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Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft

Maintainer: Hans-Gert Gräbe, Version 2, 25.04.2005
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Vorbemerkungen

(1)

Fragen von Wissen und Bildung spielen für ein "selbstbestimmtes Leben, beruhend auf der Teilhabe aller an den entscheidenden Bedingungen der Freiheit des Einzelnen, sozialer Sicherheit und solidarischem Handeln" (Agenda Sozial der PDS) eine zentrale Rolle. Dass es damit (auch) in Deutschland nicht zum Besten bestellt ist hat nicht zuletzt die aktuelle PISA-Studie gezeigt. Gleichwohl wird die Hektik und oberflächliche Betriebsamkeit, welche damit im bildungspolitischen Lager ausgelöst wurde, der Situation in keiner Weise gerecht.

(1.1) Re: Vorbemerkungen, 11.05.2005, 16:34, Wolfgang Schallehn: Zu vielen Thesen möchte ich weitgehende bis völlige Zustimmung äußern, ohne sie zu „kommentieren“.
Technischer Vorschlag: siehe Kommentar zu den „Regeln“!

(1.1.1) 08.06.2005, 16:44, Hans-Gert Gräbe: Ich beschränke mich in meiner Antwort mal auf die Thesen selbst.

(2)

Die V. Rosa-Luxemburg-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen will zum Nachdenken anregen über die vielfältigen Fäden, mit denen Wissen und Bildung in den Umbrüchen unserer Zeit präsent und verstrickt ist. Wir wollen den Bogen spannen über Anspruch, Realität und Utopie und der subtilen Sprengkraft gemeinsamen Handelns denkender Menschen nachspüren.

(2.1) 11.05.2005, 16:35, Wolfgang Schallehn: „Nachdenken über ...vielfältige Fäden“ und „Bogen spannen“ bis zur „subtilen Sprengkraft“ ist mir zu wenig.
Die „!Gestaltungskraft gemeinsamen Handelns denkender Menschen“ sollte doch wohl der zentrale Orientierungspunkt einer solchen Initiative sein – auch gerade weil das Gestalten einer lebenswerten Zukunft momenten so unendlich schwierig erscheint. (s.a. die Bem. zu These 6)

(3)

Wir möchten dabei die Bedeutung von Wissen und Bildung für eine demokratisch-sozialistische Politik, die enge Verzahnung mit Fragen der Nachhaltigkeit und der Selbstbestimmtheit, in einer solchen Breite in den Blick bekommen, welche den heutigen gesellschaftlichen Umbrüchen angemessen ist.

(3.1) 11.05.2005, 16:36, Wolfgang Schallehn: Um „den heutigen Umbrüchen angemessen“ zu sein, müsste wohl gezielt durchforstet werden, welche Blickrichtungen, welche Fachgebiete ... bislang vernachlässigt, unterschätzt ... werden.
Meines Erachtens hat z.B. die Entwicklungspsychologie (nur in These 41 angedeutet, aber kaum erkennbar) eine absolut unverzichtbare Bedeutung für die Herausbildung eines „homo democraticus“.
Ähnliches gilt für die materialistische Dialektik (in der DDR propagiert, aber in praxi grausig verbogen) und für das Projektmanagement (in der DDR verpönt, aber für eine Planwirtschaft unentbehrlich, und ebenso für Bildungs- und Wissensprojekte).
Zugegeben: dies wären eigene ot-Projekte – aber der Zusammenhang ist wichtig.

(4)

Die folgenden Thesen sind zu dieser Konferenz vorab im Entwurf veröffentlicht und diskutiert worden. Mit Blick auf die Komplexität des Themas können viele Ansätze nur angedeutet und durch Referenzen auf andere Publikationen untersetzt werden. Ein weiteres, für Linke gelegentlich essentielles Defizit sei vorab benannt: Die Kritik der bestehenden Verhältnisse auch im Kleinen kommt oft zu kurz. Hier geht es mehr darum, den Keimen des Neuen im Schoße des Alten nachzuspüren, zu sehen, wie sich "die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit setzen, die sich bereits im Schoß der ... Bourgeoisiegesellschaft entwickelt haben" (MEW 17, S. 343), dabei die Ambivalenz heutiger Entwicklungen festzustellen und zu vermeiden, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

(4.1) 11.05.2005, 16:37, Wolfgang Schallehn: Diese „Keime des Neuen“ aufzuspüren ist wohl eine der wichtigsten aktuellen Aufgaben – auch und gerade im Bereich Wissen und Bildung.

Die Gefahren unserer Zeit

(5)

1) Das "kurze 20. Jahrhundert" des "gesetzmäßigen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus" ist mit dem Untergang des realsozialistischen Gesellschaftsentwurfs zu Ende gegangen. Geschichte hat sich als längst nicht so eindimensional mechanistisch ablaufend erwiesen wie angenommen. In der Fülle der Versuche, das Unvorhergesehene wenigstens im Nachhinein zu begreifen, wird eine Dimension selten berücksichtigt: Dieses Scheitern war auch ein Scheitern des Versuchs, den Geist zu beschwören und zugleich den kritischen Geist zu bannen.

(5.1) Re: Die Gefahren unserer Zeit, 11.05.2005, 16:38, Wolfgang Schallehn: Scheitern musste der Versuch, aus einer vermeintlichen historischen Gesetzmäßigkeit bestimmen zu wollen, was Wissenschaft ist. Das „Bannen des kritischen Geistes“ führte zu einem völligen Verlust von Streitkultur – woran die Linke nach wie vor krankt.
So wurden die „Widersprüche als Triebkräfte der Entwicklung“ für die eigene Entwicklung fatalerweise abgeschafft (siehe Bem. Zu These 3!)
Streitkultur müsste wohl Kernthema eines Projektes „Wissen und Bildung“ sein?!

(6)

Das übriggebliebene System als Sieger zu bezeichnen oder gar vom "Ende der Geschichte" zu sprechen verbietet sich angesichts der aufgehäuften Probleme unserer Zeit von selbst.

(6.1) 11.05.2005, 16:39, Wolfgang Schallehn: Nanu?? Was verbietet sich?? ((Ich meckere nur die Formulierung an, nicht den Sinn!))
Das übriggebliebene System ist doch z.Zt. unbestreitbar „der Sieger“!
Muss nicht gerade angesichts der angehäuften Probleme immer wieder darüber gesprochen werden, dass dieser Sieger auf eine globale Zerstörung von Zivilisation (Bildung!) und Ökosystem zusteuert?!
Muss nicht immer wieder betont werden, dass damit ein katastrophales „Ende der Geschichte“ droht, welches nur mit einer gewaltigen Anstrengung aller „denkenden Menschen“ abgewendet werden kann?

(7)

2) Der Gedanke, Gesellschaft ließe sich entwerfen und steuern wie eine Maschine, ist ein Kind des "langen 20. Jahrhunderts", in welchem die Menschen durch Entwicklung von Wissenschaft und Technik ihr Denkorgan als sechstes Sinnesorgan, die Fähigkeit zur Nutzung instrumenteller Vernunft, in einem Umfang entfalteten, der Vergleichbares nicht kennt seit jenem Tag im Paradies, als "die Augen aufgetan waren". Die damit verbundene Erweiterung der Sinnes- und Handlungsmöglichkeiten der Menschheit vermittelt ein Gefühl der Allmacht, der Entgrenzung der Gestaltungsmöglichkeiten, der Formbarkeit von Natur, die in einem neuen Paradies, einem gewaltigen Produktionssystem zur Erfüllung fast aller materieller Bedürfnisse, in einem "sein wie Gott", ihren vorläufigen Gipfelpunkt erreichte. (1. Moses 3,5)

(7.1) 11.05.2005, 16:40, Wolfgang Schallehn: Hier wird mir zu viel in einen Topf geworfen. Gewiß, der konstruktive Determinismus von Descartes hat seine Grenzen. Aber ohne dessen „Methode“ und die Ausnutzung determinierter Zusammenhänge ist die heutige Zivilisation nicht denkbar, auch nicht deren Zukunft.
Eine ganz andere Frage ist, wer über diese Möglichkeiten von der Realität abheben und „wie Gott“ sein wollte. Solche müssen bekämpft werden von denen, die bereit sind „sich zu ändern“ (These 72) !

(7.1.1) 08.06.2005, 16:51, Hans-Gert Gräbe: Ich weiß nicht, ob sich die kindliche Freude des Zauberlehrlings über den in Bewegung gesetzten Besen prinzipiell hätte vermeiden lassen. Sie war aber historisch da und hat uns in die Lage des Zauberlehrlings gebracht, in der wir uns heute befinden. Nur der Ruf nach dem Meister geht leider ins Leere. Bei Bulgakow gibt es eine ähnliche Erzählung "Die verhängnisvollen Eier", die genau dasselbe Thema zum Gegenstand hat: Was passiert, wenn der Mushik die Möglichkeiten zum "Sein wie Gott" in der Hand hält. Dort rettet nur ein "strenger Winter" die Menschheit - Bulgakow lässt die Natur ein Einsehen mit diesen ihren Geschöpfen haben.
Deine These "Solche müssen bekämpft werden ..." halte ich für extrem gefährlich.

(8)

3) Der Machbarkeitswahn der "grandiosen Siege der Menschheit über die Natur" beginnt jedoch zu verfliegen. Die mit dieser gewaltigen Produktionsmacht gewachsene Handlungsmacht, deren Produktiv- und Destruktivkraft, entwickelt eine Eigendynamik, die Menschsein zunehmend aushöhlt und den Menschen letztlich zerquetschen wird, wenn er sich nicht aus seinem Hamsterrad zu befreien vermag.

(8.1) 11.05.2005, 16:42, Wolfgang Schallehn: Das ist einer der Knackpunkte. Die Handlungsmacht ihrer Eigendynamik überlassen heißt, dieser die Menschen (letztlich sogar die vermeintlichen „Götter“ selbst!) zu opfern.

(9)

"... ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." ([1, These 9])

(9.1) 11.05.2005, 16:42, Wolfgang Schallehn: "These"??

(9.1.1) 08.06.2005, 16:54, Hans-Gert Gräbe: Aus Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen. Besser kann ich es auch nicht sagen.

(10)

Millionen sind diesem Fortschritt bereits zum Opfer gefallen, weil die Menschen noch nicht "wissen, was gut und böse ist". (1. Moses 3,5) Nach der ethischen Katastrophe von Auschwitz, deren unbewältigte Dimension heute nicht nur in der Dritten, sondern auch im alltäglichen Faschismus der "zivilisierten" Welt ihre Fortschreibung findet, sind wir gerade Zeuge einer sozialen Katastrophe bisher ungekannter Dimension und sehen am Horizont bereits die ökologische Katastrophe näher kommen.

(10.1) 11.05.2005, 16:43, Wolfgang Schallehn: Von der ganzen Phrase
-weil die Menschen noch nicht „wissen, was gut und böse ist“. (1. Moses 3,5) –
würde ich nur einen Punkt „.“ stehen lassen. Das „weil“ ist falsch.

(10.1.1) 08.06.2005, 16:57, Hans-Gert Gräbe: Habe ich in der aktuellen Version auch so gemacht. Trotzdem halte ich diese Bibelstelle in dem Kontext für hochgradig relevant. Es ist eine Paraphrase des Zauberlehrlings-Seins. Gut und Böse sehr interessant bei Werner Wittenberger.

(11)

4) Diese Krise der Industriegesellschaft ist zugleich eine Krise der rationalen Vernunft im Sinne der Aufklärung und deren Begriff von "Weltgeist", "Wille Gottes" oder "objektiver Realität" als ein dem Menschen äußerlicher letzter Begründungszusammenhang. Die Alternative "Barbarei oder Zivilisation" wird zum kategorischen Imperativ, alle Barbarei in der Zivilisation aufzuspüren, also alle jenen Momente, "in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". (MEW 1, S. 385)

(11.1) 11.05.2005, 16:44, Wolfgang Schallehn: Zustimmung!

(12)

Dabei nicht den Täuschungen des sechsten Sinnes zu erliegen, bedarf der Entfaltung eines siebten Sinnes, einer primär aus der eigenen Lebenspraxis gespeisten kritischen Vernunft, die Es und Ich zu Lasten des Über-Ich einander wieder näher bringt und "sich den 'narzistischen Kränkungen' stellt, welche wissenschaftliche Forschungen seit Kepler und Kopernikus den menschlichen Subjekten zugefügt haben." ([2, S. 213]). Dabei gilt es, die "Einheit von Tugend und Glückseligkeit" im Sinne des späten Kant neu zu versuchen und dabei das Kantische "Prinzip des Bösen" [3] in uns selbst wahrzunehmen.

(12.1) 11.05.2005, 16:44, Wolfgang Schallehn: Kants „Einheit von Tugend und Glückseligkeit“ problematisiert ja aber gerade den Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen und den individuellen Interessen. Insofern bietet Kant schon den gordischen Knoten, der auf dem Wege zu einer menschlichen Zivilisation „nach dem Kapitalismus“ bewältigt werden muss.

(12.1.1) 08.06.2005, 17:03, Hans-Gert Gräbe: Auch hier Wittenberger zum Kantschen kategorischen Imperativ: Wie kann die hochgradig widersprüchliche innere Motivationslage in gesellschaftliche Normative münden? "Einfacher braucht man das gar nicht erst zu denken" (W.W.) In dem Sinne ist es nicht der Widerspruch, den du siehst, sondern die Widersprüchlichkeit unserer eigenen Interessen in uns selbst. „Einheit von Tugend und Glückseligkeit“ ist die Externalisierung dieser inneren Widersprüche (auch hier gilt "alle Verhältnisse als menschengemacht zu erkennen ...")

(13)

Würde im Selbst ist ein immanenter Teil von Menschenwürde. Dabei kann es auf Adornos Frage "Gibt es ein richtiges Leben im falschen?" heute nur noch die Antwort von Zwerenz [4] geben: Wir haben gar keine andere Wahl als es zu versuchen.

(13.1) 11.05.2005, 16:45, Wolfgang Schallehn: Volle Zustimmung!
Darüber hinaus sollte die Konsequenz verdeutlicht werden: wirksames Handeln (z.B. lernen, lehren, regieren) muss notfalls auch im „falschen Leben“ versucht, trainiert, praktiziert werden.

(14)

5) Vernünftiges Handeln ist damit nicht mehr allein im Sinne der Aufklärung - als Aufdecken und Befolgen der Gesetze einer externen Ratio - möglich, sondern nur noch als kritisches Verhältnis zum Schein einer solchen Ratio in uns selbst.

(14.1) 11.05.2005, 16:46, Wolfgang Schallehn: Ich verstehe weder das „nur noch“, noch das „Handeln ... als Verhältnis“, noch das „zum Schein“...

(14.1.1) 08.06.2005, 17:06, Hans-Gert Gräbe: Das habe ich präzisiert. Aber der "Schein" ist schon der Punkt. Nicht die Realität ist für uns handlungsleitend, sondern das, was wir für Realität halten. Das wird beim Reden über "objektive Gesetzmäßigkeiten" sehr gern und schnell aus dem Auge verloren.

(15)

Es gilt, "jene Anspannung der Reflexion zu leisten, die ein Begriff von Wahrheit fordert, der nicht dinghaft und abstrakt der bloßen Subjektivität gegenübersteht, sondern sich entfaltet durch Kritik, kraft der wechselseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt." ([5, S. 583])

(15.1) 11.05.2005, 16:47, Wolfgang Schallehn: Eigentlich war ich erfreut, in den Einleitungsworten der Thesen 14,15,16 Ansätze anzutreffen, die im Sinne von „Chancen“ oder „Perspektiven unserer Zeit“ über die „Gefahren“ hinausgehen. Aber zum Schluss bleibt mir nur die Hoffnung, dass viel klarer gesagt werden kann, was eigentlich gemeint ist.

(16)

Ein solcher kritischer Gebrauch der Vernunft wird erst mit ausreichender sinnlicher Erfahrung der "Früchte vom Baum der Erkenntnis", der konstruktiven und destruktiven Seite des Gebrauchs von Vernunft überhaupt, zum Thema.

Die Umbrüche unserer Zeit

(17)

6) Viele Umbrüche unserer Zeit sind mit dem Computer im Alltag verbunden. In seiner über 70-jährigen Entwicklungsgeschichte revolutionierte er als Denkwerkzeug den Gebrauch unseres sechsten Sinnes nicht nur in Wissenschaft und Technik, sondern hat seit den 60er Jahren auch unmittelbar in der Produktion Einzug gehalten. Sein Einsatz erlaubte die Ablösung und Umgestaltung repetitiver Elemente des Produktionsprozesses mit Automatisierung und Flexibilisierung als Folge und läutete das Ende der Fließbandgesellschaft ein.

(18)

Mit diesem Ende fällt der fast lautlose Zusammenbruch des realsozialistischen Weltsystems zusammen, dessen personal-hierarchischer und kommandobasierter Grundansatz dem fordistischen Prinzip des "ein Kopf und tausend Hände" entspringt.

(19)

7) Mit dem Ende des Fordismus ist auch das klassische Lohnarbeitsverhältnis als Regelform abhängiger Beschäftigung am Ende. "Macht, was ihr wollt, aber seid profitabel" lautet die neue Losung, "Arbeitskraftunternehmer" das neue Zauberwort. Damit wird die personale Trennung zwischen unternehmerischer Idee und deren Ausführung durch abhängig Beschäftigte, die Profiterwirtschaftung wenigstens notdürftig begründende Abspaltung des "unternehmerischen Risikos" als Wert von dessen lebensweltlicher Realisierung als Gebrauchswert gegenstandslos.

(20)

Übrig bleiben entpersonalisierte Herrschaftsformen der "blinden und tautologischen Selbstbewegungsstruktur des Geldes, die keiner sinnlichen Bedürfnislogik folgen kann" ([6, S. 290]), eine weitgehend in diesen Regeln gefangene Managementkaste - das Politmanagement eingeschlossen - sowie Massen arbeitsloser oder prekär beschäftigter Produzenten im Wartestand, deren Reihen bis weit hinein in das klein- und mittelständische Unternehmertum reichen. Die Funktionsgrundlage auch dieser Gesellschaft ist in der Krise.

(21)

8) Die immer weiter gehende Auflösung kommandobasierter hierarchischer Strukturen in der Produktionsorganisation lässt sich als Ausdruck des Korngrößendilemmas historisch in gerader Linie zurückverfolgen. Das Ende des Feudalismus ist zugleich das Ende des landesfürstlichen Prinzips der Entscheidung über alle wichtigen lebensweltlichen Fragen entsprechender Dimension, auch wenn dieses Prinzip im Realsozialismus noch einmal eine Renaissance erfahren hat.

(22)

Der aufstrebende Kapitalismus markiert einen Bifurkationspunkt in der Geschichte der Produktionsorganisation. Während in der ganzen bisherigen Entwicklung die "Korngröße" der personalen Entscheidungsstrukturen mit der Korngröße der durch die produktive Arbeit in Gang gesetzten "Macht der Agentien" (MEW 42, S. 592) übereinstimmte und so wenigstens notdürftig der dinglichen Logik der Planung produktiver Arbeit Genüge getan war, konfrontiert uns der Beginn der kapitalistischen Marktwirtschaft mit dem Phänomen, dass ein weiteres Wachstum der Korngröße der Macht der Agentien mit einem Rückgang der Korngröße personaler Entscheidungsstrukturen einher geht. Die Beachtung dinglicher Logiken durch weitere personalisierte Zentralisierung der Entscheidungsvollmachten ist an ihre Grenzen geraten und wird durch deutlich dezentralere Entscheidungsstrukturen abgelöst, die über den Markt aufeinander rückgekoppelt sind. Dies ist das große zivilisatorische Moment der kapitalistischen Organisation von Produktion.

(22.1) 11.05.2005, 16:48, Wolfgang Schallehn: Die „deutlich dezentraleren Entscheidungsstrukturen“ führen aber unübersehbar auch zu Erscheinungen einer allgemeinen Verantwortungslosigkeit.
Meines Erachtens ist auch die Dezentralisierung keinesfalls eindeutig positiv oder negativ zu bewerten – mit anderen Worten: es gibt sowohl vernünftige als auch unvernünftige Dezentralisierung.

(23)

Die Verhandlung dieser Entscheidungen auf dem Markt als (noch blindem) Netzwerk und Kommunikationsmedium ist allerdings mit einem Pfedefuß behaftet: Das Sozialisierungsmedium Markt ist aus sich heraus, die radikale Konsequenz der immer unzulänglicheren Beachtung dinglicher Logiken in den bis dahin wirkenden Entscheidungsstrukturen ziehend, nun gar nicht mehr in der Lage, dingliche Logiken zu transportieren. Es wird der lokalen Intelligenz der Zweck setzenden Markteinheiten überlassen, dies hinter dem Rücken des Marktes zu verhandeln, wozu über die Jahrhunderte eine ausgefeilte politische Verhandlungskultur, der gesamte zivilgesellschaftliche Überbau, entstand. Dieses zweite kulturelle Moment wird durch die neoliberale Hypertrophierung des Ökonomischen heute grundlegend in Frage gestellt.

(24)

9) Die Rückbindung ökonomischer Tätigkeit an die Vielfalt dinglicher Lebenslogiken sowie die Bändigung des "blinden Marktes" ist nur durch intensive Kommunikation möglich. Erst eine solche intensive Kommunikation, welche Markt infrastrukturell einbettet, macht diesen transparent und die "hinter seinem Rücken" ablaufenden Logiken (wieder) sichtbar.

(24.1) 11.05.2005, 16:49, Wolfgang Schallehn: Klar ist: Vernunft ohne Kommunikation bewirkt ebenso wenig wie vernunftlose Kommunikation(Logorhöe). Unstrittig ist auch, dass vorgebliche Vernunft viel Müll produziert, und das solcher Müll intensiv kommuniziert wird.
Einfache Messlatten für Vernunft und Kommunikation kann es wohl nicht geben.
Also müssten Regeln her, die einerseits das lebensnotwendige Minimum von Vernunft und Kommunikation sichern, die andererseits lebensbedrohliche Auswüchse verhindern, und ansonsten den Individuen alle möglichen Freiheiten lassen.
Heute könnte diskutiert werden, wie solche Regeln aussehen sollten. Morgen müsste diskutiert werden, wer sie einführt, und wie, und wann...
Deshalb sind mir die Thesen (17)...(28) bei aller Zustimmung zu ihrem vermuteten Anliegen zu akademisch.

(24.1.1) 08.06.2005, 17:09, Hans-Gert Gräbe: Das ist hier wirklich nur thesenhaft ausgeführt. Mehr in meinem MaWi-Paper sowie in verschiedenen Texten von Wolf Goehring.

(25)

Erst in einem solchen "öffentlichen Gebrauch der Vernunft" (Kant), dem "mündlichen Gebrauch der Freiheit, einem anderen seine Gedanken mitzuteilen" ([7, S. 110]), einer solchen Entfaltung des siebten Sinns, ist auch eine verantwortungsvolle Beschränkung des sechsten Sinnes möglich, des "privaten Gebrauchs der Vernunft" im öffentlichen Handeln (Kant), die allein durch geldlogische Mechanismen immer weniger zu erreichen ist.

(26)

Für Unternehmer bedeutet dies, den Spagat zu vollziehen, "sich zu vernetzen, ohne sich zu vernetzen" (W. Göhring). Die Vorteile intensiver Kommunikation und eines transparenten Marktes sind in einem Klima der Betriebsgeheimnisse nicht zu erschließen. Der klassische statische Vorteilsbegriff des "Alleinstellungsmerkmals" wird obsolet und durch den dynamischen Kompetenzvorteil eines "besser wissen, wie es geht" abgelöst. Der freizügige Zugang zu den Wissenressourcen der Gesellschaft wird so auch für die Dynamik produktiver Aktivitäten zunehmend zur Voraussetzung.

(27)

10) Das Computerzeitalter wird gern als Postmoderne bezeichnet. Dies suggeriert einen herausgehobenen Charakter der Fließbandgesellschaft als Moderne, der einem ahistorischen Blick auf Entwicklung entspringt. Bereits Kondratjew hat die wellenförmige Verschränktheit von Wissenschafts- und Produktivkraftentwicklung herausgearbeitet, in deren Verlauf wichtige Basisinnovationen revolutionierend auf die Produktionsorganisation durchschlagen. Deren zeitliche Dimension lässt vermuten, dass wir uns heute am Beginn einer neuen Kondratjew-Welle befinden, dem Post-Computerzeitalter.

(28)

Mit dem Internet zeichnet sich die alles umkrempelnde Basisinnovation bereits deutlich ab. Die überreife Revolutionierung der Kommunikationsverhältnisse der Gesellschaft bekommt damit ihre technische Infrastruktur. Doch damit nicht genug. "Unsere Zeit bietet wie keine andere eine gewaltige Sammlung von Wissen in Textform dar. Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit wird auf CD-Roms, auf Internetseiten, in Antiquariaten und im Buchhandel dargeboten, alles ist gut vernetzt und so leicht zugänglich, daß es eine Schande wäre, dieses Material nicht wach und offenen Sinnes zu gebrauchen." ([8, S. 300])

(28.1) 11.05.2005, 16:50, Wolfgang Schallehn: Volle Zustimmung, dass das Internet eine „revolutionierende Basisinnovation“ ist. Dennoch scheint mir ein warnender Hinweis auf die Parallelen zur Explosion des Personen- und Güterverkehrs angebracht: vieles ist dadurch besser und schneller geworden, aber auch vieles verderblicher und schlimmer.

Der moderne Produktionsprozess

(29)

11) Das Funktionieren der Fließbandgesellschaft ließ sich noch gut in Begriffen der Marxschen ökonomischen Theorie erfassen, der ein Verständnis von Arbeit als "zweckgerichteter Tätigkeit", eben als produktive Arbeit, zu Grunde liegt, von der nichtproduktive, aber gesellschaftlich ebenfalls notwendige Tätigkeiten abzugrenzen sind. Letztere schaffen keine Werte im eng ökonomischen Sinn, sind also darauf angewiesen, über andere Mechanismen als den Markt refinanziert zu werden.

(30)

Ein solcher enger Arbeitsbegriff erwies sich als gut geeignet, die Mechanismen marktbasierter kapitalistischer Wertschöpfung zu analysieren, blendet aber Bereiche menschlicher Tätigkeit aus, die für den Arbeitsprozess im weiteren Sinne unverzichtbar sind. Eine derartige "Konzentration auf das Wesentliche" ist gerechtfertigt, wenn und so lange die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst diese anderen Arbeitsformen als abgeleitete Arbeitsformen behandeln. Die zentrale Stellung der (als Erwerbsarbeit bezeichneten) produktiven Arbeit im engeren Sinne für die kapitalistische Gesellschaftsformation hat auch technologische Gründe. Aber sie benötigte schon immer eine gut funktionierende (und historisch ältere) familiäre Reproduktionsarbeit als Fundament und eine sich erst entwickelnde Infrastrukturarbeit als Rahmen.

(31)

12) Mit den neuen technologischen Möglichkeiten rücken Fragen der Planung und Zwecksetzung von Produktion stärker in den Vordergrund, so dass die Prämisse, unter der man gesellschaftliche Prozesse vom Begriff der produktiven Arbeit im engeren Sinne als zentraler Kategorie ableiten kann, immer weniger zutrifft.

(32)

Die Hauptgewichte der ökonomischen Aktivitäten, die sogenannten "geschäftskritischen Prozesse", verlagern sich von der Produktion selbst hin zur Vorbereitung der Produktion. Während im Fordismus noch Produkte vorgehalten wurden, mit Massenproduktion, Massenkonsum, Werbung etc. im Schlepptau, verlagert sich nun der Schwerpunkt hin zum Vorhalten von Produktionsbedingungen, aus denen heraus "just in time" und maßgeschneidert Produkte entsprechend individuellen Bedürfnissen produziert werden können.

(33)

13) Technologisch hat die Menschheit damit die Möglichkeit, sich zu einer Vorsorgegesellschaft zu wandeln, die vielfältige Konzepte bereithält, um auf die verschiedensten Situationen adäquat reagieren zu können, von denen entsprechend der konkreten Entwicklung aber nur einige wenige tatsächlich bis zur Realisierung geführt werden.

(34)

Eine solche Gesellschaft, die eine Vielfalt von Kompetenzen und Konzepten vorhält und sich auf mögliche Zukünfte in der ganzen Variantenbreite vorbereitet, entspräche der "Multioptionalität von Zukunft" ([9]) um vieles besser als die derzeitige, in der nur realisierte Konzepte als verkaufte Produkte ihren Platz und gesellschaftliche Anerkennung finden und Feuerwehrmann oder Fluthelfer erst nach der Katastrophe im medialen Mittelpunkt stehen.

(35)

Sie ist zugleich Prämisse für Zukunftsfähigkeit überhaupt: "Angesichts der Kontingenz und Komplexität der Zusammenhänge von planetaren und humanökologischen Systemen, die immer auch mit dem Kernbereich von Unsicherheit zu tun haben, der sich einer Quantifizierung von Gefährdungen und Risiken entzieht, stellt die Diversität von Bewältigungsperspektiven, welche sich aus einer Vielzahl von Erfahrungspfaden ergibt, die einzige wirksame Ressource für eine mögliche Bewältigung auch ganz neuer und unvorhergesehener Probleme dar." ([2, S. 216])

Individuum und Gesellschaft

(36)

14) Eine solche Vielfalt von Kompetenzen und Konzepten kann nur aus den lebensweltlichen Praxen kooperativ agierender unabhängiger Produzenten erwachsen, die "ihre eigenen Kompetenzen im Urteilen und Handeln aktiv und verantwortlich einsetzen - und dies funktioniert um so besser, je vielfältiger und damit umfassender die auf diese Weise eingebrachten Kompetenzen sind" ([2, S. 216]). Dieses kooperative Zusammengehen erfordert "eben so sehr vielfältige spezifische Einzelkompetenzen wie die Fähigkeit zu einer allseitigen Kommunikation über komplexe Produktionszusammenhänge" (ebenda), die nicht an Unternehmensgrenzen aufhören kann.

(36.1) Re: Individuum und Gesellschaft, 11.05.2005, 16:51, Wolfgang Schallehn: Da ist nun wieder die Einheit überbetont und der Kampf der Gegensätze ausgeblendet!

(36.1.1) 08.06.2005, 17:13, Hans-Gert Gräbe: Genau das ist mir nicht klar. In einem entfalteten Ökosystem mit hochgradiger Diversifikation gibt es einen solchen "Kampf der Gegensätze" nur noch sehr zweitrangig. Ich weiß nicht, ob das hier nicht eine Projektion des heutigen Falschen ist. Richtiges Leben im Falschen zu versuchen heißt ja auch, für sich eine solche Differenz aufzumachen, um die richtigen Tendenzen zu verstärken und die falschen zu dämpfen.

(37)

15) Technologische Voraussetzung der Teilhabe an einem solchen modernen Produktionsprozess ist damit viel stärker die sich in individueller Kompetenz ausdrückende Beherrschung (eines Teils) der Macht der Agentien als die Bereitstellung einer unterschiedslosen abstrakten physischen Arbeitskraft. Der daraus resultierende Selbstverwirklichungsanspruch ist die Basis des emanzipatorischen Potenzials der modernen Gesellschaft.

(38)

Die Reproduktion dieser Macht der Agentien, insbesondere der aktiv verfügbaren Wissensbasis der Gesellschaft und ihrer Teile, wird zur zentralen gesellschaftlichen Aufgabe. Die menschliche Gemeinschaft steht damit vor der Herausforderung, sich aus einer Arbeitsgesellschaft in eine Kompetenzgesellschaft zu transformieren.

(39)

16) Die Kompetenz des Einzelnen resultiert aus der je spezifischen Aneignung gesellschaftlich verfügbaren Wissens auf dem Hintergrund des eigenen Erfahrungsschatzes. Moderne Technologien erfordern damit eine Gesellschaft zunehmend unterscheidbarer Individuen, eine Gesellschaft je anders kompetenter Minderheiten.

(40)

Die Wissensbasis der Gesellschaft ist eine kausal und historisch tief gestaffelte Sammlung von Anwendungs-, Begründungs-, Hintergrund- und Querschnittswissen, die sich aus den individuellen Erfahrungen der Einzelnen in der Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft in historischer Dimension konstituiert und speist.

(41)

Dieses Wissen reproduziert sich über individuell gebrochene Aneignung, wird im Arbeitsakt mit neuen Erfahrungen aufgeladen und danach wieder sozialisiert. Eine sich so ausprägende individuelle Kompetenz besteht in jedem einzelnen Fall aus einer Vielzahl miteinander verwobener und aufeinander aufbauender Schichten, die sich durch die Tünche eines halbjährigen Weiterbildungskurses nicht nachhaltig verändern lässt. Die ungeheure Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten solcher Wissenselemente in der individuellen Aneignung konstituiert eine Individualität, in der Menschen nur noch als Subjekte, nicht mehr als Objekte gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden können.

(41.1) 11.05.2005, 16:52, Wolfgang Schallehn: JA und NEIN!!
In der Formulierung „individuelle Kompetenz besteht... aus ... aufeinander aufbauender Schichten“ sehe ich einen überaus wichtigen Bezug zur Entwicklungspsychologie – welche m.E. in Thesen zu „Wissen und Bildung“ nicht unbeachtet bleiben darf.
Weiterhin halte ich die Zielstellung „... in der Menschen nur noch als Subjekte, nicht mehr als Objekte gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden können“, für nicht nur falsch, sondern irreführend.
Ich bin der Meinung, dass gerade diejenigen gesellschaftlichen(!) Prozesse gestaltungsbedürftig sind, deren Objekte notwendigerweise Menschen sind, angefangen mit:
- Erziehung und Bildung der Heranwachsenden,
- Wahl und kritische Begleitung von Politikern,
- Umgang mit Menschen, die sich außerhalb der Gesellschaft stellen...

(41.1.1) 08.06.2005, 17:18, Hans-Gert Gräbe: Zu (3) sagt F.O.Wolf: "Wer sich selbst zum Objekt macht, der wird auch als Objekt behandelt". Aber das muss eine absolute Ausnahmesituation sein, vor der ein extremer Abwägungsprozess stehen muss. Ansonsten gebe ich dir insofern recht, als hier und auch sonst in den Thesen vom "mündigen Bürger" ausgegangen wird. Das Werden Kind - mündiger Bürger ist (noch) ausgeblendet und auch aus diesem Grund dein Vorschlag, über Entwicklungspsychologie zu reden, interessant. Ob es im "Richtigen" so was wie Politiker im heutigen Sinne geben wird wage ich zu bezweifeln.

(42)

Während der Markt mit den Kategorien Eigentum und Ware eine gesellschaftlich vermittelte Individualität erzeugt, ist Wissen in diesem Sinne eine individuell vermittelte Gesellschaftlichkeit. Als solche ist es, im Gegensatz zu Waren, auch in Teilen nicht vernünftig privatisierbar, ohne seine Reproduktionsfähigkeit existenziell in Frage zu stellen.

(42.1) 11.05.2005, 16:53, Wolfgang Schallehn: Was heißt „nicht vernünftig privatisierbar“?

(42.1.1) 08.06.2005, 17:20, Hans-Gert Gräbe: Du hast recht, das "vernünftig" habe ich gestrichen.

(43)

17) Die Entfaltung individueller Kompetenz im gesellschaftlichen Arbeitsprozess erfordert neben einem freizügigen Zugang zur Wissensbasis der Gesellschaft die relative Autonomie der Subjekte dieses Prozesses hinsichtlich Zwecksetzung und Motivation. Eine moderne Gesellschaft steht also vor der Herausforderung, die Rahmen für ein derart emanzipatorisches Handeln nachhaltig zu sichern.

(43.1) 11.05.2005, 16:54, Wolfgang Schallehn: Zu den Thesen (43) ... (47) ausdrückliche Zustimmung!
Nur fehlt mir hier wieder die praktische Konsequenz: wie kann dies realisiert werden, durch wen, wann ...

(43.1.1) 08.06.2005, 17:22, Hans-Gert Gräbe: Ich halte mit Blick auf die vielfältigen Emanzipationsdiskussionen, in denen gern gerade die Verantwortlichkeit kleingeredet wird, eine solche normativ-faktische Fixierung dessen, was an Emanzipation alles dran hängt, für wichtig.

(44)

In diesem Sinne verstandene Emanzipation bildet eine Einheit aus Freiräumen und Kompetenz, aus Vertrauen und Verantwortlichkeit. Sie verbindet damit sowohl individuell als auch gesellschaftsbezogen Anspruch und Herausforderung.

(45)

Die hauptsächliche individuelle Herausforderung besteht in der Aneignung und Entwicklung von Kompetenz, um Freiräume verantwortlich zu gestalten.

(46)

Die hauptsächliche gesellschaftliche Herausforderung besteht in der Schaffung von Freiräumen, in denen kompetente Individuen Verantwortung übernehmen können, sowie von Bedingungen, unter denen sich Kompetenz eigenverantwortlich reproduzieren und weiter entwickeln lässt.

(47)

In diesem Sinne verstandene Emanzipation ist eine reflexive, keine relationale Kategorie. Emanzipation ist zuerst Selbstverwirklichung, nicht Abgrenzung. Individuelle Emanzipation auf Kosten und zu Lasten anderer ist nachhaltig nicht möglich. Eigene Emanzipation schließt die Berücksichtigung des begründeten Emanzipationsanspruchs anderer und die weitere Ablösung hierarchisch geprägter Kommandostrukturen durch sachlich geprägte Kommunikations- und Vernetzungsstrukturen ein.

Kritische Vernunft und Gesellschaft

(48)

18) Die zunehmende Diskrepanz zwischen den Herausforderungen moderner Technologien an die Organisationsweise von Gesellschaft und den Antworten, welche die Menschheit in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit zu geben in der Lage ist, hat zu einer tiefen globalen Krise geführt, die inzwischen selbst deren weitere biologische Existenz bedroht.

(48.1) Re: Kritische Vernunft und Gesellschaft, 11.05.2005, 16:55, Wolfgang Schallehn: Höchst wichtig!
Nur gebe ich zu bedenken, dass die bedrohlichen Herausforderungen nicht von den „modernen Technologien“ ausgehen, sondern vom durch Menschen absichtlich oder unabsichtlich betriebenen Missbrauch dieser Technik.

(48.1.1) 08.06.2005, 17:24, Hans-Gert Gräbe: Was ist ein "unabsichtlich betriebener Missbrauch"?

(48.1.1.1) 12.06.2005, 19:35, Wolfgang Schallehn: Meint die Sequenz "gute Absicht - schlechte Wirkung", z.B. überschnelle Autos, überzogenes Kinderfernsehen, durch Medikamente geschädigte Gesundheit usw. usf.

(48.1.1.2) 15.06.2005, 09:38, Hans-Gert Gräbe: Du weichst der Antwort aus. Die einzige Absicht, die ich hier immer wieder erkenne, ist Geld verdienen. Dass dabei gelegentlich auch mal was Sinnvolles passiert, grenzt fast an ein Wunder. Die "blinde Kraft des Marktes" scheint also doch eine ungeheure zu sein, wenn sie selbst unter so widrigen Bedingungen noch Vernunft vermitteln kann. Das würde aber heißen, dass Kommunismus diese Kraft des Marktes keineswegs abschaffen darf, sondern als Kulturgut ersten Ranges behandeln muss (?)

(49)

Aus technologischer Sicht ist die globale Krise zunächst eine Theoriekrise: Zuschnitt von Wissenschaft auf unmittelbare Verwertbarkeit verhindert es, den siebten Sinn in dem Maße zu entwickeln, wie es für die Beherrschung der Chancen und Risiken moderner Technologien notwendig wäre.

(49.1) 11.05.2005, 16:55, Wolfgang Schallehn: Eine Theorie-Krise sehe ich da nicht, eher eine Werte-Krise.
Tatsächlich ist eine absolute Dominanz betriebswirtschaftlicher Aspekte für die Wissenschaft ebenso verderblich wie für alle anderen Bereiche der Gesellschaft.

(49.1.1) 08.06.2005, 17:27, Hans-Gert Gräbe: Es geht hier nicht um "Dominanz betriebswirtschaftlicher Aspekte", sondern die Frage, was Wissenschaft mit dem, wie sie aktuell aufgestellt ist, überhaupt zu leisten in der Lage ist. Ob sie in relevanten gesellschaftlichen Sektoren überhaupt noch genügend theoretischen Vorlauf hat. Im Bereich kritischer Wissenschaft sehe (nicht nur) ich das nicht mehr.

(50)

Gesellschaftliche Praxis als Wechselwirkung des Menschen mit der Natur umfasst immer auch eine reflektorische Komponente, in der intendierte und nicht intendierte Effekte unterschieden, die Wissensbasis verbreitert und zukünftige Entscheidungen qualifiziert vorbereitet werden. Technologien als Moment produktiver Arbeit sind immer janusköpfig und nötigen die Menschheit, angemessene Aufwendungen für die Reflexion der Chancen und Risiken dieser Technologien zu organisieren.

(51)

Es sind diese Erfahrungen der Vergangenheit, welche als Erwartungen in der Gegenwart Zukunft vorstrukturieren.

(51.1) 11.05.2005, 16:56, Wolfgang Schallehn: Zu den Thesen (50) ... (58) inhaltlich lebhafte Zustimmung! Nur erscheinen mir die Formulierungen (51), (57), (58) sprachlich überzogen.

(52)

Moderne Technologien zeichnen sich durch eine gegenüber dem klassischen Industriezeitalter noch einmal deutlich gesteigerte Komplexität der eingesetzten Wirkzusammenhänge aus, die durch die heutige Wissenschaft selbst paradigmatisch nur unzureichend erfasst wird.

(53)

Auf der Tagesordnung steht damit die Emanzipation kritischer Wissenschaft in der Einheit von Verantwortlichkeit für die Reflexionsfähigkeit der Gesellschaft auf einem Niveau, das den technologischen Herausforderungen angemessen ist, und Freiräumen und Bedingungen, eine solche Reflexionsfähigkeit zu entwickeln.

(54)

19) Die globale Krise ist eine Herrschaftskrise: Die gegenwärtige Verfasstheit des politischen Systems der entwickelten Länder der Erde verhindert es, für eine solche Reflexionsfähigkeit ausreichende Ressourcen zu allokieren und entsprechende Bedingungen zu schaffen.

(55)

Die Verteilung von Ressourcen und Bedingungen wird im politischen System nach den vorherrschenden Wertvorstellungen organisiert. Trotz einer zunehmenden Sensibilisierung für ökologische Belange durch die Umweltbewegungen und das Wirken des Club of Rome sind heutige Wertvorstellungen marktwirtschaftlich geprägt und darauf fixiert, Ressourcen und Bedingungen auf die optimale Entwicklung der Ökonomie nach den Interessen des Kapitals zu konzentrieren, während andere Bereiche mehr oder weniger als abgeleitete Größen betrachtet werden, die dann schon "von selbst" ins Lot kommen werden.

(56)

Im Zeitalter moderner Technologien erweist sich eine solche unmittelbare Kopplung von politischen an ökonomische Regulative und die damit verbundenen vereinfachenden Regulierungspraktiken zunehmend als ungeeignet, die wichtigsten gesellschaftlichen Parameter auf einen nachhaltigen Kurs zu bringen. Eine solche Kopplung führt zur "Tragödie der Allgemeingüter" [10], einer permanenten Unterversorgung infrastruktureller Bereiche. Im Lichte dieser Thesen steht der Raubbau an den Ressourcen für Wissenschaft und Bildung in seiner mittelbaren Wirkung mit dem ökologischen Raubbau auf einer Stufe.

(57)

Auf der Tagesordnung steht die Emanzipation der Politik in der Einheit von Verantwortlichkeit für die Sicherung der Bedingungen einer angemessenen Entwicklung aller funktionalen Bereiche der Gesellschaft und dem Freiraum, dafür geeignete Maßstäbe und Wertvorstellungen entwickeln und vereinbaren zu können.

(58)

20) Auch innerhalb der ökonomischen Sphäre werden ausschließlich marktwirtschaftliche Regulationsmechanismen zunehmend zum Hindernis für gesellschaftlich rationales Handeln. Dieses Dilemma resultiert wesentlich aus den Verschiebungen hin zu einer Kompetenzgesellschaft, in welcher marktwirtschaftlich steuerbare produktive Arbeit zunehmend in umfassendere Wirkzusammenhänge eingebettet ist.

(59)

Die Wissenschaftsintensität moderner Technologien führt dazu, dass der Aufwand für Konzepte und Reflexionen den entscheidenden Teil auch ökonomischer Aktivitäten ausmacht, während mit flexiblen Entwicklungs-, Konstruktions- und Maschinensystemen zugleich die unmittelbaren Aufwendungen für die Produktion der darauf basierenden materiellen Güter zunehmend in den Hintergrund treten. Work flow und cash flow entkoppeln zunehmend voneinander.

(59.1) 11.05.2005, 16:57, Wolfgang Schallehn: Der Satz „Work flow und cash flow entkoppeln zunehmend voneinander.“ trifft m.E. so nicht zu. Nur die Wirkungsrichtung wird umgekehrt.

(59.1.1) 08.06.2005, 17:31, Hans-Gert Gräbe: Das verstehe ich nun wiederum nicht. Work flow und cash flow gehen immer in entgegengesetzte Richtungen, oder? Ich gebe was und kriege dafür Geld oder umgekehrt.

(59.1.1.1) 12.06.2005, 19:44, Wolfgang Schallehn: Grob gesagt: Früher wurde produziert und dann nach Möglichkeit verkauft. Heute pulsiert das Geld, und bei Bedarf wird produziert...

(59.1.1.2) 15.06.2005, 09:45, Hans-Gert Gräbe: Letzteres heißt nur, dass diese Form des Produzierens aus der Sicht der darauf zu verwendenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit absolut marginal geworden ist (so wie die Landwirtschaft im Kapitalismus). Dann allerdings auch die daran eng gekoppelte Wertform. Hier müssen wir wesentlich genauer hinschauen, was da wirklich passiert (ist). Geld in "tautologischer Selbstbewegung", wie es bei Kurz heißt. Wie kriegen wir diese Art perversen Einflusses auf Realität domestiziert? Ist nicht das der Kern des Nein der Franzosen (ein Kulturvolk, nicht wie die Deutschen!) zur EU-Verfassung? Mehr dazu auch in meinem glob-Paper.

(60)

Es wird möglich und sinnvoll, statt Produkten nur deren Produktionsbedingungen und eine Vielzahl von Konzepten vorzuhalten, aus denen heraus "just in time" einzig diejenigen realisiert werden, welche der konkreten Entwicklung am besten entsprechen. Der work flow wird zum Meta cash flow, der Traum vom Goldesel - einmal anstrengen und dann Geld scheffeln bis zum Abwinken - bekommt neue Nahrung.

(61)

Jedoch ist in einem stark wissenschaftlich geprägten Arbeitsumfeld "die Schöpfung des wirklichen Reichtums weniger abhängig von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie." (MEW 42, S. 592) Der neue Traum vom Goldesel entspringt alten Maßstäben, die an neue Verhältnisse angelegt werden.

(61.1) 11.05.2005, 16:58, Wolfgang Schallehn: Dies hat wohl mit „Wissen und Bildung“ vor allem insofern zu tun, dass es (siehe letzte Zeile) eher um alte Erkenntnisse als um alte Maßstäbe geht.

(61.2) Macht der Agentien, 05.01.2006, 12:08, Wolf Göhring: Die "Macht der Agentien", die Marx in obigem zitat hervorhebt, ist etwas schillernd, denn sie schaut auch wie die "selbstaendige mit eigenem leben begabte gestalt" des warenfetischs aus, den Marx spaeter so herausgearbeitet hat:

"Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. ... Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.

... Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst. ...

Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. ... Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist." (Kapital I, MEW 23, 85-87)

"Macht der Agentien" kann ich ebenso wie abhaengig "vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie" als die "phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen" lesen. Um nicht in diese denkfalle zu geraten, moechte ich die von Hans-Gert zitierten zeilen aus den "Grundrissen" nur mit vorsicht 'geniessen'.

(61.3) 16.02.2006, 12:51, Hans-Gert Gräbe: Wolf, das betrachtest du mE aus einem ganz anderen Blickwinkel als ich es hier meine. Wenn Arbeit in einem "stark wissenschaftlich geprägten Arbeitsumfeld" nicht mehr sinnvoll mit einem Zeitmaß gemessen werden kann, dann ist zu erwarten, dass sich der Fokus praktischer gesellschaftlicher Entwicklung auch von den Formen, in denen sich dieses Zeitmaß prozessiert, wegbewegt und schließlich, wie es bei Moglen heißt, "die Erfordernisse bürgerlicher Technologien die Fesseln der alten Form sprengen werden".

"Nützlichkeit", das Maß, an welchem sich die gesellschaftliche (und heute auch monetäre) Anerkennung der indivduellen Arbeit zu orientieren hat - wenn es denn noch einer solchen Orientierung bedarf; ich gehe davon aus - wird eine deutlich andere Ausrichtung bekommen als auf die "Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt" (MEW 23, S. 59). Es wird um qualifizierte Arbeit gehen, um die Kompetenz der produktiven Agenten, eben um die (kompetente und verantwortungsbeladene) "Beherrschung der Macht der Agentien", die im produktiven Prozess in Bewegung gesetzt werden. Das kratzt in einer solchen Diktion übrigens noch nicht im geringsten an der Frage, ob damit zugleich die Fesseln der kapitalistischen Produktionsorganisation abgestreift werden.

Allerdings zerfällt eine solche Nützlichkeit, mit Blick auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft, sich aktiv auf die "Multioptionalität von Zukunft" (Laitko) vorzubereiten, in potenzielle und handlungsaktive Nützlichkeit. Erstere wird bestimmt durch das Wissen, die Erfahrung, die in persönlicher Kompetenz akkumulierte Erinnerung, das eigene ICH, das unmittelbare Sein als Faser des Gesellschaftskörper, aus welchem letzterer gewebt ist. Und die wird wird derzeit nicht (unmittelbar) in Geld gemessen.

(62)

21) Die globale Krise ist eine Wertekrise: Durch die Regulationskraft von Werten, die einer marktwirtschaftlichen Rationalität entspringen, werden bestehende Probleme zunehmend verschärft; neue allgemein anerkannte Werte sind nicht in Sicht.

(62.1) 11.05.2005, 17:00, Wolfgang Schallehn: Die Aussage „neue allgemein anerkannte Werte sind nicht in Sicht“ vermengt zwei unstrittige Tatsachen in sehr unglücklicher Weise.
1. „Neue Werte“ sind durchaus in Sicht, z.B. in den Thesen (63) ... (73).
2. Eine allgemeine Anerkennung solcher Werte ist tatsächlich nicht in Sicht.

(63)

In einem solchen neuen Wertesystem muss die tiefer gestaffelte konzeptionelle Vorbereitung auf die Multioptionalität von Zukunft eine zentrale Rolle spielen. Gesellschaftliches Handeln als verantwortungsbewusstes Realisieren von Optionen und nicht als Unterwerfung unter blinde Marktkräfte steht auf der Tagesordnung.

(63.1) 11.05.2005, 16:59, Wolfgang Schallehn: Volle Zustimmung! Dies fordert aber auch (völlig außerhalb der Diskussion „Wissen und Bildung“) entschiedensten Widerstand gegen die Privatisierung von Infrastruktur!

(64)

Um diese Herausforderungen zu politisieren und angemessene Lösungen gegen kurzfristig motivierte Kapitalinteressen durchzusetzen bedarf es emanzipierter Bürger, die zum "öffentlichen Gebrauch der Vernunft" ebenso befähigt sind wie zum "privaten Gebrauch der Vernunft" im öffentlichen Handeln, die als mündige, selbstbewusste und kompetente Citoyen global denken und in regionalen Netzwerken lokal handeln und handeln können.

(64.1) 11.05.2005, 17:01, Wolfgang Schallehn: Ein realisierbares Leitbild „emanzipierter Bürger“ ist letztlich entscheidend für die Möglichkeit einer „Gesellschaft nach dem Kapitalismus“! (Siehe auch „homo democraticus“ im Kommentar zu These 72!)

(65)

Auch die Herausforderungen der globalen Krise sind nur durch die gemeinsame Anstrengung emanzipierter Subjekte zu bewältigen. Das erfordert deren Vernetzung und eine wesentlich intensivere Kommunikation zwischen einzelnen Strukturen und Zusammenhängen als in bisherigen Gesellschaften üblich.

(66)

Eine solche Kommunikation ist nur in einem gemeinsamen begrifflichen Kontext ausreichender Leistungsfähigkeit möglich. Neben der Ausprägung spezieller individueller Kompetenz ist die moderne Gesellschaft also nicht nur auf die Ausprägung allgemein anerkannter neuer Werte, sondern auch auf einen breiten Fundus von allgemein be- und anerkanntem Querschnitts-, Überblicks- und Allgemeinwissen, ein entsprechendes kulturelles Niveau und Klima, angewiesen.

(67)

Eine solche Vernetzung kann nur in einem gesellschaftlichen Grundklima des Miteinander gedeihen, das es gilt, in eine kapitalistisch geprägte Umgebung von Eigennutz und Konfrontationsdenken hinein zu tragen. Die subtile Sprengkraft eines solchen technologisch motivierten Solidargedankens ist kaum zu unterschätzen.

(67.1) 11.05.2005, 17:02, Wolfgang Schallehn: Hier würde ich hinter „gedeihen“ einen ganz dicken Punkt setzen. Und dann die Konsequenzen erörtern...

(68)

22) Mit diesen Herausforderungen steht das Gegenteil heutiger neoliberaler Standortrhetorik auf der Tagesordnung - die bewusste politische Gestaltung von Gesellschaft, die "Produktion der Verkehrsformen selbst", die "alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft" - mit einem Wort: Kommunismus im Verständnis des jungen Marx (MEW 3, S. 70).

(68.1) 11.05.2005, 17:03, Wolfgang Schallehn: Hier würde ich hinter „die Produktion der Verkehrsformen selbst“ (oder vielleicht schon hinter „bewusste politische Gestaltung der Gesellschaft“) einen ganz dicken Punkt setzen...

(69)

Die Defizite einer kapitalistisch formierten Gesellschaft sind dabei als pubertäres, unreifes Larvenstadium einer Freien Gesellschaft zu erkennen und zu überwinden. Es geht um die großen Momente des Noch-Nicht dieser Gesellschaft im Blochschen Sinne ([11]).

(69.1) 11.05.2005, 17:04, Wolfgang Schallehn: „Defizite ... sind ... Larvenstadium“ fällt sprachlich heraus...

(69.1.1) 08.06.2005, 17:37, Hans-Gert Gräbe: Ja, das gehört logisch nicht hierher, sondern zu These 5, wo ich es als Satz "Kapitalismus ist in diesem Sinne die pubertäre Form einer Vernunftgesellschaft" angefügt habe.

(70)

Dies ist gleichbedeutend mit der Emanzipation der Menschheit, der Ablösung aller durch äußere Zwänge und Fremdbestimmung geprägten Organisationsformen bisheriger Gesellschaftsformationen durch solche, die sich aus der inneren Entwicklungslogik ergeben, die mit anderen Prozessen in Natur und Gesellschaft kommunikativ vernetzt werden und sind und auf diese Weise die Erde um eine Vernunftsphäre bereichern, die Noosphäre von Wernadski und Teilhard de Jardin.

(70.1) 11.05.2005, 17:04, Wolfgang Schallehn: Wenn ich darin richtig den „7.Sinn“ der These (12) sehe, ist das dann nützliche Redundanz?

(70.1.1) 08.06.2005, 17:42, Hans-Gert Gräbe: Hier gibt es in der aktuellen Version einen deutlichen Shift. Während ich zunächst instrumentelle und kritische Vernunft als zwei Sinne verstanden hatte, so sind sie in der neueren Version zu einem 6. Sinn, dem "Denksinn" zusammengefasst. Der siebte Sinn ist nun der "Gemeinschaftssinn", da ich meine, dass sich auch die Erfüllung gemeinsamen Tuns sinnlich wahrnehmen lässt. Und zwar im Sinne des Fühlens von Einheit, Einssein. Da kommt dann auch der alte Siddhartha dann noch rein, der am Fluss sitzend das Einssein mit Natur spüren kann.

Und ein neuer letzter Satz von These 22: Und es geht um ein tätiges Verständnis dafür, dass eine solches Einssein der menschlichen Gesellschaft das Einssein mit Natur und Umwelt, nachhaltiges Wirtschaften und Tun einschließt und zur Voraussetzung hat. Dann "wird er bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein." (Offenbarung 21,3)

(71)

Dafür ist die Umgestaltung der noch "patriarchal geprägten Herrschaftsverhältnisse sowie der kuturell geprägten Kommunikationsverhältnisse" ([2]) von besonderer Dringlichkeit, wobei immer deutlicher wird, dass letzteren die entscheidende Bedeutung zukommt.

(72)

Der Umsturz äußerer Verhältnisse der Unfreiheit ist nur zusammen mit der Überwindung innerer Unfreiheit möglich. "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, SICH zu verändern." (Zwerenz über Bloch in [4, S. 76])

(72.1) 11.05.2005, 17:05, Wolfgang Schallehn: Ein höchst bemerkenswerter Appell! Aha-Effekt!! Eine Zivilisation „nach dem Kapitalismus“ ist überhaupt nur denkbar, wenn ihre Bürger als „homo democraticus“ agieren!
Dieser „homo democraticus“ sollte sich z.B. auszeichnen durch:
- aktives Handeln, das gleichzeitig dem Akteur selbst und der Gesellschaft dient,
- umfassendes Verständnis der Begriffe(!) von Gesellschaft und Individuum,
- passive und aktive Kritikfähigkeit, Streitkultur,
- siegen und unterliegen können, dabei zu gewinnen und zu verlieren verstehen,
- die Fähigkeit, individuelles Glück im Rahmen gemeinsam gesetzter Regeln zu finden...
Eine Diskussion über Bildung und Wissen sollte wohl vor allem darauf focussiert werden, was den „homo democraticus“ charakterisiert – und wie er in aller Breite(!!) zu entwickeln ist.

(72.1.1) 08.06.2005, 17:48, Hans-Gert Gräbe: Das sehen relevante Diskurse etwa im Open Source Bereich deutlich individuumslastiger. (These 5: Es und Ich zu Lasten des Über-Ich, das hier bei dir ganz stark drin ist, einander wieder näher bringen).
Ich persönlich betone immer wieder, dass die Dichotomie individuell - gesellschaftlich zu kurz greift, da es massenhaft subgesellschaftliche Zusammenhänge gibt, in denen im Innenverhältnis genau dieselben Fragen stehen. Aber solche subgesellschaftlichen Strukturen haben dann auch noch ein Außenverhältnis.

(73)

Es geht um die Vereinigung von Freiheit und Gleichheit in einer brüderlichen Assoziation vernetzter, unabhängig agierender Produzenten, in welcher Gleichheit und Freiheit gerade durch Verschiedenheit der Kompetenzen und die Fähigkeit zum Eingehen verlässlicher Bindungen garantiert sind. In diesem Sinn bedingen sich Freiheit und Gleichheit gegenseitig und heiligen zugleich die Würde des Menschen.

(73.1) 11.05.2005, 17:06, Wolfgang Schallehn: Das mit den „unabhängig agierenden Produzenten“ ist in der IT-Sphäre ein partiell realisierbarer Traum - solange nämlich die Produzenten von einem abhängigen Job leben können. In der materiellen Produktion ist dies kaum als dominierndes Prinzip diskutabel (siehe 1. Knebelung der Zulieferer durch die Autokonzerne; 2. jugoslawisches Modell). Die Gesellschaft der Zukunft wird wohl nicht umhin kommen, als Auftraggeber für Produzenten aufzutreten, die dabei in wohldefiniertem Maße persönliche Pflichten z.B. bezüglich Qualität und Terminen übernehmen, was wiederum persönliche Freiheiten einschränkt.

(74)

Es geht um den "Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" (MEW 20, 264) als der Vollendung des Projekts der Moderne im Sinne von Kant, Hegel und der Aufklärung, um die volle Entfaltung des siebten Sinnes. Dann "wird er bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein." (Offenbarung 21,3)

(74.1) 26.04.2005, 18:17, uvvell ??: hier liegt der Hase im Pfeffer, die moderne dreiheit ist nach Hitler nur noch Hilti und LTI und neue Titel.
der Sprung ist "in der Schüssel"die durch die ganze Geschichte reicht nach Walter Benjamin; und die Schüssel ist voll Würmer (laut dem Chinesischen Buch der Wandlungen).
dann würden sie "ihn bei sich wähnen" aber sie sind nicht mehr ganz bei sich! eine Herde kennt nicht ihren Hirten, sondern den Stall, erkennt sich das Schaf glaubt es der Hirte verstünde sein blöcken im letzten Stündlein. Volksweisheiten entfalten oder zerknüllen "die siebentel Bauern" Sinne

(74.2) mal ein biszchen Licht in die Sache bringen, 29.04.2005, 13:03, Uvvell H:W:Berger: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/5/0,1872,2008837,00.html
http://www.bfed.info/bfed/tagebuch.doc
http://www.biblebelievers.org.au/nl344.htm
http://www.piltpress.com/news/content/view/348/2/
http://www.mdr.de/fakt/archiv/148819.html

(74.3) 11.05.2005, 17:07, Wolfgang Schallehn: Der „Sprung“ in die „Offenbarung“ ist mir gar zu allegorisch.
Wenn wir schon die Götter bemühen, dann halte ich es eher mit Goethes Pantheismus, dessen Wurzeln sich mindestens bis 500 v.u.Z. zurückverfolgen lassen: „THE GODS sell all good things for hard work“ (Epicharmos, der vermutlich gegen die Übersetzung nichts hätte...)
Lasst uns überlegen, was die richtigen Projekte sind, und dann, wie wir diese Projekte richtig realisieren. Ohne eine konkrete Vorstellung, was heutiges Projektmanagement ist und kann, wird das allerdings nicht gelingen...

(74.3.1) 08.06.2005, 17:50, Hans-Gert Gräbe: Im Kontext von (70.1.1) steht der Satz aus der Offenbarung schon anders da.

(75)

Referenzen und Fußnoten

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Wolf, F. O., Grenzen und Schwierigkeiten der freien Kooperation, In: Gleicher als andere, Eine Grundlegung der freien Kooperation, Spehr, C., Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 9, Karl Dietz Verlag, Berlin 212-225, 2003
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Wittenberger, W., Das Gute und das Böde oder wie Kant die Religion philosophisch beerbt, In: Aufklärung, Beiträge zur Philosophie Immanuel Kants, Bönisch, S., Texte zur Philosophie 15, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 67-90, 2005
[4]
Zwerenz, G., Elf Bemerkungen zu Sklavensprache und Revolte, In: Unabgegoltenes im Kommunismus, Der Funken Hoffnung im Vergangenen, Kinner, K., Diskurs - Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus 17, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 72-80, 2004
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Kurz, R., Der Kollaps der Modernisierung, Reclam Verlag, Leipzig, 1994
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Capurro, R., Leben im Informationszeitalter, Akademie Verlag, Berlin, 1995
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Käther, M., Über Marxens Rezeptionsmethode, Utopie kreativ 162 293-300, 2004
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Laitko, H., Bildung als Funktion einer multioptionalen Gesellschaft, Utopie kreativ 127 405-415, 2001
[10]
Hardin, G., The Tragedy of the Commons, Science 162 1243-1248, 1968, Siehe auch http://dieoff.com/page95.html
[11]
Seidel, H., Was heißt "konkrete Utopie"?, Erläuterungen zur Philosophie von Ernst Bloch, In: Unabgegoltenes im Kommunismus, Der Funken Hoffnung im Vergangenen, Kinner, K., Diskurs - Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus 17, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 80-88, 2004

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