Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Kapitalismus - Sintflut ohne Arche? (Teil 2 von 4)

Maintainer: Uli Weiss, Version 1, 10.11.2001
Projekt-Typ: geschlossen
Status: Archiv

Denunziatorische Kapitalismuskritik

(1) Seit 150 Jahren gibt es Marx' Theorie, auf die sich sowohl die Ideologen des gescheiterten Aufklärungs-"Sozialismus" wie die der unterschiedlichsten westlichen Avantgarden verbal bezogen und die sie in wesentlichen Grundzügen zugleich ignorierten. In Marx' Verständnis ist die bürgerliche Produktionsweise mit ihren extremen Gegensätzen, barbarischen Zügen und vernichtenden Krisen ganz und gar nicht absurd, nicht von einer angenommenen Natürlichkeit entartet. Sie ist kein Produkt eines Priesterbetruges, das durch Aufklärung und Erziehung aufzuheben wäre, sondern eine der "progressiven Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformationen". (MEW 13/9)

(2) Im Kommunistischen Manifest wird geradezu gejubelt über die Fähigkeit der Bourgeoisie, die kapitalistische Produktion beständig zu erweitern und umzuwälzen. Und das Kapital ist keine Aufzählung von Absurditäten, sondern die Darstellung der inneren (sozusagen gerechten, nicht betrügerischen) Logik der kapitalistischen Produktionsweise inklusive ihrer barbarischen Züge. Die Widersprüchliche der kapitalistischen Form der Zivilisation sind nicht das Produkt der Bösartigkeit der Kapitalistenklasse und ihrer Ideologen. Die Eigenschaften dieser Klasse wie die der Proletarier entstehen und verändern sich mit der kapitalistischen Produktionsweise als eine ihrer Bedingungen.

(3) Mit Marx' Theorie, beginnend etwa mit der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (MEW 1/378-91) und den Thesen über Feuerbach (MEW 3/5ff), sind auch die Grenzen und der letztlich bürgerliche Charakter des Anklagens kapitalistischer Barbarei zu verstehen. Im Sinne des Erkennens von Bedingungen und Wegen des Aufhebens des Kapitalismus ist denunzierende Anklagerei kontraproduktiv. Denunziation bedeutet hier, dass für die Missstände bestimmte soziologische Gruppen (Klassen) und deren Ideologen verantwortlich gemacht werden, dass aber die Empörung nicht zu den Bedingungen des tatsächlichen Aufhebens des Beklagten vordringt.

(4) Die moralisierende Kapitalismuskritik hatte in der Vergangenheit durchaus eine zivilisationsfördernde Funktion. Indem sie kapitalistische Barbarei als Ausdruck von Absurdität, als Abweichung von Natürlichkeit, als Bösartigkeit von bestimmten Personengruppen darstellte, konnten sie tatsächlich Unterprivilegierte mobilisieren. Durch diesen Kampf war auch eine Verbesserung ihrer Lebenslage erreichbar. Eine Erfolgsbedingung dieses Ringens war allerdings die Unterordnung von Teilen der unterdrückten Klasse unter trade-unionistische und avantgardistische Führungen.

(5) Die Grenze dieses Kampfes ist dort erreicht, wo die Sicherung und der Ausbau von Zivilisation bedeutet, die Existenzbedingungen der Klasse(n) und damit auch die Bedingungen ihrer bisherigen Kraft (inklusive der Reproduktion bürgerlicher Strukturen in ihren Kampforganisationen) selbst aufzuheben. Die Denunziation der kapitalistischen Verhältnisse als absurd ist nicht geeignet, diese Tatsache zu begreifen. Es wird so nicht klar, dass es die Lebens-, Arbeits- und Denkweisen der Unterprivilegierten selbst sind, also die Bedingung auch ihrer bisherigen Stärke im Klassenkampf, die radikal geändert werden müssen.

(6) Das bedeutet hinsichtlich unserer Suche nach den möglichen Wegen aus dem Kapitalismus: Wer die kapitalistische Barbarei zornig als bösartige Abweichung von einem angenommenen natürlichen vernünftigen Zustand anklagt, kann die im Kapitalismus selbst entstehenden materiellen und subjektiven Voraussetzungen für die Aufhebung dieser Barbarei nicht erkennen. Wer also etwa die angebliche Absurdität der extremen Einkommensunterschiede zwischen Lohnarbeitern und Großspekulanten zum Gegenstand seiner Anklage und seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit macht, versteht das Wesen der kapitalistische Produktionsweise, das seiner eigenen Existenz, und damit die Möglichkeiten der Aufhebung von Kapitalismus nicht.

(7) Kurz' heiliger Zorn auf den Kapitalismus als etwas Teuflisches ist auch deshalb ärgerlich, weil ihm all das Obengenannte bekannt sein müsste. Er kennt sich in der Marxschen Theorie einigermaßen aus. Er selbst hat nicht nur das bürgerliche Wesen des Ostens nachgewiesen (wozu zum Beispiel traditionelle kommunistische Parteien und ihre Nachfolger meist nicht in der Lage sind). Er stellt im Schwarzbuch (289ff) auch dar, wie ein verkürzter, denunziatorischer Antikapitalismus sogar zum mörderischen faschistischen Antisemitismus werden kann. Und er hat seit ca. 30 Jahren persönlich die Geschichte der gescheiterten westlichen Aufklärungsrevolutionäre durchlebt, durchlitten und durchdacht.

(8) All das müsste ihn geradezu für die Erkenntnis prädestinieren, dass Kapitalismus (inklusive seiner real-"sozialistischen"Variante) eben nicht als Priesterbetrug zu verstehen ist. "Priesterbetrug" meint hier, dass Kapitalismus als ein künstlich entstandenes und aufrechterhaltenes, aber eigentlich widernatürliches Gebilde begriffen wird, dass also dieser angebliche Betrug wie die von ihr scheinbar böswillig installierten Verhältnisse durch Aufklärung und durch Beseitigung der Priester (hier der kapitalistischen Unternehmer, ihrer Ideologen und Machtmittel) aufzuheben wäre. Für die bürgerliche Ideologie (den ML eingeschlossen) gilt, was Marx seinerzeit für die Religion erkannte: Sie ist nicht als ein von Priestern/Propagandisten verabreichtes Opium für das Volk zu verstehen und aufzuheben. Sie geht vielmehr als "Opium des Volkes" aus gesellschaftlichen Strukturen hervor. Diese Verhältnisse, die der Religion bedürfen, "produzieren die Religion". (MEW 1/378f)

(9) Wenn die von Kurz als bösartig kritisierte bürgerliche Ideologie aufhebbar sein soll, dann müssen in der gesellschaftlichen Grundlage materielle und ideelle Voraussetzungen für eine solche revolutionäre Praxis im Entstehen sein, die, keiner Ideologie mehr bedarf. Wer also diese Ideologie überwinden will (und die Gesellschaft, aus der sie unvermeidbar hervorgeht), muss sich für die Formen und die realen Keimformen einer solchen Praxis interessieren und sich für deren Durchsetzung engagieren. Mit einem Verständnis des Kapitalismus als Resultat von Betrug und Terror geht das nicht.

Das Kapitalismusbild, Vorstellungen von Sozialismus ...

(10) Kurz wird hier widersprechen. Er wird darauf verweisen, dass er verschiedene Elemente darstellt, die den Kapitalismus in Gang setzten: Absolutismus, Staatsökonomie, Exportismus, Kolonialismus, Weltmarkt, die bürgerliche Ideologie also auch bei ihm eine reelle Grundlage habe. Udo Wolter (2000, 16) hierzu: "Die damit einhergehende Herausbildung moderner Subjektivität wird jedoch vor allem als Resultat von physischem Zwang und liberalistischer 'Herrschaftsideologie' thematisiert [...]. Der Liberalismus wird so zu einer Art ideellem Gesamtzuchtmeister des Kapitalismus, der als böser Geist in der 'schönen Maschine' sitzt." Genau dies ist die Kurzsche Methode zum "Verständnis" des ideologischen Einordnens der Menschen in die von ihnen getragenen kapitalistischen Verhältnisse. Wir werden später die Frage erörtern, ob es auf der Basis überhaupt möglich ist, die Herausbildung des gesellschaftlichen Individuums (Marx), das den Kapitalismus aufzuheben vermag, sinnvoll zu thematisieren.

(11) Nicht die Kurzsche Anklagerei der angeblichen Absurdität des Kapitalismus an sich ist interessant (sie wurde ohnehin schon unzählige Male mit bekannten "Erfolgen" geleistet). Viel wichtiger ist es zu begreifen, wieso Kurz selbst auf diese vormarxsche Methode der Gesellschaftskritik verfällt? Der Leser könnte fragen: "Ist es überhaupt wichtig, dies zu begreifen?" Ich meine schon, denn Kurz führt hier nur in exemplarischer Form eine Denkweise vor (die ich einst selbst praktizierte), die in ihren Grundzügen auch heute das Alltagsbewusstsein dominiert. Bei allen sonstigen interessanten Passagen des Schwarzbuches, für einen Sozialisten ist es geradezu eine Pflicht, sich mit einer derartigen Denkweise auseinanderzusetzen. Samt ihren Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, ob und wie ein Ausweg aus dem Kapitalismus denk- und gehbar ist, tritt sie in diesem Werk prägnant hervor. Es wäre töricht, sich die Kritik an der Kurzschen Anklagerei deswegen zu verkneifen, weil mensch froh ist, dass angesichts der sonstigen Windstille sich überhaupt jemand an einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik versucht.

(12) Das Kapitalismusbild des östlichen ML (Kapitalismus als ein politisch, ideologisch und durch blanke Gewalt künstlich aufrechterhaltenes System) erinnert stark an das Schwarzbuch.[7] Als einstiger Patriot der DDR musste ich inzwischen erkennen: Dass der Osten bei Freund und Feind als sozialistische Aufhebung der Kapitalverhältnisse verstanden wurde (und nicht als deren nachholende Entwicklung in einer spezifischen Form) resultiert auch aus einem Missverständnis des Kapitalismus.[8] Die Annahmen des ML, eine sozialistische Warenproduktion, eine sozialistische Herrschaft, ein sozialistischer Staat usw. seien denkbar und im Osten realisiert, sind auch Konsequenzen auch aus seiner spezifisch verkürzten Kapitalismuskritik.

(13) Die Marxschen Kritiken der Politischen Ökonomie wurden in einer Weise gelesen und zur Begründung der praktischen Politik genutzt, als habe Marx nicht Das Kapital, sondern Die Kapitalisten geschrieben, als könne demzufolge die Vertreibung der Angehörigen der Kapitalistenklasse und ihrer Ideologen sowie deren Ersetzung durch "sozialistische" Funktionäre den sozialistischen Charakter der Produktions- und Lebensweise begründen.

(14) Sozialismus wurde als eine Gesellschaft definiert, in der die Funktionen der traditionellen Kapitalisten durch den Staat übernommen und revanchistische Begehrlichkeiten der alten eigenen Kapitalistenklasse oder die der konkurrierenden westlichen Staaten erfolgreich abgewehrt werden. Demnach erschienen die östlichen Gesellschaften um so sozialistischer, je mehr der Staat Produktionsmittel in seiner Hand konzentrierte und je mächtiger politische und militärische Strukturen waren. Die logische Folge: als die revolutionärsten sozialistischsten Organe erschienen die Armee, das KGB, das MfS usw. Der treu dienende disziplinierte Tschekist als Symbol und Garant des auf eine sozialistische Weise aufgehobenen Kapitalismus - das war eine klar fassliche Konsequenz u.a. eines bestimmten Kapitalismusbildes. Das war die geistig-moralische Grundlage unzähliger Lebensläufe nicht nur des Ostens. Diesen Stalinismus aufzuheben, das bedeutet mehr als in der Art der PDS-Führer mit großen Besen herumzufuchteln und Menschen, die sich (wie sie ja einst selbst) auf diese Art dem "Sozialismus" verschrieben hatten, als unbegreifbar, selbst als Opfer, die selbst Täter waren, oder als asozial zu denunzieren. Es bedeutet, um die Überwindung der tatsächlichen Grundlage einer solchen "sozialistischen" Bewegung, die heute noch real existierenden Kapitalismen, und deren geistigen Grundlagen, eine verkürzte Kapitalismuskritik, zu überwinden. Genau das kann eine auf die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft orientierte, also bestenfalls auf eine Zivilisierung des Kapitalismus zielende Partei nicht.

...und die Kurzsche "radikale" Gesellschaftskritik

(15) Kurz' Sozialismusbild ist wahrlich nicht (mehr) eines, das überhaupt einen Staat mit sozialistischen Charakter für möglich hält. Wie die Geschichte des Ostens zeigte, ist es für eine emanzipatorische Bewegung nicht egal, von welchem Entwicklungsstand des Kapitalismus aus und mit welchem Kapitalismusbild sie agiert. Nach dieser Erfahrung muss auch bezüglich des Schwarzbuches gefragt werden: Welche Sozialismusvorstellung legt die darin entworfene Kapitalismusanalyse nahe? Geschähe dies zum Beispiel in einer Weise, die eine andere Gesellschaft zwar für wünschenswert hält, ein inhaltliches Nachdenken über eine mögliche sozialistische Alternative aber faktisch unmöglich macht, oder eine sozialistische Umwälzung nur als Horror denken lässt, liefe dies dem antikapitalistischen Anliegen zuwider. Das ist bei einem Kapitalismusbild der Fall, das die Frage nach den konkreten materiellen Voraussetzungen dieser Alternative, nach Keimformen von Bewegungen und Mentalitäten, die diese Gesellschaft begründen könnten und die nur aus innerkapitalistischen Widersprüchen und Auseinandersetzungen und aus nichts anderem hervorgehen können, geradezu verbietet. Genau das betreibt Kurz mit seiner Denunziation der gesamten bürgerlich-kapitalistischen Geschichte. Das ist das Gegenteil einer radikalen Gesellschaftskritik.

(16) Es wird sich keine Kritik mit einer angenommenen emanzipatorischen Bewegung (bei Kurz Rebellion genannt) verbinden, wenn sie nicht eine solche geistige und praktische Vorwegnahme der möglichen Konturen einer neuen Gesellschaft einschließt. Es muss ein massenhaft nachvollziehbarer Zusammenhang kenntlich sein zwischen diesen angenommenen zukünftigen Grundstrukturen und den heutigen Bedingungen. Eine erfolgreiche sozialistisch-antikapitalistische Bewegung ist unmöglich, wenn nicht im Alten bereits Elemente existieren, die - im revolutionären Umbruch sich radikal verändernd - eine Grundlage für die Konstitution einer neuen Gesellschaft darstellen könnten. Radikale Gesellschaftskritik ist wesentlich das Kenntlichmachen solcher Elemente und der Formen sozialer Bewegungen, die auf dieser Basis mit der alten Ordnung brechen und eine neue Gesellschaftlichkeit begründen können.

(17) Die meisten Menschen können das Gewohnte nicht verlassen und selbst aus großen Katastrophen heraus nicht freiwillig Neuland betreten, wenn es ihnen nicht einigermaßen klar ist (oder klar zu sein scheint), wie und wovon sie dann leben werden. Wenn das Alte gar zugunsten einer sozialistischen Zukunft verlassen werden sollte, muss für gesellschaftliches Engagement von Menschen eine ganz bestimmte Voraussetzung gegeben sein. Bisherige Revolutionen konnten siegen, indem sich revolutionierende Menschen unter [selbst-]täuschender Bezugnahme auf ein allgemeines Interesse die alten Strukturen stürzten und dadurch die Bedingungen für das Entstehen einer neuen Herrschaft schufen (der sie sich dann notgedrungen wieder unterordnen mussten). Eine sozialistische Umwälzung kann nur als ein von vornherein bewusster Akt vollzogen werden.

(18) Diese Bewusstheit schließt unter anderem eine begründete Vorstellung hinsichtlich der zukünftigen materiellen Grundlagen der eigenen menschlichen Existenz und die Sicherheit ein, dass diese Bedingungen dauerhaft dem eigenen Willen unterworfen sein werden und nicht wieder der Verfügung irgendwelcher entfremdeter Kräfte unterworfen werden. Die agierenden Individuen müssen sich darüberhinaus sicher sein, dass sie über solche Fähigkeiten verfügen (oder sie sich aneignen können), die für eine selbstverantwortliche und nachhaltige Sicherung von materiellen Bedingungen der eigenen Existenz unverzichtbar sind. Solche Sicherheiten, die Bedingung tatsächlicher menschlicher Freiheit[9], können nur erworben werden in selbstgestalteten sozialen Räumen, die in gewisser Weise einen Vorgriff auf die zukünftige freie Gesellschaft darstellen. Nur in praktischer Teilhabe an realen Bewegungen, die, noch im kapitalistischen Rahmen agierend, zugleich ein über die jetzige Gesellschaft hinausweisendes Moment in sich tragen, kann es einen massenhaften Bruch mit dem Alten geben. Diese Praxis muss eine annehmbare und selbst gestaltbare neue persönliche und gesellschaftliche Perspektive bieten. Diese muss als wünschenswert und lustvoll angesehen werden können. Nur in einer solchen Praxis können sich diejenigen Fähigkeiten und Mentalitäten entwickeln, die für eine gesamtgesellschaftliche Umwälzung sozialistischer Art unverzichtbar sind. Es ist unmöglich, dass sich im Ringen um Institutionen der bürgerlichen Macht, in Staats-, Partei- und Gewerkschaftsapparaten, im akademischen Betrieb, ja auch im reformerischen Agieren innerhalb jeglicher herrschafts- und wertförmiger Strukturen, überhaupt ein geschichtsmächtiges Bedürfnis nach einer sozialistisch-kommunistischen Lebenswirklichkeit herausbilden kann. Das ist nur über den Weg der Teilhabe am Schaffen solcher sozialer Räume und durch die Abwehr unvermeidbarer Angriffe der alten Herrschaftsinstitutionen und durch sie mobilisierbarer alter Gewohnheiten auf diese möglich.

(19) Ein abstrakt bleibendes Zukunftsbild, das die heutigen Voraussetzungen und Auseinandersetzungen als nichtig ansieht und von hier aus demzufolge auch geistig keinerlei derartige Brücke hin zur Konstitution einer neuen Gesellschaft schlagen kann, trägt nichts dazu bei, Wege aus dem Kapitalismus zu erkennen. Wer von der Schwarzbuch-Kapitalismuskritik ausgeht und nach einer zivilisationsverträglichen Gesellschaft sucht, der oder die kann nur auf eine Art religiöser Erweckung setzen: "Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf." Mensch braucht nicht zu ackern und nicht zu säen und wird doch, den Vögeln gleich, ernten. Er muss sich nur dem Bösen verweigern. Kommt mensch durch das Fegefeuer der erwarteten großen Katastrophe hindurch, ist die Welt dann eine ganz andere und er ein neuer Mensch.

Ich hab mein Sach' auf nichts gestellt

(20) Sind das nicht auch nur denunzierende böse Worte? Legt sie das Kurzsche Kapitalismusbild, das einen unvermittelbaren Gegensatz zwischen der bürgerlich-kapitalistischen Welt und dem Sozialismus behauptet, tatsächlich nahe? Schauen wir genauer, was sich aus seinem Schwarzbuch hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Kapitalismus und Sozialismus ergibt. Nach der von Kurz mit angeregten Dekonstruktion des östlichen "Sozialismus" als nachholende Form einer kapitalistischen Entwicklung treibt mich nun die weitergehende Frage: Wie ist Sozialismus überhaupt denkbar? Wer als Sozialist Kurz kritisiert, möchte wenigstens eine Idee davon haben.

(21) Kurz lehnt die Vorstellung, dass es geschichtliche Voraussetzungen für die Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft geben müsse, nicht rundweg ab. Er schreibt, dass es "elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit" gibt (132ff). Wer aber danach fragt, welche dieser Bedingungen der Kapitalismus hervorbringen kann, findet im Schwarzbuch eine eindeutige Antwort: gar keine. Das kapitalistischen Markt- und Fabriksystem habe diese Bedingungen nicht nur nicht entwickelt, sondern von Grund auf zerstört (ebd.). Da er nun aber die Begründung einer Gesellschaft der menschlichen Freiheit nach dem erwarteten Zusammenbruch des Kapitalismus zumindest nicht für ausgeschlossen hält, können also die genannten Bedingungen dafür nur solche sein, die bereits vor dem Kapitalismus existierten und der Zerstörung bisher entgangen sind. Das heißt, jeder kapitalistische Fortschritt, von dessen Anfang an bis heute, macht den Sozialismus immer unwahrscheinlicher. Die Bedingungen der Freiheit sind bei Kurz überkommene, äußerst schwache letzte Reste vorkapitalistischer Natürlichkeit. Das bedeutet: Geht es noch eine Weile so weiter, dann sind die Chancen, eine sozialistische Gesellschaft zu begründen, endgültig dahin.

(22) Das Schwarzbuch ist sozusagen eine Gegenüberstellung der angenommenen vorkapitalistischen Bedingungen menschlicher Freiheit und deren kapitalistischen Vernichtung. Es will diese verrinnenden Chancen wenigstens noch einmal bewusst machen. Am Schluss des Buches konstatiert Kurz allerdings das, was in seiner Denkweise völlig konsequent ist: Selbst dem zum (Kurzschen) Bewusstsein seiner Lage gekommenen Menschen bleibt nur noch auf zwei Dinge hoffen:

"Am wahrscheinlichsten ist es", so schreibt Kurz, "dass die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat. [...] Bleibt die radikale Gegenbewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt". (791)

(23) Was tut mensch dann mit der Erkenntnis aus 800 Seiten Schwarzbuch? "Selbst dann wäre für eine Minderheit immer noch wenigstens eine Kultur der Verweigerung möglich. [...] Unter den gegebenen Umständen kann das nur heißen, jede Mitverantwortung für 'Marktwirtschaft und Demokratie' zu verweigern, nur noch 'Dienst nach Vorschrift' zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist. Selbst wenn es nur wenige sind, die im Zerfallsprozeß des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können: Es ist immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu werden, als in den inhaltslosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik einzustimmen. Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist." (792)
"Amen!", möchte man ausrufen und Kurz bei guter Gesundheit ein langes Leben wünschen. Nicht dass bei einer notwendigen Operation etwa der Anästhesist gerade das Schwarzbuch gelesen hat und seinen freien Gedanken nachhängend den kapitalistischen Betrieb ein bisschen sabotiert.

(24) Lassen wir diese Bitterkeit über den bestimmte Aussagen der Lektüre. Halten wir hier zunächst fest: Kurz beschreibt das "moderne warenproduzierende System" als die Zerstörung der Bedingungen menschlicher Freiheit, als die Vernichtung der Voraussetzungen einer sozialistischen Welt, die es am Ausgang des Mittelalters immerhin gegeben hätte. Das Schwarzbuch ist das Beschreiben dieses Zerstörungswerkes und eine Anklage der dafür angeblich Schuldigen. Von dieser Zielstellung ausgehend ist eine Darstellung von kapitalistischen Strukturen vom Standpunkt ihrer Aufhebbarkeit tatsächlich nicht zu leisten. Die Beschäftigung mit konkreten Kämpfen, die sich auf der Basis des Kapitalismus selbst entwickeln und die eventuell auch über ihn hinausweisen könnten und in die es sich einzumischen lohnte, erscheint auf dieser Basis gleichfalls als unsinnig. Es wird verneint, dass es, nachdem der anfängliche Widerstand gegen die Frühformen eines Kunstprodukts namens Kapitalismus zerschlagen wurden, überhaupt noch hätte Kämpfe geben können und zukünftig geben kann, die sich auf dem eigenen Boden des Kapitalismus entwickeln und die über ihn hinaus auf eine neue Gesellschaft verweisen.
Abgesehen von der Wut auf bürgerliche Ideologen, die aus der Erinnerung an einst glückliche Zeiten aufsteigt, bleibt es völlig unklar, aus welchen Quellen sonst sich die Sozialrevolte, der Kurz eine radikale Kapitalismuskritik zur Seite stellen will, speisen könnte.

(24.1) 21.12.2001, 17:25, Ano Nym: Warum das Motto von Stirner über dem Artikel? Interessant immerhin: Welche Strukturen man sich in der Auseinandersetzung mit einem Gegner aneignet. Ich behaupte: Wer glaubt von einer Welt von Teufeln umgeben zu sein, wird selbst zum Teufel. Gutes Beispiel sind die bürgerlichen Sicherheitsideologien: Kopf ab gegen den Verbrecher. nun ist ja auch bekannt, dass in Gefängnissen die meisten Anhänger dieser Ideologie sitzen... :-)

Bürgerliche Weltgeist-Würstchen schaffen eine teuflische Welt ...

(25) Wer etwas über das Ende eines Organismus begreifen will, beschäftigt sich vernünftigerweise auch mit seinem Entstehen und seiner Blüte. Kurz tut das bezüglich des Kapitalismus umfänglich. Seine Antwort auf die Frage, wie der entstanden sei und wodurch er vorangetrieben wurde lautet: Die bürgerlichen Ideologen haben diese Hölle geschaffen und die vorgefundenen einst freien Eingeborenen dementsprechend dressiert, "verhausschweint".

(26) Geschichtlich beginnt nach Kurz die Vernichtung behaupteter vorkapitalistischer Bedingungen menschlicher Freiheit mit Jeremy Bentham und seinen Zeit- und Geistesgenossen. Bentham war "ein geistiges Würstchen", ein "kleinkarierter wie unerbittlicher historischer Zuchtmeister"(89). Dann geht es weiter mit Godwin, Hobbes, Leibniz, Smith, Malthus, Newton, de Sade, Mandelville, Kant, Herder, Fichte, Taylor/Ford, W. Ostwald, J.M. Keynes, E. Jünger, Vertretern des Bauhauses usw. usf. Was taten alle diese Dompteure und Schweinezüchter? Sie mobilisierten zum Beispiel mit dem Liberalismus "diejenige Betätigung und Mentalität, die bis dahin bei allen Völkern und Zeiten als eine der niedrigsten und verächtlichsten gegolten hatte, nämlich die Verwandlung von Geld in mehr Geld als Selbstzweck, die darin eingeschlossene abhängige Lohnarbeit und damit die unaussprechliche Selbsterniedrigung des Sichverkaufen-Müssens, wurde zum Inbegriff menschlicher Freiheit umredigiert. Diese Besudelung des Freiheitsbegriffs, die im Lobpreis der Selbstprostituion gipfelt, hat die erstaunlichste Karriere in der Geschichte des menschlichen Denkens gemacht." (34) Sie schufen die Gedanken eines Systems, "in dem sich die trickreiche Dialektik von privaten Lastern und angeblichen öffentlichen Vorteilen in das Räderwerk einer [...] gesellschaftlichen Maschine verwandelt."(66)

(27) Die ideologische Winkelzüge von Hobbes, de Sade, Mandelville, Kant und anderen begleiteten "die Verdichtung und Objektivierung der Marktwirtschaft."(ebd.) Mandeville lieferte das Grundmuster "für die liberale Heiligsprechung der niedrigsten antisozialen Instinkte."( 47) Hobbes verurteilte die "Menschen als existentielle Monaden zum bellum omnium contra omnes [...] Eine entzückende Art der Gesellschaftlichkeit, die in dieser Form weder Pygmäen noch Aborigines und nicht einmal die Horden des Dschingis Khan jemals kannten." (39) Durch diese Zuchtmeister denkt und spricht "der kollektive kapitalistische Weltgeist [...] erkennbar an den gespenstischen Echos der positivistischen bürgerlich-aufklärerischen Reflexionen seit Mandeville und Smith."(392)

(28) So geht es über hunderte Seiten. Kurz präsentiert dabei tatsächlich eine Menge hochinteressanten Materials, das - in einem anderen Kontext - den Beitrag der bürgerlichen Aufklärung zur Herausbildung des bürgerlichen Individuums anschaulich machen könnte. Das wäre hilfreich, wenn es zum Beispiel darum ginge, eine Vorstellung von der Dimension der Kämpfe sozialer Bewegungen für eine neue Gesellschaft zu befördern und zwar unter dem Gesichtspunkt, dass diese Auseinandersetzungen nicht nur zum Ändern der Umstände, sondern auch zur Selbstveränderung der Individuen erforderlich sind. (MEW 3/5ff, 195)

(29) Kurz aber interessieren diese heutigen bzw. zukünftigen Kämpfe nicht, denn nicht durch diese kann eine neue Gesellschaft begründet werden, sondern durch eine Aufklärung im Sinne einer rein geistigen Destruktion der bürgerlichen Ideologie. Wenn diese hin ist, erledigt etwa vom Drachentöter St. Robert, geht es (vielleicht) auch mit dem Kapitalismus zu Ende. Denn dieser ist eben primär eine Schöpfung krankhaften, absurden Denkens, des "kapitalistischen Weltgeistes". Hätte es diesen nicht gegeben, wäre auch kein Kapitalismus entstanden, wären "elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit" nicht zerstört worden. Wenn die Menschen sich also diese Ideologie aus dem Kopf schlagen könnten, einfach nicht mehr hingingen, wäre denn auch der ganze Spuk erledigt. Sicher scheint das doch nicht und so wird noch eine Voraraussetzung hinzugedacht - die allgemeine Katastrophe, der unvermeidbare Zusammenbruch.

... und St. Robert kämpft dagegen

(30) Nun hat weder der Herr Hobbes noch irgendein anderer bürgerlicher Ideologe, auf die sich Kurz' Zorn entlädt, die kapitalistische Gesellschaft geschaffen. Wenn Hobbes die Stellung der Individuen im Kampf aller gegen alle beschreibt und daraus die Notwendigkeit des kapitalistischen Staates ableitet, drückt das eine frühe Einsicht in das Wesen barbarischer kapitalistischer Verhältnisse aus. Ob aber Hobbes und andere diese Gesellschaft bejahten oder nicht, ob sie den Prozess ihrer Herausbildung ideologisch flankierten und damit beförderten oder/und ob sie dem Widerstand dagegen Material lieferten und zwar gerade dadurch, dass sie die Beziehungen bürgerlicher Individuen zueinander ohne verschleiernden Schmus kenntlich machten und die weitere Entwicklungen antizipierten - der Vorwurf, sie hätten diese Verhältnisse niederträchtigerweise selbst geschaffen, ist unsinnig. Gleiches gilt für die Anklage an die Adresse der unter die kapitalistische Produktionsweise gezwungenen Individuen, sie hätten sich aus Dummheit bzw. aus möglicher, aber mangelnder Widerständigkeit eben zu denjenigen "wahnsinnigen Raubaffen" machen lassen, zu denen sie die Hobbes & Co. angeblich dressiert hätten.

(31) Der Kapitalismus als Ausfluss eines bösartigen Geistes sowie der Unwissenheit und Feigheit des Volkes, als Resultat einer irrtümlichen und bösartigen Abkehr vom Natürlichen - das sind die Kurzschen Prämissen. Diese aber erst einmal akzeptiert, ist die weitere Argumentationskette von Kurz durchaus logisch. Der Kapitalismus wäre dann jederzeit aufhebbar gewesen bzw. wäre es eventuell jetzt noch. Den Menschen müsste nur dieser Betrug bzw. ihr Irrtum bewusst gemacht werden auf dass sie es als niederträchtig und feige begriffen, weiterhin in ihm mitzutun.
Da trotz des Vernichtungswerkes bürgerlicher Ideologen doch noch irgendwo ungenannte Restbestände der einst angeblich reichlichen Bedingungen menschlicher Freiheit vorausgesetzt werden sowie demnächst mit der allgemeinen Katastrophe zu rechnen sei, ist die Aufklärung und der Zorn á la Kurz sozusagen die finale Chance für die Rettung menschlicher Zivilisation.

(32) Ein geradezu klassisches Déjà-vu: Einen schwer erträglichen Weltzustand dadurch überwinden zu wollen, dass mensch sich die Illusionen über diesen Zustand aus dem Kopf schlägt etwa mittels missionarischer Streitschriften. Es wird ignoriert (was Kurz in anderen Zusammenhängen auch im Schwarzbuch selbst darstellt), dass es gerade dieser Weltzustand selbst ist, der diese Vorstellungen produziert, dass es also praktischer Bewegungen bedarf, die sowohl diese Verhältnisse als auch das verkehrte Bewusstsein davon aufheben können.
Das alles gab es schon. Und auch die Kritik an dieser Methode kann schon nachgelesen werden, und zwar mehrfach. So zum Beispiel im Streit zwischen Marx und den Junghegelianeren, Bruno Bauer & Co. (siehe MEW 2/3-223; 4/63-182).

Worauf ist nicht zu hoffen?

(33) Nun gab es in der Vergangenheit viele Konzepte und soziale Bewegungen, die sich die Befreiung vom Kapitalismus zum Ziel gesetzt hatten. Sie sind alle gescheitert. "Gescheitert" ist allerdings nur dann ein treffender Begriff, wenn mensch diese Bewegungen lediglich an ihrem antikapitalistischen Selbstverständnis misst. Wird jedoch ihr Beitrag zu einer partiellen Emanzipation mit in Betracht gezogen, eines nach Marx im bürgerlichen Rahmen verbleibenden noch nicht sozialistischen Fortschritts, sieht die Sache schon anders aus.(Weiß 1997)

(34) Die Arbeiterbewegung war vor allem im 20. Jahrhundert geschichtsmächtig - aber eben nicht durch die Aufhebung des Kapitalismus, sondern letztlich gerade dadurch, dass sie dessen Entwicklung (im Osten seine nachholende) beförderte. Die kommunistische und sozialdemokratische Arbeiterbewegung sowie die Sowjetunion leisteten einen enormen Beitrag, die barbarischsten Formen von Kapitalismus, die faschistischen, zu bekämpfen. Wer hierin allerdings keinerlei Beitrag zum emanzipatorischen Fortschritt sieht, muss mit der gesamten kapitalistischen Gesellschaftsformation auch die gesamte Arbeiterbewegung, die zu ihren Existenzbedingungen gehört, als geschichtlichen Irrtum darstellen. In dieser Denkweise bewegt sich Kurz: Alles, was an sozialen Bewegungen nicht direkt auf die Befreiung der Menschen von allen knechtenden Abhängigkeiten hinauslief, also eigentlich alles in der Geschichte von Klassengesellschaften, war von Übel.

(35) Kurz versucht herauszufinden, warum Arbeiterbewegung und Real-"Sozialismus" gemäß dem sozialistischen Selbstanspruch scheiterten und faktisch zur Entwicklung des Kapitalismus beitrugen. Diese Teile des Schwarzbuches sind sehr interessant. Es hilft zu verstehen, auf welche Grundstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft Sozialisten in ihrer Suche nach Wegen aus dem Kapitalismus grundsätzlich nicht setzen können. Es macht verständlich, dass im Ringen um politische Macht nur innerkapitalistische und keine prosozialistischen Kämpfe ausgetragen werden können. Schon allein die Argumente für die These, dass über die Eroberung von Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft (Parlamente, Regierungen usw.) oder/und deren Ersetzung durch eigene Strukturen der Machtausübung keinen Weg zur Überwindung des Kapitalismus führen kann, lohnt die Lektüre.

(36) Worauf kann also der Sozialist nicht hoffen? Auf den Staat. Dem ist zuzustimmen.
Die erkämpften innerkapitalistischen Fortschritte verlieren jedoch nicht dadurch ihren Sinn, dass sie im widersprüchlich-bürgerlichen Rahmen verbleiben. Sie waren nicht nur als partielle Emanzipation für die agierenden Menschen bedeutsam. Auch wenn heute in dieser Hinsicht nichts mehr zu holen ist, die Ergebnisse dieser Bewegungen sind auch und gerade heute nicht zu überschätzen, auch nicht durch Sozialisten. In der proletarischen Lohnarbeit und in den innerkapitalistischen proletarischen Klassenkämpfen wurden die materiellen Voraussetzungen für eine zukünftige sozialistische Umwälzung geschaffen.

(37) Die alte Arbeiterbewegung (und der Real-"Sozialismus") hat sozusagen den Kapitalismus zur Ausschöpfung seiner zivilisatorischen Potenzen und damit an die Grenze zu seiner möglichen sozialistischen Aufhebung herangetrieben. Das rechtfertigt nicht, die proletarischen Kämpfe selbst bereits als sozialistische oder kommunistische zu bezeichnen. Das hieße nichts weiter, als auf das Ringen um eine Aufhebung des Kapitalismus zu verzichten und sich dessen Barbarei zu ergeben. Früheren DDR-Patrioten zum Beispiel fällt diese Einsicht außerordentlich schwer. Zu dieser Erkenntnis hat Kurz mit früheren Arbeiten und auch mit dem Schwarzbuch einen wirkungsvollen Beitrag geleistet. Wenn allerdings die früheren Kämpfe der Arbeiterklasse um zivilisatorischen Fortschritt überhaupt (wie der ganze Kapitalismus) als unsinnig, als historischer Irrtum dargestellt werden, dann müssen sich besonders Sozialisten und Kommunisten dagegen wehren, denn diese Auffassung ist nicht nur sachlich unhaltbar. Sie versperrt auch die Sicht auf die materiellen Voraussetzungen für die Aufhebung des Kapitalismus und auf die Formen von nichtklassengebundenen sozialen Bewegungen, die dies vollbringen können.
Nicht die Offenlegung des bürgerlichen Charakters der alten Arbeiterbewegung und ihrer Kampfstrukturen ist Kurz' Fehler, sondern deren Denunziation als historisch unsinnig.

Der sozialistische Staat und die sozialistische Lohnarbeit - Dinge der Unmöglichkeit

(38) Ich gehe mit Kurz davon aus, dass ein Staat den Kapitalismus nicht aufheben kann. Auch wenn Vertreter der Arbeiterklasse sich in einer Revolution zur herrschenden Klasse erheben und einen neuen Staat schaffen, sie können diesem keinen sozialistischen Charakter geben. Wenn (und solange) ein gesellschaftlicher Zwang existiert, dass revolutionäre Bewegungen einen Staat, "diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft" (Marx, MEW 17/541), wieder konstituieren müssen, dann ist dies ein untrüglicher Beleg dafür, dass die Geschichte von Klassengesellschaften noch nicht beendet werden kann, dass Sozialismus-Kommunismus noch nicht möglich ist.

(38.1) Re: Der sozialistische Staat und die sozialistische Lohnarbeit - Dinge der Unmöglichkeit, 21.12.2001, 17:26, Ano Nym: Welche "Arbeiterklasse", alles Begriffe aus dem letzten Jahrhundert, die du da mitschleifst.

(39) Das Zerbrechen der (bürgerlichen) Staatsmaschinerie bzw. deren Absterben ist nur möglich, wenn die Funktionen, die der Staat in der (kapitalistischen) Warenproduktion ausüben muss (und womit nicht nur Terror, sondern auch zivilisatorische Fortschritte verbunden waren), tatsächlich aufgehoben werden können durch eine herrschaftsfreie Form von Gesellschaftlichkeit. Das bedeutet, dass die (kapitalistische) Warenproduktion selbst aufgehoben werden muss und mit ihr jegliche Lohnarbeit, also jede Form von knechtender formeller und reeller Unterordnung der unmittelbaren Produzenten unter einen fremden Willen. Es handelt sich um die Aufhebung derjenigen Verhältnisse, die unter den Bedingungen einer großen Industrie unvermeidbar der Lohnarbeit, damit der Klassenherrschaft, damit des Staates bedürfen. Gelingt diese Aufhebung der Lohnarbeit nicht (weil etwa die Möglichkeit dieser Aufhebung ein qualitativ bestimmtes, noch nicht vorhandenes Niveau der Produktivkräfte voraussetzt; die hat Kurz "vergessen", sonst ist ihm zuzustimmen - UW), werden "im Kontext des unaufgehobenen warenproduzierenden Systems dann eben die 'eigenen Leute', d.h. aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Funktionäre, die Repräsentanz des Leviathan übernehmen." (242) Am Wesen der bisherigen kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen ändert sich damit nichts Grundsätzliches. Kurz verweist auf die Hoffnung "Lenins, dass im Staatsozialismus 'jede Köchin den Staat regieren' kann" und meint, dass es bei einer Beibehaltung der Warenproduktion, damit auch des Verhältnisses Lohnarbeit - (Staats)Kapital, gar nicht um die allgemeinmenschliche "Emanzipation der Köchin" geht, nicht um die "Emanzipation des Menschen von repressiven Prinzipien, sondern [um] eine derart konsequente Verselbständigung der gesellschaftlichen Arbeits- und Verwertungsmaschine gegenüber den Individuen, dass es egal ist, ob eine Köchin oder ein Spezialist die kontrollierende Funktion ausübt. [...] Das identische Subjekt-Objekt der liberalen 'Selbstverantwortungs maschine' setzt Kontrollieren und Kontrolliert-Werden gleich: alle kontrollieren sich selbst und einander wechselseitig im Namen einer subjektlosen Vernunft, der Vernunft des verselbständigten Systems von 'Arbeit' und 'Verwertung'." (88)

(40) Eine Gesellschaft, die aus dem Kapitalismus hervorgeht und weiterhin die Institution Staat benötigt, kann unmöglich antikapitalistisch sein. "Ausgerechnet das Staatsungeheuer, den Leviathan, diesen von der Selbsttätigkeit und Selbstorganisation der Massen abgetrennten und entfremdeten Apparat, als 'antikapitalistische' Form misszuverstehen - das hieße im Sinne der Emanzipation den Bock zum Gärtner zu ernennen." (479). Wenn hier "Emanzipation" durch "allgemeinmenschliche Emanzipation" ersetzt würde, wäre dem zuzustimmen. Dem wäre u. a. noch hinzuzufügen: Die DDR-Forderungen, Verantwortung für das Ganze zu zeigen und demzufolge Alles für das Wohl des sozialistischen Staates zu geben, sind höchst moderne Losungen, völlig kompatibel mit den heute angestrebten Mitarbeiter-Ideologien kapitalistischer Unternehmen sowie dem aggressiven Ringen um den (Kapital-)Standort Deutschland.

(41) Die Illusion, dass diese Art staatsbezogener Ganzheitsverantwortung etwas mit Sozialismus oder Kommunismus zu tun habe, wurde sozusagen von Freund und Feind geteilt. So wurde im Westen als ein wesentlicher Gegensatz zwischen östlichem "Sozialismus" und westlichem Kapitalismus der angeblich unvereinbare Unterschied von Plan- und Marktwirtschaft definiert. Kurz zeigt, dass dieser Unterschied spezifischen historischen Formen der kapitalistischen Entwicklung geschuldet sein kann. Einen wesentlichen Gegensatz von zueinander wirklich antagonistischen Systemen markiert dies nicht.

(42) Zum Beleg zitiert er Walter Rathenau, den Cheforganisator der staatlichen Rohstoffbewirtschaftung im Ersten WeltKrieg (und zu DDR-Zeiten hochgeachteten Namensgeber von Straßen). In Bezug auf die deutsche Kriegswirtschaft schreibt Rathenau: "Es ist ein wirtschaftliches Geschehnis, das eng an die Methoden des Sozialismus und Kommunismus streift [...] Beschlagnahme bedeutet nicht, dass eine Ware in Staatseigentum übergeht, sondern nur, dass ihr eine Beschränkung anhaftet, dass sie nicht mehr machen kann, was sie oder ihr Besitzer, sondern was eine höhere Kraft will [...] Auf der einen Seite war ein entschiedener Schritt zum Staatssozialismus geschehen; der Güterverkehr gehorchte nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte [...] Auf der anderen Seite wurde eine Selbstverwaltung der Industrie [...] durch die neuen Organisationen angestrebt [...] So entstand der Begriff der Kriegswirtschaft [...]; eine Wirtschaftsform, die vielleicht in kommende Zeiten hinüberdeutet [...] Abermals ist es ein Ruhm des deutschen und auch des preußischen Systems." (Rathenau 1915)

(43) Dass Lenin - die bolschewistische Eroberung der Staatsmacht vorausgesetzt - die Organisation der deutschen (Kriegs-)Wirtschaft als Modell einer sozialistischen Produktionsweise ansah, ist bekannt. Wenn heute KöchInnen oder etwa moderne KommunikationsdesignerInnen ihr gesamtes Leben voller Engagement "ihrem" Unternehmen oder/und "unserem" deutschen Standort zur flexiblen Nutzung zur Verfügung stellen, wenn sie dann auch noch selbst das übernehmen, was einst einer "höheren Kraft", dem allüberall regulierenden (fordistischen) Staat bzw. dem Unternehmen, zukam, wenn sie also etwa selbstunternehmerisch alle sozialen Risiken absichern, dann haben wir eine Beschreibung dessen, was heute als Liberalisierung läuft. Egal ob dies unter "sozialistischem" oder kapitalistischem Vorzeichen läuft, Kurz hat Recht: Im Rahmen der Warenproduktion lässt die Übernahme von bisheriger Staats- und Unternehmerfunktionen durch die berühmte Köchin weder den Staat absterben, noch kann so das Kapitalverhältnis aufgehoben werden. Das kann beidem nur eine neue Dynamik verleihen.

Wirkungen des Kapitalismus mit Kapitalismus bekämpfen?

(44) Unmittelbare Produzenten üben heue teilweise selbst Aufgaben der Kontrolle und Regulierungs, die bisher vom Unternehmer bzw. dem Staat ausgeübt wurden. Als traditionelle Lohnarbeiter oder als faktisch lohnarbeitende (Schein-)Selbständige bleiben sie jedoch der knechtenden Arbeitsteilung unterworfen. Trotzdem birgt dies auch unter kapitalistischen Bedingungen (real-"sozialistische" inklusive) zivilisatorische Potenzen in sich. Gemeint sind u.a. die Möglichkeiten (das heißt nicht unbedingt die Wirklichkeiten) eines gesamtgesellschaftlich wachsenden materiellen Reichtums, der Erhöhung der Produktivkraft menschlicher Arbeit, der Befreiung von monotoner unschöpferischer Tätigkeit und wachsender Freizeit. Diese Möglichkeiten sind unter anderem entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob (entsprechende soziale Bewegungen vorausgesetzt) ein emanzipatorischer Fortschritt überhaupt einen sozialistischen Charakter gewinnen könnte oder nicht.

(45) Unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion kommen diese Möglichkeiten, wenn überhaupt, in eindeutig negativer bzw. verunsichernder Weise zur Geltung: extreme Abhängigkeit der individuellen Existenzen vom Auf und Ab der gesamtgesellschaftlichen, nun auch internationalen (Kapital-)Entwicklung; Vernichtung der natürlichen Existenzbedingungen; Auflösung traditioneller (familiärer und staatlicher) Auffangstrukturen sowie der bisherigen Formen von Gesellschaftlichkeit überhaupt. Diese Tatsache, dass sich möglicher (sozialistischer) Fortschritt für viele betroffene Menschen auf katastrophale Weise ankündigt (als Verunsicherung, Zerstörung sozialer Netze, Entwertung bisheriger Fähigkeiten, Massenarbeitslosigkeit usw.) macht es sehr schwierig, in den Prozessen der partiellen Auflösung tayloristisch-fordistischer Produktionsorganisation die Chance zur Aufhebung des Kapitalismus selbst zu erkennen.

(46) Angesichts dieser neoliberalen postfordistischen Umbrüche wächst, um die (kapitalistische) Gesellschaftlichkeit überhaupt bewahren zu können, der Bedarf an einer Ideologie, die im Bewusstsein der Menschen diese negativen Seiten von ihrer kapitalistischen Ursache trennt, diese gegebenenfalls auch anklagt und Scheinlösungen anbietet. Kurz' Darstellung (siehe zum Beispiel den Zusammenhang zwischen kapitalistischem Arbeitsethos und Antisemitismus, 540ff) hilft, folgenden Mechanismus zu verstehen: Wer als Herrschender oder Beherrschter die kapitalistischen Ursachen dieser Auflösung traditioneller Strukturen nicht erkennt und nicht auf die positive Aufhebung dieser Ursachen selbst hinarbeitet, der oder die ist gezwungen, diese negativen Seiten dem Wirken bestimmter sozialer Schichten, Minderheiten, Ethnien und Nationalitäten zuzuordnen. Den von Unsicherheit betroffenen Menschen drängt sich die Vorstellung auf, und dies wird von Politikern jeglicher Couleur im Kampf um die Macht unvermeidbar verstärkt, diese (fremden) Menschen hätten Schuld an der prekären Lage der "normalen" Leute. Sie werden als Fremde, Parasiten, Lebensunwerte, Gegner oder Feinde, auf jeden Fall aber nach den (bürgerlichen) Kriterien der Nützlichkeit für das angebliche (nationale) Gemeinwohl behandelt.

Die guten ins Töpfchen ...

(47) Kurz' diesbezüglichen Darstellungen im Schwarzbuch machen auch die völlige Ohnmacht einer "Linken" begreifbar, die die allgegenwärtigen menschenfeindlichen Wirkungen des Kapitalismus mit Kapitalismus und dessen politischen Institutionen bekämpfen will. Das tut sie etwa mit dem Schrei nach Wiedergewinnung der Politik, nach (Lohn-)Arbeit für alle, mit der Forderung nach mehr staatlicher und internationaler Regulierung und nach Gewalt gegenüber Erscheinungen, die als negativ empfunden werden. Anstatt zum Zwecke des Zurückdränges neofaschistischer Tendenzen auch und gerade die Kapitalverhältnisse und die politischen Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft selbst infrage zu stellen, gießt diese reformistische "Linke" noch Öl ins Feuer. Sie weckt nicht nur unerfüllbare Hoffnungen auf einen gezügelten Kapitalismus. Sie hilft auch noch, gerade diejenigen Bedingungen zu sichern und zu fördern, unter denen die verunsicherten Menschen Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus entwickeln. Eine Partei etwa, die den Kapitalismus nicht zur Disposition stellen will, kann auch diese mörderischen Erscheinungen nicht nachhaltig verhindern. Sie ist vielmehr selbst eine der Existenzbedingungen dieser Barbarei.[10]

(48) Kurz exerziert die ideologischen Konsequenzen, die aus dem Verwischen von Zusammenhängen zwischen den sogenannten guten Seiten des Kapitalismus und den negativen resultieren. Diesem Gedankengang folgend ist zu verstehen, wie es kam, dass in der Arbeiterbewegung (auch in der kommunistischen) und im Real-"Sozialismus" unter Sozialismus vielfach lediglich eine von den sogenannten negativen Seiten der (kapitalistischen) Warenproduktion gereinigte Gesellschaft verstanden und angestrebt wurde. Sozialismus sollte eine Gesellschaft sein, in der alle Menschen (lohn-)arbeiten, in der der Wert des Individuums vor allem nach seiner Produktionsleistung bestimmt wurde. Nach diesem Maßstab - "die Müßiggänger schiebt beiseite" (Die Internationale) - sollte Gerechtigkeit walten, Parasiten- und Spekulantentum sowie Krisen unmöglich gemacht werden. Tatsächlich entsprechen diese Kriterien durchaus auch heute dem Ideal des angeblich guten (= materiell-produktiven = ehrlichen) Unternehmertums (von dem sich auch die PDS viel Gutes erhofft). Mit einer solchen Sozialismusauffassung können die Widersprüchlichkeiten der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht wirklich aufgehoben, sondern auf nur eine spezifische Weise entwickelt werden.

(49) Diesen Kurz weiterdenkend, wird auch die ideologische Seite einer primär durch materielle Ursachen begründeten Entwicklung verständlich. Es geht um den Prozess, durch den die Gesellschaften des Ostens in vieler Hinsicht kompatibel wurden mit zivilisatorischen und barbarischen Entwicklungen im Westen. Die sogenannten Wenden im Osten markieren "nur" eine neue Qualität einer Entwicklung, auf die die östlichen Grundstrukturen (entgegen allem offiziellem Selbstverständnis und aller "sozialistischen" Phraseologie) schon lange hinausliefen. Was sich vielfach als Implantierung von etwas aus dem Westen übernommenen qualitativ Neuem darstellte, ist eher Ausdruck einer neuen Stufe der inneren Entwicklung der östlichen Grundstrukturen. Zu den barbarischen Zügen, die aus den nicht aufgehobenen Widersprüchen etwa von Lohnarbeit und Warenproduktion erwachsen und die von ihren sogenannten positiven Seiten nicht zu trennen sind, gehören Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus und Antisemitismus. Und diese Erscheinungen existierten vor und nach den Wenden in Ost und West. Sie speisten sich aus wesensgleichen Strukturen.

Antisemitismus - der Sozialismus der dummen Kerle?

(50) Kurz schreibt zum Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Antisemitismus: "Die unmittelbare Tätigkeit in der Umformung des Naturstoffs bei der Produktion von Gütern erschien als positive 'produktive' Tätigkeit und als die 'gute', konkrete Seite, [...]die kapitalistische Vermittlungsfunktion von Handel oder Banken als die negative 'unproduktive' Tätigkeit und als die 'schlechte', abstrakte (weil unmittelbar auf das Geld bezogene) Seite." (314) "Wenn das System der Verwertung des Werts und der allseitigen Konkurrenz an sich gut war, dann mussten die unübersehbaren und für die Zukunft noch drohenden negativen Wirkungen von einer omnipräsenten, aber biologisch fremden und bösen Gegenmacht ausgehen. [...] Das reif werdende kapitalistische System benötigte also für die Verkörperung seiner eigenen Negativität im Kontext des biologistischen Weltbildes eine 'böse Gegenrasse' von 'negativen Übermenschen' - und diese fand sich in Gestalt der Juden. [...] Das Unheimliche an der subjektlosen, stummen Herrschaft des auf sich selbst rückgekoppelten Geldes konnte so auf die finsteren Machenschaften einer fremden Subjektivität zurückgeführt werden. [...] Was schlecht ist an der Herrschaft des Geldes, das muss 'jüdisch' sein." (293f)

(51) Die Arbeiterbewegung konnte diesem objektiven Schein und der Versuchung, den angenommenen antibourgeoisen Impuls des Antisemitismus für ihre Zwecke zu nutzen, nicht widerstehen. Mit Bebel wurde lange Zeit der Antisemitismus als "Sozialismus der dummen Kerle" angesehen, "sozusagen ein lediglich etwas unreflektierter Schritt in die richtige Richtung [...] der dann von den Sozialisten leicht gegen 'die Kapitalisten überhaupt' weitergetrieben werden könne." (321) Eine Arbeiterbewegung, die eine Gesellschaft der ordentlichen, sauberen produktiven (Lohn-)Arbeit anstrebte, eine Warenproduktion ohne Kupon-Abschneider, Zinsknechtschaft und Spekulanten, konnte nicht nur relativ leicht von den National-Sozialisten aufgesogen werden. Sie reproduzierte auch im Falle ihres Sieges Nationalismus und Antisemitismus.

(51.1) 21.12.2001, 17:30, Ano Nym: Das ist eine publizistische Sache. Genauso wie man "Gott" sich besser personalisiert vorstellen kann, was zu der Fälschung de Kirchen geführt hat (dreieinigkeit u.a.), kann man Geschichten leichter publizieren, wo der Schuldige personelle Gestalt annimmt. Also: Das Böse zum "Teufel" machen.

(52) Kurz zitiert einen ehemals zaristischen Offizier, der zu Zeiten Stalins erklärte: "Am Ende werden die Träume unseres Zaren Nikolaus noch wahr [...]: Die Gefängnisse sind voll von Juden und Bolschewiken."( 70) Zur spezifisch sowjetischen Variante des Zusammenhangs zwischen der (nachholenden) Entwicklung von Lohnarbeit und Warenproduktion sowie den damit verbundenen Entfremdungsformen und dem Antisemitismus schreibt Kurz: "Da die Sowjetunion von der westlichen Weltwirtschaftskrise nicht betroffen war und die Bewegung des Geldkapitals unter staatskapitalistischer Kontrolle stand [die Gesellschaft aber trotzdem von tiefen Widersprüchen geschüttelt wurde - UW], richtete sich die paranoide Projektion aber weniger gegen die als 'jüdisch' imaginierte Abstraktion des zinstragenden Kapitals als vielmehr gegen die ebenso als 'jüdisch' denunzierte 'abstrakte Theorie'. Nicht die Spekulanten und Bankiers, sondern die Intellektuellen waren bevorzugtes Ziel der Verfolgung."

(53) Als die Sowjetgesellschaft zwecks nachholender ursprünglicher Akkumulation von Kapital endgültig den fordistischen Entwicklungspfad einschlug, wurde die für die 1920er Jahre charakteristische offene Diskussion über eventuelle andere Entwicklungsrichtungen beendet. Wird jedoch ein ganzer Staat wie ein einziger fordistischer-tayloristischer Großbetrieb betrieben - angesichts der westlichen Konkurrenz und des Nachholbedarfs sehr verständlich -, hieß es dann konsequenterweise: "Schluss mit lustig, nicht mehr diskutieren über Sinn und Zweck, sondern Arbeitsquanta verausgaben in der Gesellschaftsmaschine. Die weitere theoretische Reflexion erschien zunehmend als Gefahr [...] vor allem als jene mögliche Erinnerung an die verlorene Zukunft einer selbstorganisierten Räte-Gesellschaft, jenseits der Entfremdungsformen von Geld und Staat. [...] 'Intellektualismus' und kritische Reflexion wurden demgegenüber einer unpatriotischen 'kosmoplitischen' Lauheit verdächtigt. [...So] wurde die Intellektuellenhetze zu einer periodisch wiederkehrenden Veranstaltung des Partei- und Staatsapparates. [...] Was da 'hinausgesäubert' werden sollte, war der innere Widerspruch der in gesellschaftlichen Riesenschritten durchgesetzten 'abstrakten Arbeit' (und der möglichen theoretische Einspruch dagegen). Dafür war die Mobilisierung des antisemitisch-antiintellektuellen Syndroms geradezu unerlässlich." (481f)

(54) Es ist hier nicht der Ort, diese Problematik näher zu erörtern. Auf jeden Fall ist es aber hoch zu schätzen, dass Kurz die Aufmerksamkeit des Lesers auf solche Zusammenhänge zwischen ökonomischen Grundstrukturen der westlichen und östlichen Gesellschaften, ihren Ansprüchen an flankierende Ideologien (die Feindbilder zwingend erfordern) und dem Antisemitismus verweist. Den PDS-Anhängern aus dem Osten, denen es völlig unklar ist, welche Gefahr im verkürzten Antikapitalismus ihrer Führung liegt, sei, wenn sie schon nicht zu Marx, den Vertretern der früheren Frankfurter Schule usw. greifen wollen, dann wenigstens das Schwarzbuch als Lektüre empfohlen.

Kein Ausweg?

(55) Kurz analysiert auch Zusammenhänge zwischen den arbeitsgesellschaftlichen Idealen der sozialistisch-kommunistischen Arbeiterbewegungen bzw. zwischen der "sozialistischen" Warenproduktion (der Rekonstruktion von (kapitalistischer Lohn-)Arbeit) und weiteren Grundzügen des Real-"Sozialismus". Das betrifft u.a. den positiven Bezug von "Sozialisten" auf die Existenz der Nation, auf den Militarismus, auf die Ausrichtung der gesamten Gesellschaft auf Anforderungen betriebswirtschaftlicher Rationalität.

(56) Kurz erkennt auch darin die Rekonstruktion bürgerlich-kapitalistischer Entwicklungsformen. So lobte der preußische General von Caprivi nach Aufhebung des Sozialistengesetzes den Eifer der sozialdemokratischen Soldaten. Darauf Bebel: "Das wundert mich gar nicht und beweist nur, dass die Herren von der Rechten und von der Regierung von der Tüchtigkeit der Sozialdemokraten eine ganz falsche Anschauung haben. Ich glaube sogar, dass die Bereitwilligkeit, mit der gerade meine Parteigenossen sich der vorschriftsmäßigen Disziplin gefügt haben, ein Ausfluss der Disziplin ist, die ihnen das Leben beibringt. Die Sozialdemokratie ist also gewissermaßen eine Vorschule für den Militarismus." (Bebel/Rocker 1950)

(57) Sozialdemokraten wie Kommunisten plädierten später u.a. für einen nationalen Fordismus unter ihrer Führung. "Wir müssen billig produzieren, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig [zu sein] und genügend Absatz für unsere Produkte zu finden. Die deutschen Gewerkschaften sind keine Maschinenstürmer und werden sich auch hier dem technischen Fortschritt nicht widerstetzen. Aber es wird auch unter den verfeinerten Bedingungen darauf ankommen, den Arbeitslohn und das Arbeitstempo mitgestaltend so zu fixieren, dass der Arbeiter in seiner Lebenshaltung noch existieren kann."( zit. bei Hinrichs 1976, 267f) So die Sozialdemokraten.

(58) Und die Kommunisten? "Zwar griffen die kommunistischen Parteien die 'kapitalistische Rationalisierung' immer wieder in heftigen Worten an, aber nicht etwa aus einer prinzipiellen Gegnerschaft zu den Methoden von Ford und Taylor, sondern weil diese Rationalisierung nicht im Namen einer 'proletarischen' Staatsmacht durchgesetzt wurde. Keineswegs der qualitative soziale Inhalt, sondern die äußerliche politisch-juristische Form erschien als das eigentliche Kritierium, in 'wessen Interesse' die sogenannte Arbeitswissenschaft durchgesetzt würde." Es ging nicht gegen die neue fordistische Qualität kapitalistischer Menschenbewirtschaftung, es ging "nur noch um das 'Wie' der zweiten industriellen Revolution, abermals getrieben von den Angstpotentialen der internationalen Konkurrenz. Es gab eine Art zweiter 'Standortdebatte' rund hundert Jahre nach der von Friedrich List forcierten Propaganda zur Industrialisierung, um der damals übermächtigen englischen Konkurrenz standhalten zu können." (401ff) Bis in die gegenwärtige Standort-Deutschland-Debatte hinein führt Kurz die Darstellung solcher kapitalkonformen proletarischen Orientierungen auf die sogenannte gute produktive (Lohn-)Arbeit und auf die Säuberung der westlich-kapitalistischen Warenproduktion von ihren negativen Konsequenzen bzw. auf die "sozialistische" Warenproduktion und Erscheinungen. Er stellt Zusammenhänge her zwischen diesen Orientierungen und dem Nationalismus sowie Antisemitismus, üble Erscheinungen, denen keine der etablierten "Linken" ernsthaft den Boden, aus dem das kriecht, zu entziehen vermag.

(58.1) 21.12.2001, 17:31, Ano Nym: List war ja wohl ein bisserl früher

(59) In diesem Gang durch die Geschichte wird deutlich, womit eine Bewegung, die tatsächlich eine allgemeinmenschliche Emanzipation im Auge hat, unter keinen Umständen kompatibel sein kann. In folgenden Kategorien und Strukturen ist heute eine zivilisationsverträgliche Zukunft weder denk- noch erreichbar:

Alle diese Institutionen und Strukturen stehen in untrennbarem Zusammenhang mit der (kapitalistischen) Warenproduktion und diese bringt eben gerade diejenigen Tendenzen zur Zivilisationsvernichtung hervor, deren Überwindung Ziel von Sozialisten sein sollte.

Die letzte Hoffnung - Erinnerung ans Mittelalter

(60) Nach der Auffassung des radikalen Kritikers Kurz sind die mit der Lohnarbeit entstehenden Mentalitäten Ausdruck der unvermeidbaren "Verhausschweinung" der Arbeiter. Die politischen Formen des proletarischen Klassenkampfes und die in ihm geförderten Mentalitäten dienen selbst der sogenannten Verwurstung (28, Krisis 1999, 38). Sie sind nach Kurz konstituierend für das angeblich Unnützeste und Schädlichste, was es je gegeben hat - den Kapitalismus. Folgt der sozialistische Leser des Schwarzbuches der Kurzschen Logik, so drängt sich wieder die Frage auf: Woher kann überhaupt ein Funken Hoffnung auf eine menschliche Zukunft kommen? Kurz durchstöbert die Geschichte der letzten Jahrhunderte nach Impulsen, die zum Zeitpunkt des erwarteten großen Zusammenbruchs des Kapitalismus die Menschen auf Alternativen verweisen.

(61) Welcher Art müsste dieses Hoffnungsvolle sein?
Verstreut im Buch finden sich bei Kurz Kriterien dafür: Er müssten in der Geschichte solche Lebensmuster und dementsprechende Mentalitäten zu finden und wieder zu aktivieren sein, auf Grund derer sich die vom Kapitalismus atomisierten, einander feindlichen Individuen dazu befähigen, eine völlig neue Gemeinschaft zu gründen. Dank dieser Impulse müssten die Menschen zur Zeit des großen Kladderadatschs dann in der Lage sein, eine Selbstverwaltung aufzubauen, eine Lebens- und Tätigkeitsweise (der Begriff Arbeit wird bei Kurz nur für vorsozialistische Gesellschaften gebraucht), die nicht mehr auf der Produktion von Wert beruht, die des Staates und jeglicher Herr- und Knechtschaft nicht mehr bedarf, die in jeder Hinsicht gegenüber der heutigen Zivilisation ein Segen ist. Diese Kriterien für eine Suche nach emanzipatorischen Elementen sind meines Erachtens völlig berechtigt.

(62) Wird Kurz auch fündig? Ja, aber wir wissen bereits, dass nach seiner Auffassung solche Impulse nicht in den innerkapitalistischen (Klassen-)Kämpfen zu finden sind, demzufolge auch nicht in den sogenannten neuen sozialen Bewegungen. Sie entstehen nach Kurz auch nicht als Produkte einer sich eventuell bereits ankündigenden Zersetzung der kapitalistischen Gesellschaft, sondern - im Mittelalter, genauer gesagt, bei der Abwehr der frühkapitalistischen Zumutungen durch betroffene Menschen. Nach oben genannten Kriterien existierten damals, sozusagen im Vorhof zum Paradies (aus dem der kapitalistische Weltgeist die Menschen vertrieb) bereits die entscheidenden Impulse, deren Überbleibsel eventuell heute noch eine allgemeinmenschliche Emanzipation in Gang setzen könnten.

(63) Kurz benennt, was an diesen Verhältnissen (angeblich) so hoffnungsvoll war?

So meint Kurz und schlussfolgert: Getragen von autonomen emanzipatorischen Bewegung aus, von den Ludditen, von den Maschinenstürmern, sei seit damals zu jedem Zeitpunkt eine "selbstbestimmte Produktivkraftentwicklung [...] im Prinzip denkbar gewesen. (135)

Die Freiheit der Maschinenstürmer

(64) Welche Eigenschaften dieser Bewegungen sind nun entscheidend für Kurz' Annahme, die Ludditen etwa hätten siegen und sozusagen die allgemeinmenschliche Emanzipation erkämpfen können? Er zitiert Thompson (1963, 640 und 218): Die Ludditen wollten, dass das "wirtschaftliche Wachstum nach ethischen Grundsätzen geregelt und [...] den menschlichen Bedürfnissen untergeordnet sein sollte". Sie "wollten sich nicht an irgendein 'freies Spiel der Kräfte' ausliefern, sie empfanden den Wirtschaftsliberalismus nicht als Freiheit, sondern als ungeheuren Betrug, und sie wehrten sich daher gegen den 'Verlust von Statur und vor allem Unabhängigkeit für den Arbeiter, seine vollständige Abhängigkeit von den Produktionsmitteln des Unternehmers, [...] die Disziplin und Monotonie der Arbeit [... den] Verlust von Freizeit und Annehmlichkeiten; und die Reduktion des Menschen zu einem 'Instrument'." Darauf Kurz: Die Ludditen standen kurz davor, "die irrationale betriebswirtschaftliche 'Vernunft' zu enttarnen und eine alternative, den benthamistischen Zurichtungen diametral entgegengesetzte Mobilisierung der neuen Produktivkräfte in einem tatsächlich 'arbeitssparenden' und 'wohlfahrtssteigernden' Sinne zu verlangen. Vielleicht wurde sie gerade deswegen derart brutal unterdrückt [...], um diesen unklar aufkeimenden Gedanken für immer zu ersticken und auszulöschen." (137 und 161f) Statt als fremdbestimmtes Menschenmaterial der abstrakten Arbeit zu dienen und sich einem betriebwirtschaftlichem Kalkül zu unterwerfen, wollten sie eher eine plebejische Kultur und moralische Ökonomie setzen. (135) Sie "orientierten sich an einem 'kulturellen Muster', das einen 'Rhythmus von Arbeit und Muße' ebenso einschloss wie die Vorstellung eines 'gerechten Preises' und eines 'angemessenen Lohnes'" (Thompson 1987, passim). Sie hielten nichts von den liberalen staatsbürgerlichen Freiheiten und Nationalgefühligkeiten.

(65) Kurz' Suche nach solchen Arbeits- und Lebensformen sowie Mentalitäten, die Impulse für die Begründung einer Gesellschaft der allgemeinmenschlichen Emanzipation sein könnten, ist zu begrüßen. Es ist aber offenkundig so, dass er zu diesem Zwecke und um die Erinnerung daran für einen Bruch mit der heutigen bürgerlichen Ideologie zu mobilisieren, die mittelalterlichen Verhältnisse, die von der beginnenden Kapitalisierung zerstörten, schönt. Er muss sich diese schönreden, da er die revolutionäre Rolle des Kapitalismus gerade dafür ignoriert, die in den frühkapitalistischen Revolten enthaltenen rückwärtsgewandten Momente zu überwinden: die Orientierung auf "die alte handwerkliche Lebenswelt und damit teilweise auch deren soziale Beschränktheit". (135)

(66) Für diese Absicht ist das störend, was Kurz auf Seite 107 weiß: Der Inhalt der antikapitalistischen Ludditenbewegung bestand v. a. in der Behauptung der familialen Produktionseinheit, ein Ziel, "borniert, blutsverwandschaftlich verblödet, kleinlich und statisch bis zur Versteinerung". (107) Kurz trennt von diesen bornierten Bedingungen und entsprechenden "negativen" Zügen diejenigen Mentalitäten, die er als konstituierend für eine postkapitalistische Gesellschaft hält. Diese menschlichen Eigenschaften erhalten damit einen abstrakten, universellen, zeitlosen, natürlichen Charakter. Ist dies geleistet, kann er erklären: Die ludditischen Maßstäbe des Kampfes sind "keineswegs bloß rückwärtsgewandt, sondern sie klagen elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein, die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden." (134)

(67) Wir finden hier die Methode wieder, die Marx an Feuerbach kritisierte. Es ist die Annahme des menschlichen Wesens als ein "dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum".(MEW 3/6) Wenn von dessen tatsächlicher Bestimmung durch das jeweils wirkliche "ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse" (ebd.) abstrahiert wird, kann etwa die Existenz eines guten oder eines bösen Prinzips behauptet werden. Mentalitäten einer bestimmten historischen Wirklichkeit sind dann zum Beispiel in solche zu scheiden, die borniert und verblödet sind, und in solche, die als Ausdruck elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit erscheinen. Solche Wesenseigenschaften können dann als eine "innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden" (ebd.). Diese Methode macht die Kurzsche spekulative Konstruktion möglich, sein Setzen auf die Hoffnung, dass die einstigen guten Eigenschaften, die von den betrügerischen bürgerlichen Ideologen und mit offener Gewalt niedergehalten wurden, dann am Tage der Katastrophe plötzlich alle wieder da sein und eine neue Gesellschaft begründen könnten. Wolter bezeichnet dies als "Das wundersame Überleben der unmittelbaren Subjekte" (Wolter 2000)

(68) Es ist sehr problematisch, Zukunftshoffnungen an Rückbesinnungen auf Mentalitäten und Strukturen zu knüpfen, die vor Jahrhunderten zu Beginn der Kapitalisierung in Westeuropa verbreitet waren (bzw. es heute noch in verschiedenen Bereichen der dritten Welt sind), also Zukunft als Wiederkehr eines verlorenen (angeblichen) Paradieses zu beschwören. "Bei Kurz klingt die Vorstellung einer bloß äußerlichen Überformung der Subjekte durch die totale Vergesellschaftung unterm Kapital an, unter der weiter das autonome humanistische Subjekt als 'Eigentliches' schlummert." (ebd.)

Vom Paradies ins Paradies?

(69) Geradezu verheerend aber für die Suche nach Keimformen des Neuen in den heutigen Verhältnissen und Auseinandersetzungen ist die Annahme, dass tatsächlich unter Umgehung der kapitalistischen Entwicklung von den Ludditen, von den Maschinenstürmern aus, sozusagen eine sozialistische Zukunft erkämpfbar gewesen wäre. Die erforderlichen elementaren und universalen Bedingungen menschlicher Freiheit waren bereits existent, so Kurz, und es lag vorrangig an den o.g. bürgerlichen Ideologen und dem Terror, dass der angeblich bereits eröffnete Weg ins Reich der Freiheit nicht wirklich durchschritten wurde und statt dessen der kapitalistische Horror seinen Lauf nahm: Es entstanden "Arbeiterpopulationen, die [arbeitend] in zweiter oder dritter Generation im Fabriksystem [...], keine kollektive Erinnerung an relativ bessere vorkapitalistische bzw. vorindustrielle Zustände mehr imaginativ besetzen konnten und sich weitgehend an die Fabrikdisziplin gewöhnt hatten. Diese gewissermaßen 'verhausschweinte' Arbeiterklasse trug im wesentlichen den Aufschwung der sozialistischen Parteien und Gewerkschaften zur sozialen Massenbewegung." (237)

(69.1) Re: Vom Paradies ins Paradies?, 21.12.2001, 17:34, Ano Nym: Ein faszinierender Gedanke, den du da zitierst. Deine Kritik trifft nicht direkt, denn das eben war ja eine kernsozialistische Vorstellung der Revolution.

(70) Abgesehen vom spekulativen Charakter der Kurzschen Konstruktion, was ist an der Annahme eines nichtkapitalistischen Weges, der aus dem Mittelalter heraus direkt zur allgemeinmenschlichen Emanzipation hätte führen können, außerdem noch problematisch? Ich meine, es kommt eine verbreitete Denkweise zum Ausdruck, die eine erfolgreiche Suche nach tatsächlichen Wegen aus dem Kapitalismus ernsthaft belastet. Das ist umso ärgerlicher, weil dank der inzwischen entstandenen materiellen Grundlagen das Ringen um sozialistisch-kommunistische Gesellschaften nicht mehr utopisch sein muss.

Das einfache gute Leben - ein Gedankenexperiment

(71) Nehmen wir einmal mit Kurz an, es hätten zur Zeit der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation tatsächlich mentale und materielle Bedingungen der menschlichen Freiheit existiert und dem betrügerischen bürgerlichen Weltgeist wäre es nicht gelungen, den Kapitalismus zu gebären. Prüfen wir in einem Gedankenexperiment die Möglichkeiten, unter diesen Bedingungen zur allgemeinmenschlichen Emanzipation zu gelangen.

(72) Die Frage, ob ausgehend von vorkapitalistischen Verhältnissen Sozialismus-Kommunismus entstehen könne, ist nicht neu. Sie wurde zum Beispiel dem späten Marx bezüglich der russischen Dorfgemeinde, der Mir, gestellt. Auch er hielt einige Charakteristika dieser vorkapitalistischen Lebens- und Produktionsform, so das Gemeineigentum und bestimmte Mentalitäten der Bauern für sozusagen sozialismusnahe.

(73) Er stellte sich die Frage: Muß diese Dorfgemeinde, deren Auflösung bereits begonnen hatte, unvermeidbar das "Kaudinische Joch" des Kapitalismus durchschreiten oder kann sie der "unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen?" (MEW 19/404f). Marx behandelte diese Frage mehrfach in Briefen. Seine eigenen Antworten darauf befriedigten ihn selbst nicht.

(74) Der ML dagegen war sich hinsichtlich der dritten Welt sehr sicher: Die dortigen Gesellschaften könnten einen nichtkapitalistischen Entwicklungsweg zum Sozialismus einschlagen, ohne erst die "verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchzumachen."( MEW 19/108) Die Vertreter des Real-"Sozialismus" setzten ebenso wie Marx für diese Chance allerdings mindestens eine Bedingung: Diese Gesellschaften bedürfen der Hilfe von außen. Vorausgesetzt wird immer ein bereits fortgeschrittener sozialistischer Aufbau in anderen Teilen der Welt. Dass dies im 20. Jahrhundert fehlschlug, ist natürlich noch kein Argument gegen die Möglichkeit eines solches Weges, zumal wir mit Kurz die Entwicklung des Ostens nicht als sozialistisch einschätzen und der sogenannte proletarische Internationalismus demnach auch keine Hilfe von sozialistischem Charakter gewesen sein kann.

(75) Unser Gedankenexperiment muss nicht nur auf die Annahme bereits vorhandener positiver internationaler Erfahrungen beim sozialistischen Aufbau verzichten, nicht nur auf die mögliche Teilhabe vorkapitalistischer Gesellschaften an den Produktivkräften einer dem Kapitalismus überlegenen Produktionsweise und auf die Voraussetzung sonstiger geschwisterlicher Hilfe von außen. Hier geht es (wie bei Kurz in Bezug auf die Ludditen) vielmehr um die Möglichkeit eines Übergangs zum Sozialismus-Kommunismus ehe überhaupt irgendwo in der Welt eine halbwegs entwickelte kapitalistische Produktionsweise entstanden war. Diese Frage ist von einiger Tragweite. Wer diese bejaht, muss zum Beispiel buchstäblich den ganzen Marxschen Geschichtsmaterialismus verwerfen. Und das tut Kurz ja auch.

(76) Gehen wir also von den folgenden, von Kurz schönfärberisch angenommenen mittelalterlichen Voraussetzungen einer allgemeinmenschlichen Emanzipation aus: Sozial mündige Menschen, die über ihre eigenen Produktionsbedingungen verfügen, die kooperativ entsprechend ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten Häuser usw. produzieren, die in einen Rhythmus von Arbeit und Muße jenseits ihrer Vernutzung als fremdbestimmtes Menschenmaterial leben, die auf ein soziales Gleichgewicht und das Auskommen aller Gesellschaftsmitglieder achten, die für Fremdenhaß und Rassismus unanfällig sind.

(77) Dies angenommen, entstünde zunächst die Frage, warum denn die Menschen nicht in einem solchen glücklichen Zustand verblieben? Irrtum, Lüge, bewusste Demagogie und Heimtücke von Ideologen und direkter Terror erklären hier nichts. Es gibt keinerlei Ideen, auch keine bürgerlichen, die zu einer geschichtsmächtigen materiellen Gewalt werden könnten, wenn ihnen nicht sozusagen die Wirklichkeit, d.h. die Menschen in ihrer Lebenslage und ihre dementsprechenden Interessen entgegendrängt. Nimmt man aber Priesterbetrug und -gewalt nicht als die primäre Kraft an, die die Menschen aus einem angeblich natürlich-paradiesischen Zustand vertrieben, so bleibt nur die Annahme überhistorischer Triebkräfte, die die Beibehaltung eines paradisischen Zustandes verhinderten. Auch dieses findet sich bei Kurz in einer früheren Schrift "In gewisser Weise kann man sagen, dass die Produktivkräfte immer entwickelt werden, weil der menschliche Geist nie stillsteht." (Kurz 1997, 58) Auch im Schwarzbuch benennt er diese sozusagen genetische Triebkraft der Geschichte: Die Rastlosigkeit des menschlichen Geistes. "Auf die Dauer ist es unmöglich, die menschliche Phantasie und Aktivität an Erfindungen zu hindern." (108) Und deshalb konnten die an sich doch ganz glücklichen Menschen nicht in diesem Zustand verbleiben.
Unterlassen wir es hier, uns mit dieser Mythologie auseinanderzusetzen. Gehen wir einfach mit Kurz davon aus, die Menschen hätten damals beste bewusstseinsmäßige Voraussetzungen für die Begründung eine Gesellschaft der allgemeinmenschlichen Emanzipation gehabt.

Mit Wassermühlen in den Sozialismus

(78) Auch die Ludditen hätten sich nach dem (unverständlichen) Verlassen der angenehmen mittelalterlichen Welt auf dem Weg in eine noch bessere ernähren und behausen müssen. Fragen wir nach den materiellen Voraussetzungen hierfür. Kurz benennt den Stand der technischen Entwicklung, von dem aus angeblich die bisher größte Chance für eine menschliche Zukunft gegeben war: Wassermühlen sowie im Bergbau Hebemaschinen. Hierauf fußend, so Kurz mit Thompson, hätte sich eine Revolte "zu jedem Zeitpunkt zu einer Bewegung mit weitergehenden revolutionären Zielen" entfalten (Thompson 1987, 641) und die Produktivkräfte zum Zwecke der allgemeinmenschlichen Emanzipation gemeinschaftlich entwickeln können. Es wäre möglich gewesen, schreibt Kurz, den "Dualismus von Marktbeziehungen und Räte-Kommunikation der getrennten Produzenten durch eine kommunikativ geplante und zusammenwachsende Produktion aufzuheben, und [...] direkt gesellschaftliche Produktion selber durch Beschlüsse festzulegen. [...] Im sogenannten Mittelalter ist durchaus eine technische Entwicklung festzustellen, die durch eine autonome emanzipatorische Bewegung der Produzenten hätte forciert werden können [...] etwa die Wassermühlen oder die Hebemaschinen im Bergbau. [...] Grundsätzlich wäre es also möglich gewesen, die Produktivkräfte in diesem Sinne kontrolliert und gemeinschaftlich zu entwickeln." (108f)

(79) Von hier aus allgemeinmenschliche Emanzipation zu denken, das heißt folgende Entwicklung anzunehmen: Ausgehend von Wassermühlen und Hebemaschinen können solche Produktivkräfte entwickelt werden, deren Gebrauch jegliche Entfremdungsform ausschließt, also knechtende Formen der Arbeitsteilung, Privateigentum an Produktionsmitteln, Spaltung der Gesellschaft in Herren und Knechte bzw. in Klassen, staatlichen Formen der Vergesellschaftung, Markt und Geld. Arbeit dürfte nicht als Lohnarbeit, Produktion nicht als Warenproduktion stattfinden. In den menschlichen Gemeinschaften müsste die Entwicklung und der Gebrauchs der neuen materiellen Produktivkräfte direkt und unmittelbar der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse freier Individuen dienen.

(80) Nun mangelt es mir an Fantasie oder richtiger gesagt an naiver Bedenkenlosigkeit, mir den unvermittelten Sprung von der Wassermühle zu solchen Produktivkräften einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft vorstellen zu können. Deshalb muss ich meine Überlegungen auf die historisch tatsächlich entwickelte Maschinerie beziehen, also auf Dampfmaschinen, damit betriebene Maschinen zur Herstellung von Konsumgütern, Eisenbahnen, Verbrennung- und Elektromotoren, Kraftwerke, chemische Produktionen usw. usf. durch den ganzen Fordismus hindurch bis zur computergesteuerten komplexen Automatisierung. In der Gegenwart und den heutigen Produktionsmitteln angekommen lassen sich, obwohl dies nun wirklich schöpferischer Phantasie bedarf, durchaus solche materiellen Produktivkräfte und Produktionsformen denken, die tatsächlich keinerlei knechtender Formen der Arbeitsteilung mehr bedürfen. Ihr Gebrauch benötigte nicht mehr die Lohn-Arbeit, die produzierten Güter müssten nicht mehr die Form von Waren annehmen.

(81) Diese Produktivkräfte, die einer neuen Gesellschaftsformation zugrunde liegen, die in großem Stile die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern können (dies unverzichtbar für eine allgemeinmenschliche Emanzipation), müssten mindestens folgenden weiteren Kriterien gerecht werden:

(82) In der tatsächlichen Geschichte hatte die Entwicklung von entsprechenden Produktivkräften, die - heute durchaus erkennbar - einer solchen zukünftigen Produktionsweise zugrunde liegen könnten, mindestens eine unverzichtbare Voraussetzung: eine ungeheure Ausweitung und Vertiefung gerade der knechtenden Arbeitsteilung. Das zeigt bereits der Blick auf den unmittelbaren Fertigungsprozess. Hier war die Entwicklung der Produktivkräfte untrennbar mit der extremen Aufspaltung des Gesamtarbeitsprozesses verbunden. Erst der Höhepunkt dieser Entwicklung, die extreme Reduzierung der Tätigkeit des Lohnarbeiters in der tayloristisch-fordistischen Fließfertigung auf jeweils wenige Handgriffe, machte historisch die weitergehende Automatisierung von Fertigungsprozessen und schließlich ihre elektronische Steuerung möglich. Erst an diesem Punkt der realen Geschichte angelangt, wird eine weitere Entwicklung von Produktivität denkbar, die der knechtenden Arbeitsteilung und aller ihrer Folgerungen nicht mehr bedarf, die also den oben genannten Anforderungen einer allgemeinmenschlichen Emanzipation an die ihr zugrunde liegenden Produktivkräfte entsprechen. Die reale Entwicklung birgt heute in sich die Möglichkeit (noch nicht die Wirklichkeit!), dass sich die Produktivität menschlicher Arbeit (und dies eben nicht nur gemessen am kapitalistisch-betriebswirtschaftlichen Kriterien, sondern auch an der Verringerung der Mühsal menschlicher Existenz) geradezu explosionsartig entfalten könnte. Es ist offenkundig diese Möglichkeit, die die Krisis- Gruppe im Manifest gegen die Arbeit sogar zur Annahme verführt, Arbeit würde überhaupt völlig verschwinden. Dies nur nebenbei.

(83) Für unser Gedankenexperiment jedenfalls halten wir fest: Die realgeschichtliche Entwicklung der materiellen Produktivkräfte führte zu immer neuen knechtenden Formen von Arbeitsteilung (mit all den damit verbundenen Entfremdungen). Dieser Prozess erreichte und erreicht schließlich jenen Punkt, da auf dem Höhepunkt der tayloristisch-fordistischen Produktionsweise solche Produktivkräfte entstehen, die genau diese Art von Arbeitsteilung und ihre Folgen als aufhebbar erscheinen lassen, die sozialen Bewegungen zur allgemeinmenschlichen Emanzipation eine nachhaltige materielle Basis verschaffen können.

Sprung vom Hebewerk zur Elektronik oder: tayloristisches Fließband als Reich der Freiheit

(84) Wer nun vom Mittelalter aus ohne Durchgang durch den Kapitalismus eine allgemeinmenschliche Emanzipation denken will, hat bezüglich der materiellen Voraussetzungen hierfür zwei alternative Möglichkeiten:
Erstens wäre zu zeigen, dass die Schaffung materieller Produktivkräfte, die im o. g. großen Stile die Mühsal der menschlichen Existenz erleichtern, möglich ist, ohne dass die Entwicklung über Zwischenschritte wie die massenweise Anwendung von Dampfmaschinen, tayloristischer Fließbandarbeit usw. verlaufen müsste. Es wäre dann darzustellen, wie die Menschen unter Umgehung der historisch bekannten Entwicklungen der großen Maschinerie direkt von der Wassermühle zu Produktivkräften gelangen können, die dem Reich der Freiheit zugrundeliegen müssten.

(85) Oder die zweite Möglichkeit: Es wird akzeptiert, dass die Entwicklung materieller Produktivkräfte über die Schaffung und Anwendung von Dampfmaschinen, Fließbändern usw. verlaufen muss. Dann müsste aber bewiesen werden, dass dies alles hätte entstehen können ohne die massenhaft knechtende (Lohn-)Arbeitsteilung, damit ohne kapitalistisches Privateigentum, ohne Warenproduktion, ohne Staat, ohne Elend, ohne Mord und Totschlag, also ohne all die abstoßenden Erscheinungen, wie sie Kurz im Schwarzbuch beschreibt und die er vom Mittelalter ausgehend für vermeidbar hält.

(86) Die erste Variante zu vertreten, die eines großen Sprungs von der Wassermühle zur weitgehend automatisierten Herstellung von Produkten, hieße, göttliche, teuflische oder sonstige außerirdischer Kräfte anzunehmen. Die Fähigkeit, von solchen Voraussetzungen aus zu argumentieren, steht mir nicht zur Verfügung; Kurz vermutlich auch nicht, auch wenn seine Logik auf die Annahme solcher Kräfte hinausläuft. Das macht die Diskussion schwierig. Überhaupt, ein Mensch, der wie Kurz Marx' Kapital und die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie durchgearbeitet, zugleich hinreichende Erkenntnisse über die reale Geschichte der Produktivkräfte bis hin zu den postfordistischen hat und der dennoch ausgehend von der Wassermühle eine nichtkapitalistische Form der industriellen Entwicklung für möglich hält, muss entweder ein Genie sein mit einem bisher noch nicht dagewesenen Verständnis für Geschichte oder ein - behutsam formuliert - sehr schwieriger Diskussionspartner.

(87) Dieser Diskussion sollte jedoch nicht ausgewichen werden, weil die Annahme eines möglichen nichtkapitalistischen Betriebs von Dampfmaschinen oder fordistischen Fließbändern wesentlich die Frage nach der Aufhebbarkeit von Kapitalismus durch eine sozialistisch-kommunistische Produktions- und Lebensweise überhaupt berührt.

(88) Der Streit um die Annahme von Kurz, der Kapitalismus sei unter dem Gesichtspunkt der allgemeinmenschlichen Emanzipation nichts weiter als ein geschichtlicher Irrtum, ist unmittelbar relevant für die heutige Suche nach Auswegen aus dem Kapitalismus. Gerade wer aus der ML-Tradition kommt und von der Unumgänglichkeit des Kapitalismus als Durchgang hin zum Sozialismus-Kommunismus überzeugt war und ist, sollte nicht annehmen, dass er damit bereits über Kurz' Vorstellung vom nichtkapitalistischen Entwicklungsweg erhaben sei. Denn wer zum Beispiel das Fehlschlagen des real-"sozialistischen" Versuchs vorrangig ungünstigen bzw. feindlichen äußeren Umständen, den Fehlern der jeweiligen Führungen oder/und dem ML zurechnet, der hat keinerlei Recht, mit Bezug auf Marx über diesen Kurzschen Gedanken zu lästern. Denn im Osten wurde auch versucht, die Marxsche Erkenntnis zu ignorieren, dass eine sozialistische Entwicklung global einen hochentwickelten Kapitalismus voraussetzt. Wer sich auf Marx bezieht und die Oktoberrevolution (und die weitere Entwicklung der Sowjetunion) zugleich als sozialistische Revolution versteht, muss unter anderem erklären können, inwiefern Erkenntnisse aus dem Kapital und den Grundrissen falsch oder überholt waren und sind. Die Bestimmung der Oktoberrevolution als Große Sozialistische nähert sich ansonsten durchaus der Kurzschen Annahme einer vom Mittelalter ausgehenden möglichen nichtkapitalistischen Entwicklung. Den ehemaligen ML-ern wird dringend empfohlen, was der Autor dieser vorliegenden Notizen versucht, nämlich die Auseinandersetzung mit Kurz als eine Selbstverständigung über die eigenen Vorstellungen von den materiellen Voraussetzungen und den möglichen Formen einer Aufhebung des Kapitalismus zu betreiben.

(89) Fragen wir also: Kann der Prozess des Herausbildung o. g. Technik (von der Dampfmaschine bis zu den Produktionsmitteln des Fordismus) unter den Bedingungen einer allgemeinmenschlich emanzipierten Gesellschaft erfolgen? Ist die Schaffung und der Betrieb dieser Produktionsmittel ohne knechtende Arbeitsteilung, ohne kapitalistisches Privat- oder Staatseigentum, Lohnarbeit usw. möglich?

(90) Die Entwicklung dieser Maschinerie erfordert unter anderem eine Konzentration enormer materieller Mittel und Arbeitskräfte, die Entwicklung von neuen Infrastrukturen, Bildung und schließlich Wissenschaft. Sie bedarf einer Akkumulation, die die traditionellen Möglichkeiten einer vorrangig familiär orientierten bzw. in Zünften organisierten bäuerlichen und handwerklichen Produktion übersteigt. Diese Akkumulation zerstört oder marginalisiert unvermeidbar die alten Produktions- und Lebensformen. Sie bedarf der Trennung der Produzenten von den ehemals eigenen Produktionsmitteln, sie erzwingt deren Übergang zur Lohnarbeit, also zur formellen Subsumtion von Arbeit unter das Kapital: Innerhalb der Lohnarbeit vertieft sie beständig die Arbeitsteilung. Das führt bis hin zur reellen Subsumtion unter die von der Lohnarbeit geschaffenen äußeren Gewalt großen maschinellen Industrie. Die Schaffung dieser Großindustrie ist nur auf kapitalistische Weise möglich. Auch deren Weiterentwicklung bis zu ihrer tayloristisch-fordistischen Phase bedarf der Trennung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln, der Ausbeutung von Arbeitskräften in Form von Lohnarbeit (mit Ausnahmen auch der Zwangsarbeit), also der kapitalistischen Form von Produktion.

Mit List gegen die Geschichte und gegen Marx

(91) Diese Entwicklung ist unvermeidbar verbunden mit dem Verlust an ehemals vielseitigen Fähigkeiten des mittelalterlichen Handwerkers mit seiner relativ ausgeprägten Souveränität (die allerdings auf bornierte, gleichbleibende Verhältnisse bezogen war). Marx beschreibt dies akribisch im Kapital als Herausbildung und Entfaltung der Kapitalverhältnisse und der abstrakten Arbeit sowie eines von einem objektiven Schein produzierten falschen Bewusstseins. Mensch muss nicht unbedingt Marx kennen, um zu verstehen, dass diese Entwicklung nicht krankhaften bürgerlichen Hirnen entspringt, sondern die unvermeidbare Bedingung und das Ergebnis der Entwicklung von Produktivkräften und der menschlichen Zivilisation über das im Feudalismus mögliche Niveau hinaus ist. Wenn der marxkundige und sich stellenweise zu Marx bekennende Kurz es fertigbringt, die kapitalistische Entwicklung, die Unterwerfung von Generationen von Lohnarbeitern unter das Kapital, als eine Geschichte des Betrugs durch geistige Würstchen zu erzählen, dann ist das eine beachtliche literarische Leistung.

(91.1) Re: Mit List gegen die Geschichte und gegen Marx, 21.12.2001, 17:37, Ano Nym: Nicht wirklich. In der Zeit von Marx war diese Idealisierung der vorindustriellen Vergangenheit modisch, sie ist es noch heute. Ob die Arbeiter bei ihren Junkern freier waren? Vergessen wir auch nicht die Bevölkerungsexplosion.

(92) Die zweite Geschichte, die Kurz erzählt, ist die vom knapp verpassten direkten Weg ins Reich der Freiheit. Er beschwört die bereits vor dem Kapitalismus angeblich vorhandene universale Bedingung menschlicher Freiheit. Es sind dies borniert freiheitliche Mentalitäten des mittelalterlichen Handwerkers, Elemente der Selbstverwaltung in territorial beschränkten Bereichen usw. Diese Eigenschaften zu bewahren und auf der Grundlage einer nicht herrschaftsförmig formierten Gesellschaft zu entwickeln, das (wir nehmen an, es wäre möglich gewesen) hätte bedeutet, auf all dies, auf die Konzentration von Kapital, auf die Entwicklung knechtender Arbeitsteilung, auf die vollständige Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln usw. zu verzichten. Das hätte bedeutet, auf die Entwicklung dieser Produktivkräfte selbst zu verzichten.

(93) Proudhon, die zerstörenden Wirkungen der kapitalistischen Arbeitsteilung anklagend (sie aber nicht wie Marx als unvermeidbarer Durchgang zur Aufhebung jeglicher knechtender Arbeitsteilung verstehend) tut seinerzeit bereits "einen Schritt rückwärts und schlägt dem Arbeiter vor, nicht lediglich den zwölften Teil einer Nadel, sondern nach und nach alle zwölf Teile anzufertigen. Der Arbeiter würde so zu der Wissenschaft und dem Bewußtsein der Nadel gelangen." Marx': "Alles in allem geht Herr Proudhon nicht über das Ideal des Kleinbürgers hinaus." (MEW 4/157) Dieses Urteil könnte sich auch Kurz annehmen (bloß der will ja, dass die Arbeiter überhaupt nicht mehr hingehen; Krisis 41). Es hat in der Geschichte des "Sozialismus" nicht nur in der Theorie, sondern auch praktisch wahrlich großangelegte Versuche gegeben, sozusagen Marx' Einsichten in den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Schaffung der großen Maschinerie und der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse zu überlisten.

(94) Lenins Hoffnung auf etwas Unmögliches, auf einen sozialistischen Taylorismus, bereitete dem Antikommunismus stalinistischer Art den Boden. Von der Hoffnung auf eine allgemeinmenschliche Emanzipation wurde Abschied genommen zugunsten einer partiellen, bürgerlich-widersprüchlichen. (s. Weiß 1998) In Maos China endete das Experiment, regional bornierte Produktionseinheiten mit ihrer abstrakten Möglichkeit der Selbstverwaltung zum Aufbau einer bedeutenden Metallurgie einzusetzen, in der Katastrophe (bzw. heute im Übergang zur "normalen" kapitalistischen Akkumulation). Es ist nicht so, dass etwa an sich gute Ideen Lenins (unter bolschewistischer Führung nachholend die für den Sozialismus notwendigen materiellen und kulturellen Voraussetzungen schaffen) durch subjektive Fehler der Verantwortlichen, durch Dummheit sowie Unwissenheit der Betroffenen ins Gegenteil verkehrt wurden.

(94.1) 21.12.2001, 17:39, Ano Nym: Lenin - der gute Geist... Warum denn hier nicht historisch denken. Jeder produziert ein Stück seine zukunft mit...

(95) Egal ob "große Sprünge" oder behutsamere Reformen unternommen wurden, die Ursachen des östlichen Scheiterns gemäß dem antikapitalistischen Selbstverständnis liegen tiefer: Die Versuche, ausgehend von einer vorkapitalistischen Gesellschaft oder auch von einer kapitalistischen Produktionsweise, die ihre zivilisatorischen Potenzen noch nicht voll ausgeschöpft hat, die materiellen Voraussetzungen für eine allgemeinmenschlichen Emanzipation erlangen zu wollen, jedoch die barbarisch-widersprüchlichen Voraussetzungen dieser Entwicklung vermeiden zu wollen, müssen grundsätzlich fehlschlagen. Das ist genauso unmöglich, wie das Vorhaben, die westlichen kapitalistischen Gesellschaften von ihren "bösen" Seiten zu reinigen. Eine solche "gute" Gesellschaft "für unsere Menschen" zu errichten, allerdings unter der Herrschaft des "sozialistischen" Staates, des Gesamtkapitalisten, das war auch das Bemühen des Ostens. Eine nichtkapitalistische Entwicklung von Regionen, die sich nicht auf dem Niveau eines entfalteten Kapitalismus befinden, ist nicht für alle Zeiten ausgeschlossen. Wenn sich in den westlichen Metropolen starke emanziaptorische Bewegungen herausbilden, sähe die Voraussetzung dafür völlig anders aus.

(96) Hier geht es jedoch um zwei andere Fragen, nämlich um die, ob mit der Perspektive einer allgemeinmenschlichen Emanzipation weltgeschichtlich die kapitalistische Entwicklung überhaupt umgehbar war und darum, welche unterschiedlichen Sozialismus- und Revolutionsvorstellungen die beiden möglichen Antworten implizieren.

(97) Weiter zum 3. Teil...

Anmerkungen (Fortsetzung)

(98) [7] Das ist vermutlich auch der Grund, warum Leute, die zum Beispiel mit der Kurzschen Kritik am Arbeiterbewegungsmarxismus, am Real-"Sozialismus" sowie mit seinen Überlegungen zum Antisemitismus überhaupt nichts anfangen können, von seinen anklagenden und die baldige Katastrophe voraussagenden kapitalismuskritischen Kolumnen im Neuen Deutschland jedoch begeistert sind. Obwohl sie diese als irrelevant für praktisches Engagement ansehen, ist ihnen die Art sehr vertraut, Empörung und Wut auf das Widersinnige, Böse, Unverständliche zu entfachen. Kurz wirkt hier wie eine Art seelsorgerische Bestätigung dafür, wie radikal sie eigentlich gegen den Kapitalismus votieren.

(99) [8] Das marxistisch-leninistische Kapitalismus- und Sozialismusbild, das die von der konkreten Lebens-, Arbeits- und Denkweise losgelöste äußere ideologische, politische, ökonomische und militärische Herrschaft über die jeweilige Gesellschaft als die jeweilige Gesellschaftsordnung konstituierend und sichernd ansah, führt heute zum Beispiel zu der in der PDS weit verbreiteten Auffassung, in den nächsten 100 Jahren brauche über Sozialismus überhaupt nicht nachgedacht zu werden. Warum? Weil es gegenwärtig überhaupt noch nicht denkbar sei, dass eine linke Partei (wieder) eine solche Herrschaft ausüben könne.

(100) [9] Solange diese Bedingungen nicht gegeben, so ist laut Dostojewskis Großinquisitor "dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft unerträglicher gewesen als die Freiheit!" (Dostojewski 1988, 341). Wir haben über mehr als 100 Jahre nach Dostojewski auch noch erfahren müssen, dass jede Revolution/Wende tatsächlich damit endet(e), dass die Menschen neuen Herrschern "ihre Freiheit zu Füßen legen und [...sagen:] 'Knechtet uns lieber, aber macht uns satt!' [...] Es gibt für den Menschen, wenn er frei bleibt, keine hartnäckigere und qualvollere Sorge als die, möglichst schnell jemanden zu finden, den er anbeten kann. [...] etwas zu finden, [...] was alle, unbedingt alle zusammen, anbeten könnten" (ebd. 342f): Gott, neue gute bürgerliche Politiker, große Steuermänner der Weltrevolution und immer schließlich das Es-muss-sich-rechnen.

(101) [10] Das Schwarzbuch (289ff; 450ff) hilft zum Beispiel zu verstehen, warum Winfried Wolf Recht hat, wenn er die verkürzte Kapitalismusanalyse der PDS-Führung angreift und meint, dass dies faktisch auf einen völkischen Antikapitalismus hinausläuft und damit in die Nähe von rechter und nazistischer Ideologie führt. (Wolf 2000 und Stahl/King 2000) Im Gegensatz zu Kurz, dem auch hier zuzustimmen ist, geht Wolf zugleich in seinem Ringen um eine andere PDS-Linie von der leninistisch-trotzkistischen Hoffnung aus, eine Partei, die in den bürgerlichen Strukturen agiert und (getragen von einer Volksbewegung) die Macht erringt, könnte von dieser herausgehobenen Stellung aus (also mittels den bürgerlichen Mitteln Aufklärung, Erziehung und Einsatz zentraler Machtmittel) tatsächlich eine antikapitalistische, sozialistische Politik betreiben. Wolf wird (so wie etwa Rosa Luxemburg in der SPD, viele andere in der KPD, der SED usw.) nicht nur diesen Kampf um den angenommenen sozialistischen Charakter der PDS verlieren. Er müsste sich der Erkenntnis stellen, dass machtorientierte Parteien überhaupt nie einen solchen haben können.


Valid HTML 4.01 Transitional