitsprozeß zu stellen, ob nun im Rahmen von "team work", "outsourcing" oder Objektlohn. Selbst die dabei in Größenordnungen entstehenden prekären Unternehmensverhältnisse fiktiv "Selbständiger" haben den Dinosauriern der Marktwirtschaft eines (wieder) voraus: Sie produzieren Gebrauchswerte, die auch ohne Marktvermittlung noch einen Wert hätten und, den Erhalt der lokalen Infrastruktur vorausgesetzt, den von [Kurz] vorausgesagten Marktzusammenbruch überstehen könnten(17).

(113) Jedenfalls rückt hier bereits in der Warenwirtschaft wieder der Nutzen in den Vordergrund, den das Ergebnis eines mit der spezifischen individuellen Kompetenz des Auftragnehmers organisierten Arbeitsprozesses für den Auftraggeber hat.

(114) Zugleich wird auch für den Unternehmer zur Produktion und Aneignung von Mehrwert, die Schubertsche Sentenz differenzierend, nicht allgemeine Arbeitskraft, sondern nur noch Arbeitskraft mit spezieller Kompetenz von Interesse. Die damit einhergehende Segmentierung des "Arbeitsmarkts" geht allerdings weit über die arbeitsamtlich getroffene hinaus. Die Navigation auf diesem Markt wird zunehmend schwierig; eine Marktlücke, die inzwischen selbst als profitables privatwirtschaftliches Betätigungsfeld entdeckt wurde. Eine entsprechende Selbstvermarktung nicht der eigenen Arbeitskraft, sondern der eigenen Kompetenz dürfte auch die heute noch strikten Grenzen zwischen Arbeits- und Unternehmertätigkeit in allernächster Zeit verwischen.

(115) Andererseits führt der massive Einsatz neuer vergegenständlichter Reflexionsleistungen zu einer sprunghaften Effektivierung des Reproduktionsprozesses in seinen bisherigen Dimensionen. Dies bezieht sich sowohl auf den Prozeß der materiellen Produktion selbst (Einsatz neuer Wirkprinzipien und Materialien, Automatisierung) als auch auf seine Organisationsformen, wo mit "lean production", "outsourcing" und "just in time" versucht wird, materielle durch organisatorische Reserven zu ersetzen und zu externalisieren. Dies ist Ausdruck des wohl fundamentalsten Bewegungsgesetzes komplexer Systeme, der Entwicklung in Richtung größtmöglicher Effektivität, und liegt, auf den kapitalistischen Austauschprozeß bezogen, der von Marx beschriebenen tendentiell sinkenden Profitrate zu Grunde.

(116) In dieser Gesetzmäßigkeit ist auch die Hauptursache für die ständig steigende Massenarbeitslosigkeit zu sehen: der mit der fordistischen Massenproduktion versuchte Ausgleich der tendentiell sinkenden Profitrate durch ein steigendes Produktionsvolumen hat ein Sättigungsniveau erreicht, das zu überschreiten sowohl aus ökologischer als auch innerkapitalistischer Räson nicht möglich sein wird.

(117) Diese Tendenz des ständig abnehmenden Arbeitsvolumens bisherigen Außmaßes ist aber eine aus der Produktivkraftentwicklung resultierende Konsequenz, den sich nach einer gewissen Reifezeit stabilisierenden erforderlichen Reproduktionsbedarf in der entsprechenden raum-zeitlichen Dimension effektiver, also mit immer weniger Ressourcen bewältigen zu können. Dies setzt zugleich voraus, daß die dafür notwendigen Reproduktionsbedingungen stabilisiert werden, die für den betrachteten Wirkzusammenhang als Infrastrukturleistungen erscheinen.

(118) Es werden also auf der einen Seite zunehmend Ressourcen frei, die nicht mehr in den Produktionsprozeß im engeren Sinne einbezogen werden können, während es auf der anderen Seite einen wachsenden Reflexionsbedarf der nächsthöheren raum-zeitlichen Dimension zu befriedigen gilt, der im Zusammenhang mit Fragen der Stabilisierung der Bedingungen für diesen Produktionsprozeß im engeren Sinne entsteht.

(119) Diesen Umstieg zu bewältigen ist eine dringliche Aufgabe moderner Industrienationen unabhängig von der Organisation ihrer gesellschaftlichen Beziehungen. Die in [Kurz] trefflich beschriebenen Parallelen der Mechanismen realsozialistischer und fordistischer Produktionsprinzipien zeigen zum einen, wie stark produktivkraftdeterminiert diese strukturbildenden Prozesse offensichtlich sind, weisen andererseits aber auch noch einmal darauf hin, daß die "realsozialistischen" Gesellschaftsstrukturen Antwort auf die falsche Frage gaben.

(120) Wir sind damit also in der Tat am Ende der klassischen, marktwirtschaftlich regelbare raum-zeitliche Zusammenhänge erfassenden Arbeitsgesellschaft angekommen. Aber weder im Sinne ihrer Apologeten noch ihrer Fundamentalkritiker. Gegenstand der umfassenderen Reflexionsprozesse, auf deren Bewältigung gesamtgesellschaftlich Ressourcen in Größenordnungen konzentriert werden müssen, sind u.a. auch Fragen der weiteren Effektivierung des marktwirtschaftlich strukturierten Teils des materiellen Reproduktionsprozesses, der damit nicht abzuschaffen, sondern in umfassendere, zivilgesellschaftliche Strukturen einzubetten ist.

(121) Eine wichtige Rolle werden dabei (alte, zu reorganisierende und neu zu bildende) gemeinschaftliche Strukturen entsprechend strategischer Ausrichtung spielen müssen, also vor allem die legislativen und juridikativen Elemente des Rechtsstaats, in die die sich auf demselben raum-zeitlichen Niveau wie die marktwirtschaftlichen Strukturen bewegenden exekutiven Elemente ebenfalls eingebettet sind. Eine klare Zweiteilung des Staatsbegriffes würde manche heute zu beobachtende Deformation deutlicher hervortreten lassen(18) und die Theorie des absterbenden Staates, die ja auch in der Zivilgesellschaftsdiskussion eine wichtige Rolle spielt, vom Kopf auf die Füße stellen.

Schluß

(122) Kurz beendet seine Analyse mit der Prognose des unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs der warenproduzierenden Gesellschaft auch in den Metropolen der ersten Welt. Er zeichnet ein Feuerwerk von Schlußakkorden, die den Krach derselben in der Dritten und Zweiten Welt an Fulminanz noch überbieten werden, die Vision eines

dunklen Zeitalters von Chaos und Zerfall gesellschaftlicher Strukturen
beschwörend, ehe der Vorhang fällt und die warenproduzierende Gesellschaft endgültig von der Bühne abtritt.

(123) Wenn er auch seine Aussage relativiert(19), so verläßt Kurz hier trotzdem die strenge Logik seiner restlichen Ausführungen: Während der Süden und Osten noch nicht so weit waren, die warenproduzierende Gesellschaft (ich füge hinzu: aus eigener Kraft) hinter sich zu lassen, konstatiert Kurz für den Westen bereits einen

Kommunismus der Sachen, die globale Vernetzung des Inhalts der menschlichen Reproduktion [...]
als, wenn nicht schon erreicht, so unmittelbar vor der Türe stehend.

(124) Es erhebt sich die Frage, ob nach dem (unter privatkapitalistischen Verhältnissen) endgültigen Scheitern der nachholenden Modernisierung in der Zweiten und Dritten Welt nicht die Weiterentwicklung menschlicher Sozialisationsstrukturen auf der Basis des in den führenden Industrienationen erreichten Produktivkraftniveaus als Initialzündung auch für den Rest der Welt als nunmehr einzig denkbare Grundlage für eine Bewältigung der Megakrise bleibt. Einer Bewältigung nicht primär als Zerbrechen der warenproduzierenden Grundlagen dieser Gesellschaft wie bei Kurz, sondern eher in Form des Schmetterlings, der seinen eigenen Kokon sprengt, damit alles vorherige positiv aufhebend. Eine solche Lösung würde jedenfalls der Logik unserer Ausführungen mehr entsprechen.

(125) Wenn es denn wirklich so sein sollte, da" s dies die einzige und letzte Chance ist, aus der Megakrise der menschlichen Vergesellschaftung herauszukommen, dann hat die Linke des Westens hier eine sehr spezifische Aufgabe zu erfüllen, die weit über die Besitzstandswahrung, mit der wir die Einleitung abgeschlossen hatten, hinausreicht.

Literatur

(126)

DDH
C. Davidson, I. Handler, J. Harris: Verheißung und Gefahr der dritten Welle -- Sozialismus und Demokratie im 21. Jahrhundert. Übersetzung in: Schriftenreihe der PDS-Fraktion im sächsischen Landtag 1/1995.
Fl
P. Fleißner: Arbeit -- Wert -- Reichtum. Manuskript, TU Wien 19.5.95.
Gräbe
H.-G. Gräbe: Die Bildungskrise am Ende der Arbeitsgesellschaft. Manuskript 1995.
Jagoda
B. Jagoda: Studium und Arbeitsmarkt. Forschung & Lehre 8.95, 431 - 435.
Jantsch
E. Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums. Hanser, 1992.
Kreschnak
H. Kreschnak: Sachsen und der Übergang vom Industrie- zum Informationskaptalismus. Schriftenreihe der PDS-Fraktion im sächsischen Landtag 4/1995.
Kurz
R. Kurz: Der Kollaps der Modernisierung. Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1991. Zitiert nach der Ausgabe Reclam, Leipzig 1994.
MGr
K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Dietz Verlag Berlin 1953.
PWB
Philosophisches Wörterbuch (Hrg. Georg Klaus, Manfred Buhr). 10., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Bibliographisches Institut Leipzig, 1974.
Rauner
F. Rauner: Innovation und Qualifikation als Standortfaktor aus globaler und regionaler Sicht.
Wissenschaftsnotizen 8, Mai 1995, herausgegeben vom Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie, 16 - 18.
Schubert
K.-H. Schubert: Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung/ Thesen zur zukunft der (staats-)schule. Zukunftswerkstatt Schule 8 (1994).
Herausgegeben von der AG Bildungspolitik der PDS.
Teichmann
H. Teichmann: Zum Wert und Preis von Information. Z. f. Betriebswirtschaft 43 (1973), 373 - 390.
Weizenbaum
J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt 1978.

Fußnoten

(127)

1
Längere Zitate sind im folgenden stets kursiv und eingerückt eingefügt.

(128)

2
Und auch von anderen nicht unwidersprochen hingenommen worden ist, vgl. Utopie Kreativ Heft 61, S. 93-94.

(129)

3
Dies ist Gegenstand des Moderne-Diskurses im PDS-Umfeld, der seinerseits bekanntlich von einem stärker kapitalismuskritisch orientierten Flügel in Gänze vehement attakiert wird. Vgl. verschiedene Beiträge im ND-Forum von G.Branstner und H.Jung sowie A.Bries detaillierte Erwiderung in Utopie Kreativ, Heft 61, S.56-64.

(130)

4
Dies legt die Anwendung systemtheoretischer Konzepte im Sinne etwa von [Jantsch] zur Reflexion der entsprechenden Strukturen nahe; allerdings kann man dann nicht von Kontrahenten sprechen, da der Mensch vornehmlich agiert, die Natur aber reagiert. Somit spielt die Natur hier eher die Rolle der das System konstituierenden Entitäten, die menschliche Tätigkeit die der die Systeminteraktionen vermittelnden Prozesse. Ein solches Verständnis kommt dem menschlichen Reflexionsbedarf ziemlich nahe, der ja in seiner Arbeitstätigkeit gerade so weit als möglich von (irrelevanten) Naturprozessen abstrahieren möchte und dies auch oft genug bis über die Grenze des Zulässigen tut. Dieser zweifellos interessante methodologische Ansatz soll hier nicht weiter verfolgt werden. Für einige allgemeine Überlegungen in diese Richtung sei auf [Gräbe] verwiesen.

(131)

5
Hier ist dieses von den Marx-Jüngern geliebte Wort wirklich angebracht.

(132)

6
Ganz so einfach ist es natürlich nicht, denn die an den Träger des verwendeten Wissens bezahlten erhöhten Lohnkosten, die aus dessen höherem Aufwand für die Reproduktion seiner eigener Arbeitskraft resultieren, schlagen natürlich zu Buche. Gleichwohl bleibt die wissenschaftliche Leistung selbst sofern sie nicht durch spezielle Vorkehrungen gesichert ist, ökonomisch vollkommen außer Ansatz.

(133)

7
Allerdings ist eine solche Alimentation auch heute keineswegs so ungewöhnlich und nur auf Geistesarbeiter beschränkt, wie man vielleicht auf den ersten Blick denken mag. Sieht man sich Sponsoring von Kunst, Leistungssport, aber auch von Vereinstätigkeit, speziellen Projekten und anderem Gemeinnutz usw. an, so mag man dahinter schon einen zivilgesellschaftlichen Mechanismus der partiellen Umverteilung von gesellschaftlichem Arbeitsvermögen vermuten.

(134)

8
Wobei selbst das dabei angewandte Tarif- bzw. Besoldungsrecht sich an dem (unterstellten) Arbeitsvermögen und nicht der Arbeitsleistung orientiert.

(135)

9
[Rauner] weist darauf hin, daß es sich bei dieser Art der beruflich orientierten Vorbereitung des Individualarbeiters um eine typisch europäische handelt, die im Gegensatz zur amerikanischen oder japanischen betriebsorientierten Vorbereitung steht und führt gute Gründe an, dies beizubehalten. Der Ruf nach staatlicher Alimentierung ist bei ersterer naturgemäß stärker.

(136)

10
Wir wollen dies hier als Fußnote deutlich hervorheben: Dieses Gesetz gilt nur so lange, so lange Bewertung auf der Arbeitszeit als Maß beruht. Davon unberührt ist allerdings die generelle Aussage, daß
die gesamte Wirkung des G. darauf abzielt, die sich ständig entwickelnden gesellschaftlichen produktiven und nichtproduktiven Bedürfnisse (welch pikante Unterscheidung ! -- HGG) mit dem geringstmöglichen gesellschaftlichen Aufwand zu befriedigen. (In Ermangelung eines entsprechenden Stichworts in [PWB] aus dem Polit. Wörterbuch 1973)
Ein anderes Wertmaß führt zu anderen Bewegungsformen dieses allgemeinen Optimierungsprinzips.

(137)

11
Natürlich wird das ganz wesentlich von im marktwirtschaftlichen Sinne ja eigentlich nicht bestehender Subalternität zwischen Produzent und Konsument aufgehoben, die insbesondere für durch Outsourcing massenhaft entstehende prekäre Unternehmensverhältnisse nicht in Abrede gestellt werden soll.

(138)

12
Ähnliches wird in [Teichmann] für die Bewertung von Information beschrieben. Dort wird zugleich darauf verwiesen, daß ein solches Maß subjektiver und nicht objektiver Natur ist.

(139)

13
Hier war Marx wohl, den Zeitrahmen für eine derartige Entwicklung prognostizierend, zu optimistisch; erst die jetzt einsetzende zweite Etappe der industriellen Revolution, die Potenzierung menschlicher Geisteskraft, führt die Prämissen dieser Entwicklung endgültig in den gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsprozeß ein, wie wir noch sehen werden.

(140)

14
Es ist allerdings fraglich, ob "gesellschaftlicher Charakter" (wohl außerdem von Arbeit) automatisch Vergesellschaftung der Produktionsmittel im klassischen Sinne bedeutet oder nicht vielmehr nur auf den raum-zeitlichen Rahmen abzielt, in dem sich dabei Produktion als Prozeß abspielt.

(141)

15
Im Rahmen der Diskussion um die Informationsgesellschaft ist dies allerdings bereits die "dritte Welle", denn sie wird in eine Reihe gestellt mit der landwirtschaftlichen Revolution, da der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht ebenfalls einen ungeheuren Produktivkraftzuwachs mit sich gebracht hatte. Es gibt begründete Anzeichen, daß im Hinblick auf die Tiefe des Einschnitts in gesellschaftliche Strukturen die zweite industrielle Revolution in der Tat eher mit dieser als der ersten industriellen Revolution auf eine Stufe zu stellen ist, vgl. [DHH].

(142)

16
Dieser Trend wird auch durch mittelfristige Arbeitsmarktprognosen wie etwa [Jagoda] bestätigt.

(143)

17
Es wäre einmal interessant, das Schicksal dieser Strukturen in der zusammengebrochenen zweiten Welt zu untersuchen. Selbst zu "guten alten" realsozialistischen Zeiten hatten ja private Bartergeschäfte, damals wegen der Fiktivität des Aluminiumgeldes, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.

(144)

18
Ich möchte nur auf die enge, oft auch personelle Verquickung von Management, Exekutive und manchen Politikern hinweisen, was die zivilgesellschaftlichen Funktionen des Rechtsstaats, insbesondere in dessen Rolle im ersten Abschnitt der Kette "Gesamtarbeiter -- Eigentümer -- Individualarbeiter", massiv in Frage stellt und, theoretisch völlig widersinning, oft die Exekutive faktisch über die Legislative stellt.

(145)

19
Freilich wird der Zusammenbruch des Westens und damit der letzten Insel von scheinbarer Normalität nicht einfach die Krisen des Südens und Ostens wiederholen, so grausam diese auch sein mögen. Denn die künstlich prolongierte kapitalistische Normalität innerhalb der OECD hat ja ihren Abglanz auch auf die bisherigen postkatastrophalen Gesellschaften geworfen, nicht nur ideologisch in den irrationalen Prosperitätshoffnungen und Modellwechsel-Ambitionen, sondern auch real in Form monetärer Infusionen und "Blutkonserven" [...]

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