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Die Situation des Hochschulwesens an der Jahrtausendwende

Maintainer: Hans-Gert Gräbe, Version 1, 09.01.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

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Universitäten im Wandel

Die Situation des Hochschulwesens an der Jahrtausendwende

Thesen

Prof. em. Dr. habil. Hansgünter Meyer, Berlin, Dezember 2000

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Diese Thesen sind ein Extrakt aus dem umfangreicheren Aufsatz "Hochschulen im Wandel - Richtungen, Holzwege, Zukunftschancen", Dez. 2000, zum selben Thema.

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I Die Hochschulen und Universitäten sind seit altersher ohne Krisenzustände nicht existent, was daraus resultiert, daß Hochschulen immer doppelt bestimmt sind: sie sind als Mesosysteme der Gesellschaft ein Derivat der vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, einschließlich der kontroversen Interessenstruktur der Akteure - und sie sind ein Produkt wissenschaftlicher Selbstorganisation und damit ein Produkt der menschlichen Kognition. Diese Durchflechtung von sozialer Gebundenheit und wissenschaftlich-rationalem Gestalten, zwei Erscheinungen, die niemals komplementäre Wesenheiten bilden, verursacht, daß Hochschulzustände prinzipiell nicht krisenfrei zu haben sind.

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Ein Aspekt davon ist, daß Wissen (wissenschaftliches Wissen) nur überdauert und sich fortbildet als Kumulation von Wissen - Wissenschaft ist immer Generationserfahrung. Die Verarbeitung neuen Wissens geschieht daher immer als Integration in einen gegebenen Wissensstand, was voraussetzt, daß Wissen aufbewahrt, konserviert werden muß. Das aber erzeugt in der Wissenschaft einen steten Hang zur Tradition, zum Konservativismus. Wissensbestände und die sie tragenden Institutionen wälzen sich daher aus gutem Grund nur mühsam um.

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II Das gesellschaftliche Bedürfnis nach wissenschaftlichem Wissen verschafft ihren Trägern, den graduierten Wissenschaftlern, eine wirtschaftliche Existenzgrundlage. Wissenschaftliches Wissen, Kognition, organisiert in wissenschaftlichen Disziplinen, wird angeeignet durch Bildung. Bildung erhält somit den Status einer wirtschaftlich verwertbaren Ressource, was sich aus der Rolle des bloß einzelnen Wissenschaftlers fortentwickelt hat zur umfassenden technisch-produktiven Verwertung.

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Damit entstand ein Massenbedarf an Wissenschaft und damit an graduierten Trägern von wissenschaftlichem Wissen. Zugleich wuchs das Erfordernis nach Wissenschaft und entsprechender Bildung über die Verwendung in der Produktion hinaus zu ihrer Verwendung in tertiären Bereichen. Wissenschaftliches Wissen erhält in steigendem Maße den Charakter allgemeiner Arbeit, die allen wirtschaftlich-praktischen Tätigkeiten vorgelagert ist.

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III Wissenschaftliches Wissen wird unter der Wirkung seiner wachsenden wirtschaftlichen Verwertbarkeit zu einem massenhaften gesellschaftlichen Bedürfnis. Sich Wissen als eine existentielle Ressource anzueignen, erfordert keine eigenen Besitzstände. Der internationale Konkurrenzdruck auf nationale Produktionsstandorte führt zusätzlich zu einer immer umfassenderen staatlichen Alimentierung von Wissenschaft und der Aneignung wissenschaftlicher Bildung. Es entstehen die Voraussetzungen und danach die Realitäten der "Expansion der Universitäten" (Windolf) und danach die sog. Massenuniversität (Wolfgang Wild, H.-U. Erichsen u.a.), die elitäre Bildung "erstickt". Aus einer kleinen Elite entwickelte sich im Verlauf des XX. Jahrhundert die Trägerschaft solcher Bildung zu einer breiten, etwa 1/3 der jüngeren Jahrgängen umfassenden sozialen Schicht.

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IV Die universitäre Massenbildung beginnt, den marktwirtschaftlich vermittelbaren Bedarf an Wissensträgern zu übersteigen. Frühere Maßstäbe weit überschreitend führt wissenschaftliche Bildung zu einem Verdrängungswettbewerb, der nicht nur die Lage geringer Qualifizierter beeinträchtigt, sondern auch die Privilegien und Besitzstände der arrivierten Schichten angreift. Es kommt zu einer neuen Runde von "Schließungsstrategien" (Max Weber). Die Hauptform, in der dieses Bestreben heute auftritt, ist die Forderung nach Privatisierung der Hochschulen, ihre Herausnahme aus der öffentlichen Hand und ihre Umstrukturierung in Gesellschaften oder Stiftungen bzw. Eigentum von Korporationen. Gegen ein derartiges Besitzstandstreben, das zugleich ein Versuch ist, Wissenschaft und Bildung zu monopolisieren bzw. sie den Sonderinteressen von Eliten unterzuordnen, muß die Kraft der demokratisch verfaßten Gesellschaft aufgeboten werden. Die demokratische Kultur der Moderne wird nicht nur durch politischen, rassistischen Rechtsradikalismus untergraben, sondern auch durch die Verfestigung von gesellschaftsfeindlichen Sonderinteressen, durch die Monopolisierung von Besitzständen und durch den egomanischen Ressourcen-Zugriff exklusiver Kreise.

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Die seit den frühen 80er Jahren (konservative Wende) anhaltende "stagnative Förderung" der Hochschulen durch privatwirtschaftliche bzw. staatliche Alimentierung (stagnatives Wachstum des Personals und der Budgets der Hochschulen bei fortlaufender Vervielfachung der Studentenzahlen und wachsenden Ansprüchen an die Verwertbarkeit der Forschung) ist das gesellschaftliche Reagieren der von der liberalen Wirtschaftsideologie bestimmten politischen Kräfte auf das unerwünschte Ausmaß der Bildungsexpansion. Daraus resultierte die erste Phase der Hochschulkrise, die eine Krise durch Mißstände ihrer inneren Strukturen und Potentiale war. Faktisch ist bis Mitte der 90er Jahre die Gewichtigkeit der Hochschulen im gesamten Wissenschafts-, Bildungs- und Innovationssystem stark abgebaut worden.

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V Die Krise der Potentiale und Kapazitäten (bzw. durch deren Mißstände) ist im Verlauf der 90er Jahre in eine Struktur- und Sinnkrise übergegangen. Die dem veränderten Bedarf an Hochqualifizierten (durch Verlauf der gegenwärtigen globalen wissenschaftlich-technischen Revolution) entsprechenden notwendigen Wandlungen in Lehrangeboten, Studienformen und Ausbildungsabschlüssen haben nicht oder nur unzulänglich stattgefunden. Die "Sprache der Ökonomie" (Rilling) und die immer mehr versagende Alimentierung ist in eine Sinnkrise umgeschlagen, die sich in der Idee von den Hochschulen als Wirtschaftsdienstleister äußert und in dem, was daraus an Entwertung ihres historischen Bildungs- und Kulturauftrags die Folge ist.

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Die Dienstleister-Idee ist auch insofern ein Weg in die Sinnkrise, weil sie die Hochschulen auf eine finale Entwicklungsform festzulegen bestrebt ist und damit die Spielräume wissenschaftlicher Vielfalt und künftig notwendiger Gestaltungen versandet. Den Hochschulen ist die Steuerbarkeit eines Großraumtankers eigen; man kann sie mit den Milliardenwerten ihrer Ausrüstungen, ca. 400.000 Beschäftigten, darunter ca. 40.000 Professoren, nicht nach kurz- oder mittelfristigen operativen Kriterien umsteuern.

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VI Dem Bestreben größerer Anteile der Jugendlichen (und ihrer Eltern) nach höherer Schulbildung und Erwerb der Hochschulreife wird heute von bestimmten politischen Kräften (auch von Kräften innerhalb des Bildungswesens) entgegengewirkt. Eine verbreitete Unkenntnis der Struktur und Funktion von Eliten ausnutzend, wird demagogisch gefordert, die wirtschaftliche und kulturelle Sonderstellung der Deutschen in der Welt (die durch eine politisch-militärische komplettiert werden soll) durch die Förderung von Bildungs- und Wissenschafts-Eliten zu erhalten und auszubauen. Gefordert und z.T. schon in Maßnahmen von Länderregierungen (z.B. Sachsen) umgesetzt, wird das elitäre, konservative "deutsche Abitur" früherer Zeiten. Durch eine unsinnige Steigerung der Anforderungen an ein monolith-konservatives Bildungsprofil soll ein Selektionsprozeß ingang gesetzt werden, der eine privilegierte (über die Ressourcen verfügende) und wertebestimmende Elite ausprägt. Damit sollen bestimmte demokratische Grundlagen der Bildungsexpansion in der heute noch gegebenen ordnungspolitischen Struktur unterlaufen werden. Die doppelte Bedeutung des Elitebegriffs wird unterschlagen. Die soziale Chancengleichheit durch Prozesse der Selbstorganisation der Wissenschaft (respektive der Wirtschaft), die differenzierte Funktions- und Verdiensteliten herausbildet, soll verkürzt und im Interesse von Besitzeliten präformiert werden.

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Zu fordern ist daher eine Weiterentwicklung der Hochschulreife vermittelnden Schulen, daß sie durch ein differenziertes, pluralistisches Angebot den vorhandenen Bildungsbedürfnissen und -erfordernissen mit mindestens 6 Grundprofilen entsprechen, darunter ausreichend frequentierte Hauptrichtungen geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Charakters, sowie solche mit praktisch-beruflicher Ausrichtung. Die Frequenz der Abitur-Abschlüsse je Jahrgang von heute 24% in westdeutschen, 27% in ostdeutschen Ländern ist bedeutend zu überschreiten.

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Im Zusammenhang mit dem raschen Wachstum des Bedürfnisses nach gymnasialer Bildung sind Theorien aktiviert worden, daß es für eine solche Expansion kein in den fraglichen Größenordnungen genetisch gesicherte intellektuelles Potential gäbe. Solche Konzepte und ihre Scheinbegründungen (mittels fragwürdiger Testverfahren) entstammen inhumanen biologistisch-rassistischen Ideologien, die im rechten politischen Spektrum beheimatet sind. Zielstrebig werden dabei Begabungen und Hochbegabungen begrifflich vermengt. Das bestehende, ausgewogene Kontinuum zwischen hinreichender intellektueller Fähigkeit und extremer Hochbegabung wird unterschlagen. Wissenschaftliche Bildung verlangt nicht a priori Hochbegabungen, wohl aber sind Hochbegabungen ein personaler Status, welcher zu den (absolut seltenen) wissenschaftlichen Leistungen von Jahrhundertbedeutung führen kann.

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VII Um durchgreifende Reformen der Hochschulen und Universitäten ingangzubringen, ist als erstes die Fesselung der Hochschulen durch ihre stagnative Alimentierung aufzulösen und jeder Versuch zu beenden, den weiteren Verlauf der Bildungsexplosion zu stoppen (was auch mit Blick auf die durch brain-drain der dritten Welt zu gewinnenden viel billigeren human-resources großen Ausmaßes, maßgeblichen Akteuren ergiebiger scheint und daher zu bevorzugen sei).

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Weiterhin sollten alle Versuche aufgegeben werden, durch Hierarchisierung und Management-Praktiken den Hochschulen ein allgemeines Funktionsmodell aufzunötigen, das sie administrativen Zugriffen und den Dienstleistungsforderungen der Wirtschaft eher zugänglich macht. Die Suche nach dem optimalen oder "richtigen", allen heutigen "modernen" Trends gerechtwerdendes Modell einer Hochschule bzw. Universität ist vergeblich, ist einfach falsch. Sie führt zu sinnlosen Konfrontationen und kräftezehrenden Experimenten. Die Idee eines uniformen oder weitgehend uniform gelenkten Hochschultypus widerspricht den Lebensformen einer modernen, pluralistischen Gesellschaft. Die Lösung der gegenwärtigen Struktur- und Sinnkrise liegt in einem pluralistischen Ansatz für die Herausbildung optimaler, funktionssicherer Beziehungen, Regelungen, Zuordnungen, Befugnissen von Amtsträgern, Gremien, Professoren, Graduierten, Mitarbeitern.

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Ordinarien-Universität oder nicht, Gruppen-Universität oder nicht, Hierarchisierungen oder nicht, Manager-Rektoren und Manager-Dekane oder nicht, Globalhaushalte oder nicht - das alles sind nur scheinbar echte Alternativen. Die Fehlerhaftigkeit liegt (und lag) darin, daß das mit solchen Strukturen jeweils verbundene vernünftige Prinzip bis weit über seine Sinnfälligkeit hinaus monolith ausgeprägt wurde und damit bürokratisch, starr, unflexibel, disfunktional reagierte.

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VIII Um sich über die Art und Notwendigkeit von Reformen zu verständigen, muß man sich vergegenwärtigen, daß diese abzuleiten sind aus Zielstellungen. Diese sind seit je mannigfaltig, multidimensional. Es müssen solche Veränderungen stattfinden, die möglichst vielfältige Wirkungen haben. Die heute verbreitete Formel, mit weniger Mitteln mehr leisten, zielt primär nicht auf mehr und bessere Ergebnisse ab, sondern auf Verringerung des Mitteleinsatzes. Sie ist bürokratisch einfältig und irrig. Die damit zusammenhängenden Forderungen, die Hochschulen betriebwirtschaftlich durchzuorganisieren, bewirkt, daß die Distribution unzulänglicher Budgets vor der genuinen Leistungsentwicklung rangiert. Betriebswirtschaftliche Kriterien ergeben keine Strategie exzellenter Ergebnisse in Forschung und Lehre, sondern legitimieren ein verschämtes Krisenmanagement, das die Grundfragen nicht anpackt.

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Die wissenschaftsgeschichtlich begründete oberste Zielstellung, der alles unterzuordnen ist, ist die Generierung von Erkenntnissen mit höchstmöglicher Reichweite und Gewichtigkeit, d.h. die Hervorbringung von exzellentem Wissenschaftswissen unter Beachtung von stringent-rationalen Kriterien seiner kognitiven bzw. praktischen Bedeutung. Dabei sind Wissenschaft und Wissenschaftswissen in ihrer Einheit auszuprägen, ist Raum zu gewinnen für Ganzheitlichkeit, für integrative Zusammenführung der disziplinär-arbeitsteilig ausgeführten Projekte, für die Bewahrung des erkenntnis-logischen Zusammenhalts der Einzeldisziplinen. Der Tendenz der Abschottung der eigenen Disziplin ist entgegenzutreten. All dies ergibt sich aus dem wissenschaftlichen Gesamtbedürfnis einer Gesellschaft mit hoher Lebensqualität und aus den Bedingungen eines weiteren intensiven Erkenntnisfortschritts selbst. Die vorrangige Verwertbarkeit der Ergebnisse der Hochschulforschung als Teil oder als Nothelfer branchen-spezifischer oder einzelner technischer Vorhaben der industriellen F&E - oder gar ihre konzeptionelle Beschränkung darauf - ist im heute erreichten Wissenschafts-Technik-Verhältnis kein Gütezeichen, sondern eine Fehlentwicklung der Hochschulforschung, die zur Einschränkung und Minderwertung der Grundlagenforschung führt. Damit wird das Spektrum künftigen Fortschritts durch Wissenschaftsverwertung eingeengt.

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Hochschulforschung ist Grundlagenforschung per se, allerdings unter Beachtung der Sachlage, daß es unter den 315 Hochschulen solche mit größerer Industrie-Praxisnähe gibt, u.a. berufsorientierte Fachhochschulen, für welche praxisnahe Diversifikationen dieses Grundsatzes gelten. Ferner gilt, daß exzellente Grundlagenforschung die Möglichkeit praktisch-technischer Verwertbarkeit ihres Wissens einschließt und sich zu dieser ihrer Bedeutung, die ja selbst eine dezidiert gnostische Herausforderung darstellt, nicht gleichgültig verhält. Weitere, die Kompetenz der Hochschulen u. U. überschreitende Fragen ergeben sich daraus, daß viele Zwischenschritte nötig sein können, um aus Grundlagenerkenntnissen eine Technikanwendung oder eine unmittelbare Verwertung in der Produktion/Praxis zu erreichen.

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Über die zu fordernde Qualität bzw. zu erreichende bzw. erreichte Zielstellungen von Wissenschaft und Forschung kann sachkundig nur durch die Wissenschaft selbst entschieden werden. Das schließt Urteile, und Wertungen von Vertretern der Gesellschaft: Amtsträger, Politiker, Unternehmer, Geschäftsleute, Ingenieure, Ärzte u.a., die mit Wissenschaftsexponaten konfrontiert sind, nicht aus. Im Gegenteil, Wissenschaftler werden bemüht sein, solche externen Urteile und Bewertungen einzuholen und auszuwerten, um daraus Konsequenzen für die Anlage von Forschungsprojekten und für die Bewertung von Wissenschaftswissen abzuleiten. Darüber hinausgehende bürokratische, administrative Eingriffe in Wertungen und Klassifizierungen sind abzulehnen.

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IX Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, wie Reformen entwickelt, begründet und praktiziert werden. Das Ziel von Reformprojekten in den Hochschulen ist die Überwindung von leistungsmindernden Funktionsdefiziten, die als Folge struktureller Fehlentwicklung in großer Zahl auftreten. Sie sind ebenso wissenschafts-untypisch (exogen verursacht), wie sie wissenschafts-typisch sein können (endogen verursacht). Sie sind nicht generell durch singuläre Maßnahmen en bloc zu beheben. Da sie eine Art strukturell bewirkter Insuffizienz sind, können sie nur durch einen komplexen Prozeß der Evolution, an dem ausnahmslos alle Gliederungen der Hochschule/Universität beteiligt sind, in einen höheren Gesamtzustand des Funktionierens überführt werden.

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Ein solcher Prozeß muß nicht erfunden werden, er existiert seit Jahrhunderten und hat, trotz mannigfacher Widrigkeiten und Rückschläge, die Wissenschaft zum größten Langzeit-Erfolgsunternehmen der Menschheit gemacht (*). Das evolutionäre Prinzip, das sie trägt und entwickelt, hat in die Fachliteratur als "Selbstorganisation der Wissenschaft" begrifflich Eingang gefunden. Das Entstehen von erfolgreichen Reformideen und -projekten sowie ihre nachhaltige institutionelle Umsetzung kann nur ein Ergebnis der Selbstorganisation der Wissenschaft sein - oder es wird nicht sein. Daß Hochschulgesetze der Länder die historischen Resultate der Selbstorganisation von Wissenschaft kodifizieren und dazu eine Reihe Rahmenbedingungen fixieren, die für sie als öffentlich-rechtliche Unternehmen konstitutiv sind, ist mit diesem Postulat vereinbar.

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Hochschulen sind hinsichtlich ihrer Verfaßtheit und "Betriebsorganisation" in vielerlei Gestalt möglich. Deshalb sind die mannigfachen Reformideen, die gegenwärtig diskutiert werden, soweit sie aus den Erfahrungen von Forschung und Lehre herrühren, der Tätigkeit wissenschaftlicher Gremien elementar entsprossen sind, fast immer für die Reform der Hochschulen brauchbar und sollten dort, wo man sie haben will, auch realisiert werden. Zum Beispiel das weitgehende Konstanzer Reformprojekt des Professors Mittelstraß, das bereits prominent ist, sollte man, wenn es in Konstanz genügend Akteure gibt, die es ganz oder partiell umsetzen wollen, zur Ausführung bringen, es kann auch zur Anregung für andere Universitäten propagiert werden, aber die Landesregierungen oder die HRK oder die KMK sollten sich enthalten, es als erstrebenswertes Zukunftsmodell anderen Hochschulen ganz oder partiell aufzunötigen. Was hier für Konstanz exemplifiziert wurde, gilt für alle anderen Reformprojekte gleichermaßen. Im Ergebnis solch vielgestaltigen Reformstrebens wird eine Pluralität von Strukturlösungen die Hochschullandschaft kennzeichnen.

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X Die Selbstorganisation von Wissenschaft erzeugt nicht automatisch Vollkommenheit; sie benötigt ein Regulativ, das schneller wirkt als es das evolutionär-selbsttätige Prinzip der Selektion und Ausmerzung vermag. Selbstorganisation von Wissenschaft erschöpft sich nicht in der Generierung von Forschungsvorhaben und der Gründung von Institutionen bzw. Kooperationen, die sie ausführen, sie ist erst vollständig als Prinzip der Bewertungen und Ressourcen-Zuführung (Alimentierung), das in die wissenschaftssoziologische Literatur von dem US-Amerikaner Robert K. Merton (1965) als das "Science Reward and Communication System" eingeführt wurde (zu deutsch etwa: Wissenschaft unter den Bedingungen von Bewertung und Auspreisung). Evolution ist immer abhängig von Erreichbarkeit und Umfang von Ressourcen.

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Die angestrebte gerechtfertigte Bewertung (Evaluierung) von Forschungsvorhaben und deren Resultate als "exzellent und erfolgreich" (und ggf. auch als "unzureichend") ist der Drehpunkt aller Wissenschaftsorganisation und ihrer Reformierung; sie ist zugleich ein enorm schwieriger, mehrstufiger Prozeß, der prinzipiell durch wissenschaftliche Colleges, Gutachter, Institutionen und Gremien zu leisten ist. Das Ergebnis der Bewertung ist in der ersten Stufe die Start-Ausstattung eines perspektivreichen Projektes, in den folgenden Stufen die Ausreichung von Ressourcen, die dem Forschungsprozeß, wenn er erfolgreich ist, Kontinuität verleihen. Kontinuität, Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit der Ressourcenausstattung ist eine wesentliche Komponente des Forschungserfolges. Das Moment der Unsicherheit von Bewertung und Ergebnis ist nicht aufzuheben, es ergibt sich daraus, daß Forschung nur Sinn hat, wenn sie Erkenntnishorizonte überschreitet, Bewertungen jedoch nur unterhalb des gegebenen Erkenntnishorizontes der Bewerter stattfinden können.

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Die objektive Logik von Bewertung und Auspreisung unterliegt dem "Matthäus-Effekt" (Merton). Die Verteilung (Akquisition, Zuerkennung) von Drittmittel auf die Hochschulen ist extrem ungleich, z.B. von den 89 Hochschulen, die von der DFG überhaupt nur berücksichtigt werden (von 315), erhalten 45% der Empfänger 90% der Mittel. Die 10 best-alimentierten erhalten Eindrittel der Zuführungen. (Kreckel) Trotz verstärkter Beteiligung an der Industrieforschung liegt die Alimentierung durch die Unternehmen unter 10% des Aufwands für die Hochschulforschung. (Adamszak/Döge)

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Die Ungleichverteilung der Ressourcen erzeugt Leistungsdruck und ist daher auch forschungsfördernd, andererseits polarisiert sie die Hochschulen und führt zu Bereichen mit dauerhafter Unterentwicklung und Leistungsminderung. So, wie alle Beamten und Behörden eine zugesicherte Versorgung in Anspruch nehmen, unabhängig davon, ob sie als Leistungsträger Bestform erreichen oder nicht, ist jeder Hochschuleinheit eine verläßliche Mindestausstattung für Forschungsvorhaben zu gewähren, die im Falle positiver Evaluation forschungswirksam aufzustocken ist.

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XI Im Unterschied zu außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen müssen die Hochschulen den Anforderungen gerecht werden - und dazu instand gesetzt werden - die sich aus der Vermittlung von Wissenschaftswissen an Studenten, Postgraduale und weiterzubildende Berufstätige ergeben. Die Dualität von Lehre und Forschung muß kapazitiv gesichert werden. Mit disziplinär, interdisziplinär und transdisziplinär ausgerichteten Lehrangeboten und den sie tragenden Lehrkörpern sichern die Hochschulen den nationalen Beitrag zum Bestand des internationalen Wissenschaftswissens. Entsprechend der unabdingbar historisch-ganzheitlichen Konsistenz von Wissenschaft, ist auch im Lehrangebot Sorge zu tragen, daß übergreifende Kenntnisse, Orientierungswissen (Stichwort: Studium generale), Ganzheitskonzepte ausreichend zur Geltung kommen.

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Der Prozeß der Bewahrung, Weiterentwicklung, die lehrende Weitergabe sowie die kreative Neuaneignung durch jede neue Generation wird als "Bildung" bezeichnet. Jeder Bildungsprozeß enthält - in ungleicher Proportionierung - die Elemente der Bewahrung und Weiterentwicklung der Wissensgrundlagen und der Wissensvermittlung plus Rezeption (Lernen) von wirtschaftlich-beruflichen Anwendungs-(Verwertungs)-Wissen. Die gesellschaftliche Moderne (die wir hier als die Zivilisationsstufe unserer Zeit verstehen) ist extrem informations- und wissensabhängig. Obgleich die Verwertbarkeit kruzfristiger Anlernqualifikationen ihre Bedeutung behält, zeichnet sich in den kommenden Jahrzehnten das Erfordernis ab, tendenziell gegen 50% der Heranwachsenden eine wissenschaftliche oder wissenschafts-fundierte Bildung zu vermitteln. Diese Frequenz ergibt sich aus den Anforderung der den Arbeitsprozeß bestimmenden technischen Regimes plus dem Bildungsbedürfnis der Bevölkerung. Zu dieser Sichtweise gelangt man, wenn man die modernen Gesellschaften nicht nur als Arbeitsgesellschaft, sondern als Kulturnation begreift. Es ist dabei inkauf zu nehmen, daß das Aufnahmevermögen des Arbeitsmarktes partiell überschritten werden kann. Es ist die absurde Wirtschaftslogik überfüllter Arbeitsmärkte zu überwinden, daß man einem Menschen, wenn man ihm schon keine Arbeit garantieren kann, auch eine höhere Bildung vorenthalten muß. Die Verwertung von Bildung erfolgt nicht nur durch den Job, der gerade vermittelt ist.

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Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen orientieren sich für kommende zwei Jahrzehnte auf eine Studienkapazität, die 30% der Jahrgänge abdeckt.

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Probleme der für die Wirtschaft vorteilhaften, aber schwierigen Neueinstellung und Beschäftigung so vieler akademischer Newcomer, die nicht ausbleiben, werden durch eine Reorganisation der technische Innovationen fördernden Personalkostenzuschüsse gemildert, zu deren Praktizierung es Jahrzehnte lange Erfahrungen gibt. Es ist hier mit einem bedeutenden Sektor der Kosten von Innovationen zu rechnen, die von der öffentlichen Hand zu tragen ist. Der langfristige wirtschaftliche Nutzen wiegt dies aber vielfach auf.

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Das gesamte nationale Bildungsniveau wird anteilig durch Universitäten, Hochschulen, Fachhochschulen, höhere Fachschulen und Berufsfachschulen realisiert. Die Bildungsangebote sind notwendigerweise nach fachlicher Ausrichtung, Ausbildungsdauer und nach dem wissenschaftlichen Anspruchsniveau stark differenziert auszugestalten. Gegen den vorzeitigen, abschlußlosen Studienabbruch sowie willkürliche Abschlußverzögerungen sind wirksame Barrieren zu errichten, u.a. ist ein Angebot differenzierter vorzeitig-formeller Abschlüsse anzulegen.

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Die Hochschulen legen ihre Studien-Kapazitäten selbst fest, wobei sie als Hauptkriterium die Studierwilligkeit der Abiturienten berücksichtigen. Die Ausstattung der Lehrinstitutionen mit Lehrkräften und Lehrmitteln erfolgt nach der faktischen Studienkapazität. Überlast-Zustände und Betreuungsdefizite sind durch Budgets-Korrekturen mit öffentlichen Mitteln umgehend aufzuheben. Für sog. Modeberufe mit einer Übernachfrage nach Studienplätzen (für Ärzte, Juristen, Lehrer, Betriebswirte, Sozialberufe) wird eine moderne Studienberatung eingeführt, die Ausweichberufe/Studienplätze vermittelt.

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XII Die Reformbestrebungen der Hochschulen, die teils zukünftige Ordnungen vorbereiten helfen, z.T. akute ernste Mißstände beseitigen müssen, sind nur durchzuhalten bei einer steten, garantierten Erweiterung des Rahmens der Alimentierungen bzw. der Ausstattung mit personellen und technischen Ressourcen. Die Möglichkeiten einer modernen Gesellschaft für die Ausstattung des nationalen Wissenschafts-, Forschungs- und Hochschulsystems sind mit weniger als 3% des Bruttosozialprodukts bei weitem nicht ausgeschöpft. Diese Budgets-Formate sind kein objektiver Parameter innovativer wirtschaftlicher Kraft, sondern ein Kompromiß zwischen konkurrierenden politischen Kräften. Wenn sich heute in Deutschland ein Militärapparat mit fast 300.000 Personen und mehr als 60 Mrd. DM Ausstattung und weniger als 400.000 Hochschulmitarbeiter bei etwa der Hälfte an Aufwendungen gegenüberstehen, so ist die Verhältnismäßigkeit bei der Gewichtung der Komponenten nationaler Existenz- und Sicherheitsbedingungen auf groteske Weise verletzt, ganz zu schweigen von der unkontrollierten und jede ökonomische Vernunft überschreitenden Anhäufung von privaten Vermögenswerten in Billionen-Höhe.

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Es ist eine Frage der nationalen Vernunft und des Verständnisses für künftige Dimensionen innovativer Prozesse in allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen, im kommenden Jahrzehnt die öffentlichen Haushalte und die externen Unternehmensaufwendungen so umzuschichten, daß sich die Budgets der Hochschulen verdoppeln. Eine derartige Umsteuerung hat nicht die Kargheit der Mittel, sondern eine anachronistische und parasitäre Interessenlage gegen sich. Das bedeutet, bestimmte Kräfte setzen fernerhin ihre eigensüchtigen Besitzstände und egomanischen Ansprüche gegen eine vernünftige gesamtgesellschaftliche Interessenlage durch. Der Kapazitäten verschleißende Sparkurs des Fiskus an den Hochschulen, seine betriebswirtschaftliche Kanalisierung und Vertuschung sowie sein politisches Schönreden sind der abenteuerliche Versuch, die Zukunft zu gewinnen durch die Unterordnung der Gesellschaft unter die Interessen einer Elite der Besitzstände und die lückenlose soziale Disziplinierung der Vielen.

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Die Gesellchaft der Moderne ist eine hohe Form der Zivilisation, die auf Wissenschaftswissen, Bildung und Information beruht, ihre soziale Struktur kann nur die einer arbeitsteiligen Vielfalt sozialer Differenzierung mit starken Akzenten sozialer Abfederung / sozialen Ausgleichs sein. In einer solchen sozialen Ordnung sind auch exponierte soziale Besitzstände und Schieflagen zu integrieren und zu kultivieren, die anders zu sozialen Polarisierungen, Zerreißungen und tragischen Gewaltzuständen führen würden. Insofern ist die Wissenschafts- und Bildungs-Expansion, der Aufstieg der Hochschulen zum "dritten Volksbildungssystem" und was daraus folgt, ein Prozeß der zivilisatorischen Selbststeuerung der Gesellschaft, der Moderne vertieft und sie ausreifen läßt und der die Lebensqualität der Vielen durch den sozialen Ausgleich mit der Kraft der Bildungs- und Funktions-Eliten stetig erhöht.

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Anmerkung: Ein solcher Satz wirft die Frage auf, wie die Katholische Kirche hier einzuordnen ist. Zweifelsohne ist sie auch ein äußerst erfolgreiches Langzeitunternehmen, das alle sozialstrukturellen, politischen und kulturellen Umstürze und alle Staatengründungen und -zusammenbrüche seit dem Altertum überstanden hat. Bemerkenswerterweise hat sie mit der Wissenschaft gemeinsam, daß ihre Konsistenz die des Zusammenhalts eines geistigen Prinzips ist - und, soweit es ihre Institutionen anlangt, ist es ein Zusammenhalten durch ein geistiges Prinzip. Im Unterschied zur Wissenschaft ist die Katholische Kirche jedoch kein gnostisches Unternehmen, sondern eines des Glaubens. Dieser Glaube besteht darin, daß die Grundlagen der Zivilisation des Altertums religiös-verklärt, also mystifiziert wurden und in dieser Form eines elementaren, stark konservativen Zivilisationsbewußtseins allen späteren Zivilisationsgründungen vorausgingen und sie prägten. Nicht die wissenschaftliche Erfahrung um die sozial-kulturellen Grundlagen der Hochzivilisation des Altertums hat, soweit geistige Komponenten die spätere Entwicklung von Zivilisationen mitbestimmten, sondern die Umwandlung der sozialen Erfahrung in ein religiöses Seins-Verständnis. Die eine solche geistige Kontinuität ermöglichende Beschaffenheit des realen Seins ist freilich etwas sehr Profanes: Die ungebrochene Kontinuität der Grundlegung der Zivilisationen als eine Reihe durch das Privateigentum an Boden, Bauwerken und Produktivvermögen bestimmter und sich nach gleichem Prinzip ablösender Ordnungen.

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Personalia

Meyer, Hansgünter, Prof. em. Dr. phil. et rer. oec. habil., geb. 1929. Studium der Gesellschaftswissenschaften 1954-1958 an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1960-1965 Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Promotion 1964, 1975-1988 Gastvorlesungen an der Humboldt-Universität zu Berlin, dort Habilitation 1969 (zus. mit Manfred Lötsch). 1965-1991 Akademie der Wissenschaft der DDR, 1973 Professur, Abteilungslt. bzw. Themenlt. für Sozialstrukturforschung und Wissenschaftssoziologie, 1992-1994 Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 1990-1993 Vorsitzender der Gesellschaft für Soziologie der DDR/Ostdeutschland. Seit 1993: Vorsitzender des Wissenschaftssoziologie und -statistik e.V. Berlin


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