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Protosozialismus und Spätkapitalismus. Versuch einer theoretischen Synthese von Bahros Ansatz (von Herbert Marcuse)
Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 03.01.2002
Projekt-Typ: geschlossen
Status: Archiv
(1) Der folgende Text ist an den Problemkreisen in Bahros Buch orientiert, die eine über seine auf die DDR abzielende Analyse hinausreichende allgemeine Bedeutung haben. Das heißt, daß im folgenden die von Bahro erarbeiteten Begriffe, die in seinem Rahmen (der "real existierende Sozialismus") nicht erweitert werden konnten, in ihrer Relevanz auch für den Spätkapitalismus aufgezeigt werden. Der zweite Text dieses Essais ist mein eigener Beitrag zur Analyse derjenigen Tendenzen des Spätkapitalismus, die den von Bahro aufgezeigten Tendenzen des Protosozialismus entsprechen. Sein Buch ist nicht nur eine Kritik des "real existierenden Sozialismus", sondern zugleich eine marxistische Analyse der Übergangsperiode zum integralen Sozialismus. Es ist der wichtigste Beitrag zur marxistischen Theorie und Praxis, der in den letzten Jahrzehnten erschienen ist.
(2) Wenn Bahros Kritik zum großen Teil, und, mutatis mutandis, auch auf den Spätkapitalismus zutrifft, und wenn, mutatis mutandis, die Alternative für beide Gesellschaftssysteme gilt, meint das nicht, daß Bahro irgendeine Konvergenztheorie entwirft. Er zeigt vielmehr die in der je eigenen Struktur der beiden (sehr verschiedenen) Gesellschaften gründende Einheit von Fortschritt und Destruktion, Produktivität und Unterdrückung, Befriedigung und Mangel. Diese Einheit, die in sehr differenten Formen beiden Gesellschaften gemein ist (und deren Stabilisierungspotential der Marxismus fatal unterschätzt hat), kann nur in einem noch nicht real existierenden Sozialismus gebrochen werden.
(2.1.1) Re: Bahros Umwälzung der Methode, 06.01.2002, 01:45, Ano Nym: mit den nötigen Abänderungen; Abk.: m. m.
(3) "Noch nicht" existierenden: damit wird die konkrete Utopie (und ihr grauenhaftes Negativ in der bestehenden Gesellschaft) zum Leitfaden der empirischen Analyse, und diese zeigt die Aufhebung der Utopie als schon existierende reale Möglichkeit ja, Notwendigkeit. Die zwingende Demonstration dieser Möglichkeit ist das Resultat einer Umwälzung der Methode: nur wenn 'der Sozialismus gerade in seinem extremen integralen, "utopischen" Begriff zum Leitbild der Analyse wird, erweist er sich als reale Möglichkeit, zeigt sich die Basis der Utopie im Bestehenden. Denn nicht die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln (die unabdingbare Voraussetzung des Sozialismus bleibt) bestimmt schon als solche die wesentliche Differenz der beiden Systeme, sondern die Verwendung der materiellen und intellektuellen Produktivkräfte.
(4) »...die ganze Perspektive, unter der wir bisher den Übergang zum Kommunismus gesehen haben, (bedarf) der Korrektur ..., und gewiß nicht allein im Hinblick auf den Zeitfaktor. Die Ablösung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die allgemeine Emanzipation des Menschen fallen um eine ganze Epoche auseinander.« (Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existieren den Sozialismus, Köln/Frankfurt 1977, S. 24).
(5) Bahro bricht endlich mit der (schon längst zur repressiven Ideologie gewordenen) Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus: Sozialismus ist Kommunismus von Anfang an - und vice versa. Wesen und Ziel der sozialistischen Gesellschaft: Das "totale Individuum", das übergreifen des Reichs der Freiheit in das Reich der Notwendigkeit muß (und kann) schon hier und jetzt zur Aufgabe und Richtlinie kommunistischer Politik und Strategie werden.
(6) Die Umwälzung der Methode ist eigentlich die Rückkehr des Marxismus von der Ideologie zur Theorie und zur Praxis. Die Wiedergewinnung der von der Ideologie befreiten Konkretion geschieht in Bahros Analyse der Klassenverhältnisse in der DDR. Die Abwesenheit jedes Jargons, jedes bloßen Wiederkäuens marxistischer Begriffe (besser: Worte) bezeugt die Gründung der Analyse in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Statt des sturen Festhaltens an geschichtlich längst überholten Thesen entwickelt Bahros Analyse die Marxschen Begriffe in Konfrontation mit der veränderten Struktur der nach kapitalistischen Gesellschaft der DDR und - des Spätkapitalismus! Eine entscheidende Konsequenz ist eine authentische Weiterentwicklung des Historischen Materialismus. Sie führt zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Basis und Überbau: Der Schwerpunkt der gesellschaftlichen Dynamik verschiebt sich von der Objektivität der politischen Ökonomie zur Subjektivität, zum Bewußtsein als potentiell materieller Kraft der radikalen Veränderung:
»Sie (die Gattung, H.M.) muß ihren Aufstieg fortsetzen als eine 'Reise nach Innen'. Der Sprung ins Reich der Freiheit ist nur denkbar auf dem Untergrund eines Gleichgewichts zwischen Menschengattung und Umwelt, dessen Dynamik sich entschieden aufs Qualitative und Subjektive verlegt.« (S. 315).
(7) Bahro sieht in dieser Wendung die "im Grunde ästhetische, aufs Ganze und auf die Rückkehr der Aktivitäten zum Ich gerichtete Motivation des Sozialismus". (S. 341)
Das ist die Wiedergewinnung des ursprünglichen idealistischen Elements im Historischen Materialismus: Die Befreiung von der Ökonomie, die im Historischen Materialismus visiert ist. Dieser bleibt intakt: Es ist die Dynamik der Basis selbst, die Organisation der immer wachsenden Produktivität der Arbeit, welche die Tätigkeit der sich emanzipierenden Subjektivität zum Schwerpunkt der Veränderung macht.
(8) Im Fortgang von Bahros Analyse wird deutlich, bis zu welchem Grade die Wendung zur Subjektivität auch auf den Spätkapitalismus zutrifft. Mehr noch als im realexistierenden Sozialismus wird in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern die Befreiung von der Ausbreitung eines im materiellen. Produktionsprozeß selbst verwurzelten, aber diesen transzendierenden Bewußtseins abhängig. Bahro nennt es "überschüssiges Bewußtsein". Es ist "die freie, nicht mehr vom Kampf um die Existenzmittel absorbierte psychische Kapazität" (S. 321), die in Praxis umzusetzen ist. Die industrielle, technisch-wissenschaftliche Produktionsweise, in der die intellektuelle Arbeit zum wesentlichen Faktor wird, erzeugt in den Produzenten (dem "Gesamtarbeiter") Qualitäten, Geschicklichkeiten, Imaginationen, Tätigkeits- und Genußmöglichkeiten, die in der kapitalistischen und in den repressiv-nichtkapitalistischen Gesellschaften erstickt oder pervertiert werden. Sie drängen über ihre unmenschliche Realisierung hinaus zur menschlichen.
(9) In der Subjektivität des überschüssigen Bewußtseins sind kompensatorische und emanzipatorische Interessen zur Einheit zusammengezwungen. Die ersteren betreffen im wesentlichen die Sphäre der materiellen Güter: vermehrter und besserer Konsum, Karriere und Konkurrenz, Profit, "Statussymbole" etc. Sie können (vorläufig noch!) im Rahmen des bestehenden Systems befriedigt werden sie kompensieren die Entmenschlichung; so widersprechen sie den emanzipatorischen Interessen. Trotzdem insistiert Bahro darauf, daß die kompensatorischen Interessen nicht einfach im Interesse der Emanzipation reduziert und umdirigiert werden können: sie sind eine tief in der Psyche verankerte Form des Glücksanspruchs und der Befriedigung. In ihr findet das Bestehende seine Legitimation. Die Revolution kann nicht auf dem Rücken des Volkes durchgesetzt werden, aber die Macht der kompensatorischen Interessen und ihrer Befriedigung unterdrückt die Realisierung der emanzipatorischen Interessen. Die Revolution setzt den Bruch mit dieser Macht voraus ein Bruch, der wiederum erst das Resultat der Revolution sein kann!
(10) Das ist der "Teufelskreis", der in Bahros Buch so oft und in verschiedenen Formulierungen vorkommt. Er ist heute das entscheidende geschichtliche Problem der Revolutionstheorie. Zwischen dem Heute und dem Morgen, zwischen der Unfreiheit und der Befreiung, liegt nicht nur die Revolution, sondern auch die Umwälzung der Bedürfnisse, der Bruch mit dem "subalternen Bewußtsein", die Katastrophe der Subjektivität. Der Widerspruch zwischen der überwältigenden Produktivität, dem gesellschaftlichen Reichtum und seiner miserablen und destruktiven Verwendung treibt nicht mit der Notwendigkeit eines Gesetzes der Geschichte zu dieser Katastrophe - auch nicht, wenn von einer marxistisch-leninistischen Strategie geleitet. Die Steigerung der Produktivität und die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln muß nicht zum Sozialismus führen - sie bricht nicht not- wendig die Kette der Herrschaft, der Unterwerfung des Menschen unter die Arbeit. Bahro deutet an, daß es bei Marx eine Tendenz gibt, die eine solche Kontinuität impliziert: die Idee einer immer größeren Produktivität, einer immer effizienteren (und egalisierten) Produktion.
(11) Auf der Höhe der industriellen Zivilisation ist die Unterwerfung unter die Arbeit von keiner anderen Vernunft erfordert, als der der herrschenden Klasse und der Erhaltung ihrer Macht. Im real existieren den Sozialismus wird die Unterwerfung mit der Rückständigkeit in der ökonomischen, technologischen und militärischen Konkurrenz mit dem Kapitalismus begründet. Aber ist einmal die neue Form der Herrschaft etabliert, wird aus der Notwendigkeit eine Tugend: Die "erste Phase" wird unabsehbar verlängert. Die qualitative Differenz der sozialistischen Gesellschaft geht verloren, umso schneller, je mehr dieser Sozialismus das Konsummodell der hochkapitalistischen Länder übernimmt. Die kompensatorischen Interessen wirken gegen die Emanzipation. Der "Teufelskreis" besteht in beiden Gesellschaften. Wie kann er gebrochen werden?
(12) Die Frage führt zu Bahros Begriff des "überschüssigen Bewußtseins" als verändernder Kraft zurück. Dieses Bewußtsein hat seine materielle Basis in der wissenschaftlichen, technologischen Produktionsweise ihrer "Intellektualisierung". Es ist auf dieser Stufe in den "intellektualisierten Schichten des Gesamtarbeiters" (S. 390) "verkörpert" (aber nicht reflektiert). Darüber hinaus gibt es überschüssiges Bewußtsein in allen Schichten der abhängigen Bevölkerung in gestauter und inaktiver Form. Man hat die Ahnung: So wie heute braucht man nicht mehr zu leben es gibt eine Alternative. Die Ahnung wird in den Katalyst-Gruppen (dieser Ausdruck stammt von mir, H.M.) der Opposition zur Gewißheit: in der Studentenbewegung, bei der Frauenemanzipation, den Bürgerinitiativen, den "concerned scientists" u.a.
(13) Wo die große Mehrheit der Arbeiterklasse in das bestehende System integriert ist, tendieren die Klassenverhältnisse zu einer elitären Struktur, in der die Intelligenz als Teil des Gesamtarbeiters eine führende Rolle spielt. Bahro vertritt die provozierende These, daß sich die intellektualisierten Schichten in der Vorbereitungs- und Übergangsperiode als "tonangebend" und leitend in der Rekonstruktion der Gesellschaft konstituieren (S. 477, S. 390).
(14) Die führende Rolle der Intelligenz ist zweifach begründet:
1. Mehr als je zuvor ist Wissen Macht. Die Information über die wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und psychologischen Mechanismen, die die entwickelte Industriegesellschaft reproduzieren, gibt den Besitzern dieser Information auch das Wissen der objektiven Möglichkeiten der Veränderung. Sicher genügt das bloße Wissen nicht, um dieses Potential zu verwirklichen. Aber die Intelligentsia wirkt nicht in Isolierung: Es ist der Produktionsprozeß selbst, der sich "intellektualisiert" und in dem die intellektualisierten Schichten eine immer größere Rolle spielen. In der DDR sind sie ein Teil des Apparats, der die Produktionsmittel kontrolliert; unter ihnen gibt es (nach Bahro) eine beträchtliche Opposition gegen die Diktatur der Politbürokratie.
(15)
2. Für die Intelligentsia ist die Realisierung ihrer kompensatorischen Interessen nicht mehr die tägliche Sorge. Sie teilt mit den Parteifunktionären hohe Privilegien in der materiellen und geistigen Kultur. In den kapitalistischen Ländern ist dies nur in einem sehr beschränkten Maßstab und nur für einen kleinen Kreis der mehr oder weniger konformistischen Intelligentsia der Fall. Die Majorität der nicht so privilegierten Schichten besitzt wenigstens das Bildungsprivileg, das einen sonst verschlossenen, das Bestehende transzendierenden Horizont von Wissen öffnen kann.
(16) Die Schaffung des Raumes und der Zeit für die Entfaltung der emanzipatorischen Interessen jenseits der heute alles bestimmenden materiellen Sphäre ist die Aufgabe sozialistischer Erziehung und Arbeitsteilung. Der Sozialismus ist schon in der Übergangsperiode wesentlich ein Problem der Ökonomie der Zeit. Die neue Verteilung und Organisation der Arbeit zielt auf eine Umkehrung des Zeitverhältnisses von notwendiger und emanzipatorischer Arbeit im Interesse des "totalen Individuums". Insofern diese Neuverteilung der Zeit im gesamtgesellschaftlichen Maßstab auch eine radikale Reorganisation der notwendigen Arbeit erfordert (Bahro gibt sehr konkrete Hinweise Für eine solche Reorganisation), wäre die neue Ökonomie der Zeit das Erscheinen des Reichs der Freiheit im Reich der Notwendigkeit, Und insofern sie in allen Schichten der Gesellschaft durchgeführt würde, würde sie die privilegierte Position der Intelligentsia durch Verallgemeinerung abbauen.
(17) Bahro verwirft jede Konzeption der Übergangsperiode, die ohne eine kommunistische Partei, Bürokratie und den Staat auskommen will, als Anarchismus und abenteuerlichen Linksradikalismus. Er spricht so gar vom Staat als "Zuchtmeister der Gesellschaft für ihre technische und soziale Modernisierung" (S. 150) - Modernisierung als Schaffung emanzipatorischer Institutionen. Dieser Staat wäre "Zuchtmeister" in der Gestalt eines wirklich allgemeinen, die materielle sowohl wie die geistige Kultur erfassenden Erziehungssystems, das die Emanzipation der Bedürfnisse von ihrer klassenbestimmten psychischen Basis zum Ziel hätte. Fehlende Masseninitiative und die Einordnung der Arbeiter klasse in das herrschende System kompensatorischer Bedürfnisse berauben die Idee des Absterbens des Staates ihres empirisch geschichtlichen Bodens. Der Sozialismus muß seinen eigenen Anti-Staat und seine eigene Verwaltung bauen. "Volk und Funktionäre - das ist die unvermeidliche Dichotomie jeder protosozialistischen Gesellschaft" (S. 285). Nur der protosozialistischen? Das wäre der Rückfall in die Zwei-Phasen-Theorie.
(18) Bahros Konzeption scheint zu implizieren, daß auch noch in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft die Allgemeinheit institutionalisiert sein wird: der Anti-Staat als Staat. Er ist Anti-Staat, insofern er die weitere Entwicklung der emanzipatorischen Bedürfnisse fördert und den Spielraum von Spontaneität und individueller Autonomie vergrößert; er ist Staat, indem er diese Entwicklung im Interesse der Gesamtgesellschaft organisiert (Setzung von Prioritäten, Verteilung der Arbeit, Erziehung etc.), und zwar mit einer vom Volk legitimierten zwingenden Autorität. Im Anti Staat wiederholt sich die Dialektik von Autonomie und Abhängigkeit der Bedürfnisse: Der sozialistische Staat registriert" die den Individuen eigenen Bedürfnisse, wie sie im vorherrschenden System der Bedürfnisse auftreten, und "hebt sie auf" in neuen emanzipatorischen Formen, die dann wieder eigene Bedürfnisse der Individuen werden.
(19) Bahro konzipiert die auch im integralen Sozialismus notwendige, rationale Hierarchie als das Gegenbild des im real existierenden Sozialismus etablierten Herrschaftsapparats. Er visiert eine demokratisch konstituierte und kontrollierte Hierarchie von der Basis bis zur Spitze. An der Spitze wird diese Hierarchie zur Doppelherrschaft: die kommunistische Partei und ein von der Partei unabhängiger "Bund der Kommunisten", rekrutiert aus der bewußtseinsmäßig fortgeschrittensten Intelligenz in allen Schichten der Gesellschaft. Dieser Bund ist das Gehirn des Ganzen: eine demokratische Elite, mit entscheidender Stimme in der Diskussion des Plans, der Erziehung, der Neuverteilung der Arbeit etc.
(20) Die Inertia und Entmachtung der Massen, ihre Abhängigkeit, die in den kapitalistischen Ländern in der Dichotomie .herrschende Klasse - Volk" und im real existierenden Sozialismus in der Dichotomie "Funktionäre - Volk" zum Ausdruck kommt, tendiert fast zwangsmäßig zur Verselbständigung der "Spitze". Bahro untersucht diese Tendenz, wo sie bereits voll entwickelte Herrschaft geworden ist: in der protosozialistischen Gesellschaft. Er glaubt, daß dieser Entwicklung durch den allmählichen Aufbau einer Art Räteorganisation (Selbstverwaltungen, Kooperativen) entgegengewirkt werden kann. Deren Vorformen erscheinen schon innerhalb der bestehenden Systeme. Er weist überzeugend darauf hin, daß der traditionelle Begriff der Rätedemokratie zu ausschließlich an der materiellen Produktionssphäre orientiert ist und deshalb Vertreter partikulärer Interessen bleibt. Die Situation im Protosozialismus (und im Spätkapitalismus; H.M.) mit seiner erweiterten Arbeiterklasse, in der die Intelligentsia ein entscheidender Faktor im Produktionsprozeß ist, erlaube die Erweiterung der Rätedemokratie. Eine relativ kleine Zahl von Wissenschaftlern, Technikern, Ingenieuren, ja sogar Media-Agenten könnten, wenn organisiert, die Reproduktion des Systems erschüttern und vielleicht zum Stillstand bringen. Aber "die Verhältnisse sind nicht so". Gerade ihre Einordnung in den Produktionsprozeß wirkt gegen die Radikalisierung, von dem privilegierten Einkommen ganz zu schweigen. Trotzdem schreibt die gesellschaftliche Situation diesen Schichten eine führende Rolle in der Umwälzung zu.
(21) Die Revolution erfordert in der Vorbereitungs- und Übergangsperiode eine Führung, die auch den kompensatorischen Interessen der Massen entgegenstehen kann. Auch sie steht vor der Notwendigkeit der Repression, der Repression des "subalternen Bewußtseins", der unreflektierten Spontaneität, des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Egoismus.
(22) Offenbar fällt hier, an einem zentralen Punkt, Bahros Analyse auf die vom Marxismus wie vom Liberalismus tabuierte Position Platos (eine Erziehungsdiktatur der höchsten Intelligenz) und Rousseaus (die Menschen müssen gezwungen werden, frei zu sein) zurück. In der Tat ist die Erziehungsfunktion des sozialistischen Staates ohne anerkannte Autorität nicht verstellbar; sie ist bei Bahro in einer Elite der Intelligenz gegründet. Bahro mag konsequent darauf insistieren, daß der Bund so wohl wie die Parteiführung aus allen Schichten kommen und auf allen ihren Ebenen dem Volk verantwortlich bleiben das Ärgernis besteht und muß ausgehalten werden.
(23) Genau hier, wo Bahros Konstruktion des Sozialismus ach so leicht der Diffamierung und Lächerlichkeit ausgesetzt ist, zeigt sich die ganze Radikalität seines Ansatzes und seine Treue zur Marxschen Theorie. Die Frage nach dem Subjekt der Revolution, die durch die Integrierung der Arbeiterklasse auf die Tagesordnung gesetzt wurde, findet hier eine Antwort auf dem Niveau der wirklichen geschichtlichen Entwicklung. Der Fetischismus von der Arbeiterklasse als der von der eisernen Logik der ökonomisch politischen Entwicklung durch ihre "ontologische" Position zum Subjekt der Revolution prädestinierten Klasse - diese stipulierte Einheit des Logischen und Historischen (nach der "sich historisch alsbald vollenden muß, was logisch vollendet erscheint", S. 51) -, dieser Fetischismus wird aufgehoben. Nicht durch ein Diktum, sondern im Ablauf der Geschichte selbst. Es ist eine inzwischen offenbare Tatsache, daß das Proletariat nicht herrschende Klasse sein kann" (S. 231). In den kapitalistischen Ländern ist die Arbeiterklasse "eine zu schmale Basis ..., um die Gesellschaft umzugestalten (spielen die spezifischen Arbeiterinteressen nicht immer öfter sogar eine grundsätzlich konservative Rolle?)", S. 305. Die radikale Wendung zu emanzipatorischen Interessen liegt jenseits des subalternen Bewußtseins; sie geschieht in einem "inneren Befreiungsprozeß" als Bedingung des äußeren. In der gesellschaftlichen Situation der Klasse (entfremdende Arbeitszeit als "full time", Ausschluß vom Bildungsprivileg, Arbeitslosigkeit) kann dieser Bruch nur einer Minderheit gelingen.
(24) Keine partikuläre Klasse kann Subjekt der auf dieser geschichtlichen Stufe möglich gewordenen allgemeinen Emanzipation sein. Die Identität des Proletariats mit dem allgemeinen Interesse ist überholt wenn sie überhaupt jemals bestanden hat. Das Problem der allgemeinen Emanzipation liegt heute nicht mehr im Bereich der "Sicherung der materiellen Existenz", obgleich diese "unabdingbare Voraussetzung" dafür bleibt. Das Problem ist vielmehr: Welcher Existenz? Es geht um die Versöhnung von Mensch und Natur, um die nicht entfremdete Arbeit als kreativer Tätigkeit, um die Schaffung menschlicher Beziehungen, frei vom Kampf für die Existenz; es geht um die Zerreißung des Verblendungszusammenhangs von Aggression und Destruktion. Es geht um die
»Aneignung der in anderen Individuen, in Gegenständen, Verhaltensweisen, Beziehungen objektivierten menschlichen Wesenskräfte«, um »ihre Verwandlung in Subjektivität, in einen Besitz ... der geistigen und sittlichen Individualität, der seinerseits nach produktiver Umsetzung drängt« (S. 322).
(25) Das ist orthodoxer Marxismus: das "allgemeine Individuum" als Ziel des Sozialismus. Bahros umwälzende Methode verlegt das Endziel an den Anfang. Indem er die Revolution konsequent als "Kulturrevolution" begreift, gibt er ihr von Anfang an eine von dem maoistischen Begriff sehr verschiedene Bedeutung in Bezug auf die Subjektivität und ihre Glücksansprüche und Glücksmöglichkeiten. Schon die ersten Maß nahmen sozialistischer Konstruktion sollen die Menschen von der "extensiven Wirtschaftsdynamik" befreien. Die grundlegenden Maßnahmen in dieser Richtung sind: allgemeine Beteiligung an einfacher Arbeit, Verkürzung der psychologisch unproduktiven Arbeitszeit innerhalb der notwendigen Arbeitszeit, Bedarfsbestimmung nur noch nach Alter, Geschlecht und Begabung differenziert (S. 495, S. 509). Wieder kommt der libertäre Idealismus, der das Telos des Historischen Materialismus anzeigt, zum Ausdruck:
»Es kommt darauf an, die 'Überproduktion' von Bewußtsein zu forcieren, um das ganze historische Geschehen 'auf den Kopf zu stellen', die Idee zur entscheidenden materiellen Gewalt zu machen. Die Dinge steuern auf einen Umbruch hin, der noch tiefer geht als der gewöhnliche Übergang von einer Formation zur ändern innerhalb ein und derselben Zivilisation. Was jetzt bevorsteht und eigentlich bereits begonnen hat, ist eine Kulturrevolution im wahrsten Sinne: eine Umwälzung der ganzen subjektiven Lebensformen der Massen« (S. 304; Bahros Unterstreichungen).
(26) Bahro verwirft eindeutig das so simple Argument, daß ein Land, das der mehr oder weniger feindlichen Konkurrenz mit den wirtschaftlich und militärisch stärkeren kapitalistischen Ländern ausgesetzt ist, sich den Aufbau des integralen Sozialismus noch nicht leisten kann. Das sei heute die Situation des real existierenden Sozialismus gegenüber dem westlichen Kapitalismus. Bahro antwortet mit einer allgemein verdrängten und doch so einleuchtenden Hypothese: Es könnte umgekehrt sein, nämlich, der Aufbau einer freien sozialistischen Gesellschaft könnte einen "Transformationsdruck" auf die westlichen Länder ausüben (S. 514 f.).
(27) Bahros Analyse impliziert die provozierende These, daß die sozialistische Strategie vor und nach der Revolution im wesentlichen dieselbe ist. Die Kulturrevolution ist totale Umwälzung, aber ihr kollektives Subjekt ist in seinem Bewußtsein und seinem Verhalten schon vor der Revolution auf das Endziel gerichtet. In mehr oder weniger von der Gesamtgesellschaft isolierten und daher prekären und oft unauthentischen Formen geschieht dies in der Praxis der Katalyst-Gruppen in allen Schichten der Bevölkerung. Ihre Arbeit ist wesentlich entmystifizierende Aufklärung - in Theorie und Praxis. Auch hier fällt das Schwergewicht der Umwälzung auf die Subjektivität. Das Ziel, "Priorität der allseitigen Entwicklung der Menschen" und "Vermehrung ihrer positiven Glücksmöglichkeiten" (S. 484), bestimmt schon die elementaren Stufen der subjektiven Emanzipation. Die "Reise nach Innen" dient dann nicht der Ausflucht, der Privatisierung des Politischen, der Ich-Bastelei und Hätschelei, sondern der Politisierung des überschüssigen Bewußtseins und der Imagination:
»Denn so sehr die 'Reise nach Innen', die Verinnerlichung der individuellen Existenz eine Komponente der emotionalen Abstraktion von allem Objekt ein schließt, ist und bleibt natürlich ihr fundamentaler Gehalt eben jene Aufhebung der Entäußerung, jene Anverwandlung der von der Gattung geschaffenen Kultur, die Hegel als die große Arbeit des subjektiven Geistes begriffen hatte.« (S. 316/317).
(28) Politische Erziehung verlangt einen radikalen "psychischen Aufschwung", eine "emotionale Erhebung", die "insbesondere die Mehrheit der Jugend unmittelbar auf die Ebene des politisch-philosophischen Ideals emporreißt" (S. 447).
(29) Die Revolution der Subjektivität ist jene Revolution der Bedürfnisse, die Bahro als die Voraussetzung der allgemeinen Emanzipation konzipiert. Die Haupttendenz einer solchen Revolution der Bedürfnisse ist klarangezeigt: "von der vornehmlich durch Verzehr charakterisierten Aneignung materieller Subsistenz und Genußmittel" zur "Aneignung der Kultur", d.h. "weitgehende Ausschaltung des materiellen Anreizes" (S. 480 f.). Die Herrschaft kompensatorischer Interessen, die den materiellen Anreiz immer wieder reproduzieren, soll gebrochen werden: nicht durch eine Politik der Konsumreduktion, sondern durch eine "wirkliche Egalisierung in der Verteilung der standardbestimmenden Konsumgüter", Bahro) sieht in dem Gerede von der Unersättlichkeit menschlicher Bedürfnisse nur einen "Reflex auf jetzt bestehende Verhältnisse".
(30) Die Versöhnung der materiellen und geistigen Kultur in der materiellen Kultur erfordert die Abschaffung des Leistungsprinzips hinsichtlich der Einkommensverteilung und seine Verwirklichung hinsichtlich der Entfaltung nicht entfremdeter schöpferischer Arbeit und nicht entfremdeten Genusses. Die Reduktion der notwendigen Arbeitszeit und der Last der entfremdenden Arbeit ermöglicht diese Umkehrung; sie heilt auch den Riß zwischen Subjektivität und Objektivität durch die "Eröffnung eines allgemeinen Freiheitsspielraums für Selbstverwirklichung und Wachstum der Persönlichkeit auch im Reich der Notwendigkeit" und durch die Eingliederung der Natur in diesen Spielraum (S. 485).
(31) Bahro spottet über die Angst in der Neuen (und Alten) Linken, bürgerliche oder gar kleinbürgerliche Begriffe wie Persönlichkeit, Geist, Innerlichkeit wieder in den Marxismus einzubauen, wo sie doch ihre authentische Aufhebung finden. Er verliert kein Wort über den Vorwurf idealistischer Abweichungen, etc. Er verwendet diese Begriffe nicht, um wieder einmal den humanistischen jungen Marx zu retten, sondern, um den transzendierenden Inhalt der Kategorien der politischen Ökonomie zu entwickeln. Ausbeutung, Mehrwert, Profit, abstrakte Arbeit sind nicht nur die im Kapitalismus objektiv gewordenen Kategorien der Unmenschlichkeit, sondern auch deren Negation durch den objektiv möglich gewordenen Sozialismus. Dessen Verwirklichung, die im Kapitalismus blockiert ist, ist Sache der Kulturrevolution.
(32) Die Kulturrevolution umfaßt auch die ethische und ästhetische Dimension. Bahro gibt nur einen stichwortartigen Hinweis auf die Ethik der persönlichen Beziehungen: "Eros, Erziehung und Ehe (sind, H.M.) so weit wie möglich in Einklang miteinander zu bringen" (S. 346). Die ästhetische Motivation wird wirksam in der
»Verlagerung der Prioritäten von der Ausbeutung der Natur durch die Produktion zu deren Einordnung in den natürlichen Zyklus, von der erweiterten auf die einfache Reproduktion, von der Steigerung der Arbeitsproduktivität auf die Pflege der Arbeitsbedingungen und der Arbeitskultur ...« (S. 485).
Produktion auch "nach den Gesetzen der Schönheit" (Marx). Voraussetzung dafür ist eine natur- und menschengemäße Wissenschaft und Technik.
(33) Es ist Zeit, die "Gretchenfrage" zu stellen. Gesetzt, Bahros Theorie der Grundlegung des Sozialismus ist begrifflich und empirisch demonstriert, wie kann der Übergang aus dem Bestehenden vorgestellt werden? Die Revolution bleibt Vorbedingung: Mehr als zuvor gilt es heute, daß eine Revolution nötig ist, um Reformen zu bekommen. Für die Länder des real existierenden Sozialismus, wo das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft ist, wäre der Sturz der Diktatur der Politbürokratie schon die erste Revolution. Bahro glaubt, daß die Opposition innerhalb der Bürokratie genügend breit ist, um einen solchen Umsturz als reale Möglichkeit erscheinen zu lassen. Aber wie steht es in den kapitalistischen Ländern, deren objektive "Reife" zur Revolution längst anerkannt ist? Frage und Antwort liegen außerhalb des Rahmens der Bahroschen Analyse, aber sie erlaubt einige wichtige Hinweise.
(34) Heute ist evident geworden, zu welchem Grade das marxistisch-leninistische Revolutionsmodell geschichtlich überholt ist. Zwei Hauptgründe:
1. In Ländern, wo die herrschende Klasse über starke, mit den modernsten Waffen ausgerüstete militärische und semi-militärische Organisationen verfügt, auf deren Loyalität sie sich verlassen kann, sind bewaffneter Aufstand und Machtergreifung durch revolutionäre Massen außerhalb des Bereichs realer Möglichkeiten. Das ist der Fall in den höchstentwickelten Ländern.
(35)
2. Der Spätkapitalismus hat mit seiner überwältigenden Produktivität eine breite materielle Basis für die Integrierung der diversen Interessen innerhalb der abhängigen Bevölkerung geschaffen. Der Begriff der revolutionären Massen ist für diese Länder fragwürdig geworden. Das heißt nicht, daß die (erweiterte) Arbeiterklasse mit dem System "versöhnt" ist. Die Politik der ökonomischen Kooperation und Konfrontation kann sehr wohl in eine politische umschlagen, ohne das System selbst in Richtung Sozialismus zu transzendieren. Vielmehr ist die Tendenz die zu einem neuen Populismus: eine eher volks- als klassenbestimmte Opposition, Für die der bewaffnete Aufstand nicht am Horizont steht - noch weniger die Machtergreifung.
(37) Gibt es ein anderes Revolutionsmodell, das aus den gegebenen Tendenzen der Klassenverhältnisse entwickelt werden kann?
Die Konstruktion eines solchen Modells verlangt, daß wir den traditionellen Marxschen Klassenbegriff revidieren und, von ihm ausgehend, einen dem Spätkapitalismus angemessenen Begriff erarbeiten. Das gilt besonders für den Begriff der Arbeiterklasse. Es genügt, die wohlbekannten Tatsachen kurz anzuführen:
1. Nicht-Identität von Arbeiterklasse und Proletariat. Bis ins 20. Jahrhundert bleibt "Proletariat" die orthodoxe und offizielle marxistische Bezeichnung für die Arbeiterklasse. Aber von dem Marxschen Begriff nicht wegzudenken ist das Elend und die Entrechtung, die Negation der bürgerlichen Gesellschaft, wonach das Proletariat keine Klasse dieser Gesellschaft ist. Das trifft auf die moderne Arbeiterklasse nicht mehr zu.
(38)
2. Nach Marx konstituiert das Proletariat im entwickelten Kapitalismus die Mehrheit der Bevölkerung. Die Kategorie von Arbeitern, die heute dem Proletariat am nächsten kommt, nämlich die unmittelbar im materiellen Produktionsprozeß Beschäftigten, umfaßt nicht mehr die Mehrheit. (1)
(39)
3. Die Einschränkung des Begriffs der Arbeiterklasse auf die "produktiven", d.h. Mehrwert schaffenden Arbeiter ist unhaltbar. Schaffung und Realisierung des Mehrwerts sind keine verschiedenen Prozesse, sondern zwei Phasen und Stufen desselben Gesamtprozesses: der Akkumulation des Kapitals.
(40)
4. Die Trennung von manueller und intellektueller Arbeit ist im Spätkapitalismus durch die "Intellektualisierung" des Arbeitsprozesses selbst und durch die wachsende Zahl der in ihm beschäftigten Intellektuellen reduziert. White Collar, die Angestellten, auch die "unproduktiven", deren Einkommen oft unter dem der Blue Collar liegt, gehören zur Arbeiterklasse, soweit sie nicht an der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel teilnehmen. Aber auch die höher bezahlten Angestellten im Distributions- und Verwaltungsprozeß gehören zur Arbeiterklasse: sie sind von den Produktionsmitteln getrennt und verkaufen ihre Arbeitskraft an das Kapital oder seine Institutionen. Diese erweiterte Arbeiterklasse umfaßt die große Mehrheit der Bevölkerung.
(41)
5. Klassenbewußtsein? Die (erweiterte) Arbeiterklasse ist in sich selbst in eine Vielheit von Schichten gespalten, mit sehr verschiedenen und zum Teil entgegengesetzten Interessen. Die Tendenz ist die zur Herrschaft der kompensatorischen Interessen, die in aktiver oder passiver Teilnahme am System Befriedigung suchen. Vorherrschend ist eher kleinbürgerliches als radikales Bewußtsein.
(42) Der Spätkapitalismus hat in der Tat die zu seiner Reproduktion notwendige Arbeit durch das Wachstum des Sektors der Mittelschichten zwischen der kleinen, wirklich herrschenden Klasse und den Industriearbeitern erweitert. Die Gesellschaft reproduziert sich durch die Schaffung von immer mehr und neuer unproduktiver Arbeit und ihre Ausdehnung innerhalb der Bevölkerung. Der Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit bleibt in aller Schärfe bestehen, aber er totalisiert sich in dieser Periode: fast die Gesamtheit der abhängigen Bevölkerung ist "die Arbeit" im Gegensatz zum Kapital. Damit wäre auch der Marxsche Begriff der sozialistischen Revolution als einer von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Umwälzung eingelöst.
(43) Diese Dichotomie charakterisiert die spätkapitalistische Gesellschaft, die von dem "Gesamtarbeiter" reproduziert und von einer kleinen Clique kontrolliert wird. Der Gesamtarbeiter wird zum Volk, das sich aus den abhängigen Schichten der Bevölkerung konstituiert. Innerhalb dieser Einheit herrschen die Widersprüche. Es gibt kein Volksbewußtsein, das einem Klassenbewußtsein entspräche. Die verschiedenen kompensatorischen Interessen umfassen das ganze Spektrum der materiellen und intellektuellen Kultur, vom Radikalismus zum Konservatismus und Faschismus, vom Willen zur Leistung zum Wunsch nach Abschaffung der Arbeit. Die demokratische Integration erlaubt eine solche Differenzierung innerhalb der Einheit der Abhängigkeit. Kann in ihr das Interesse an der allgemeinen Emanzipation zum Durchbruch kommen?
(44) Wahrscheinlich wird die gesellschaftliche Reproduktion auf dem gewohnten Konsumniveau immer schwerer werden: der Spätkapitalismus produziert selbst die Übersättigung des Marktes und die wachsenden Schwierigkeiten der Akkumulation. Das System wird repressiver werden und den Widerspruch zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und den realen Möglichkeiten der Befreiung immer explosiver ins Bewußtsein bringen.
(45) Wessen Bewußtsein? Nicht das einer partikularen Klasse (das industrielle Proletariat im Spätkapitalismus ist eine partikulare Klasse im umfassenden Ganzen des "Volks"), sondern das Bewußtsein von Individuen aus allen Schichten. Wie die allgemeine Emanzipation ihrem Telos nach auf die solidarische Befreiung des Individuums als Individuum gerichtet ist, so ist auch ihre Vorbereitung schon in Individuen fundiert: Individuen aus allen Schichten, die sich trotz aller Differenz durch das gemeinsame Interesse als potentielle Einheit konstituieren. Sie sind das potentielle Subjekt einer oppositionellen Praxis, die jetzt noch in oft unorganisierten Gruppen und Bewegungen konzentriert und limitiert ist. In diesen Gruppen und Bewegungen existiert der "kollektive Intellektuelle".
(46) ahro definiert den kollektiven Intellektuellen primär durch das Anderssein des Bewußtseins und einer Triebstruktur, die gegen die Unterwerfung rebellieren und zur verweigernden Praxis drängen. Eine sehr nicht-akademische Definition, aber ohne den so beliebten und billigen Spott über die Schreibtisch-Sozialisten, "egg heads", etc., der schon immer dazu gedient hat, die konkrete Utopie zu diffamieren und die Idee der Revolution dem Bestehenden auszuliefern.
(47) Die diffuse und fast organisationslose Opposition des kollektiven Intellektuellen hat keine Massenbasis, und die Denunziation des Elitarismus und Voluntarismus ist nur zu leicht. Sie ist Ausdruck eines Fetischismus der Massen und steht in krassem Widerspruch zur Geschichte der revolutionären Bewegungen im Kapitalismus, die ihre Massenbasis erst im Prozeß der Revolution selbst gefunden haben. Die Basis, auf der die Initiative der Massen zur bestimmenden Kraft sozialistischer Emanzipation werden kann, entsteht in einer Politik des Anti Staates die von Anfang an die Maßnahmen durchsetzt, die der überlieferten Mentalität und deren Bestätigung den gesellschaftlichen Boden entzieht, vor allem (wie schon erwähnt) durch eine radikale Reorganisation der Arbeit (Abschaffung der hierarchischen Organisation) und durch eine neue "Ökonomie der Zeit". Das bedingt aber, wenn anders das Prinzip der Selbstbestimmung leitend bleiben soll, Abbau der Zentralisation, die doch wiederum als Institution des Plans das allgemeine Interesse vertritt und durchsetzt. Diese Zentralisation ist der Nukleus sozialistischer Diktatur, in ihr sind notwendige und überschüssige Repression zusammengezwungen.
(48) Die Intelligentsia kann ihre vorbereitende Funktion nur erfüllen, wenn sie das ihr eigene überschüssige Bewußtsein, in dem das Bestehen de konkret transzendiert wird, bewahrt. Ihr pre-revolutionäres Potential und ihr ambivalentes, oft widersprechendes Verhältnis zu den Massen ist in der Struktur der Gesellschaft begründet. Das Bildungsprivileg, Folge der Trennung der intellektuellen von der manuellen Arbeit, isoliert die Intelligentsia von den Massen. Aber es gibt ihr auch die Möglichkeit, frei zu denken, zu lernen, die Tatsachen in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu verstehen und - dieses Wissen zu vermitteln. Diese Möglichkeit muß im Kampf gegen das institutionalisierte Bildungssystem (und auf diesem Boden!) gewonnen werden. Teilnahme am Bildungsprivileg ist heute nicht nur eine Frage des Einkommens, sondern auch der Zeit, die den full time ausgebeuteten Massen nicht zur Verfügung steht. Die Demokratisierung des Bildungssystems muß daher Hand in Hand mit einer Reduzierung der Arbeitszeit gehen. Demokratisierung erfordert keine Popularisierung des Lernens und Wissens. Diese hat immer zur Einebnung der transzendenten Inhalte des Denkens, zur Erschlaffung des überschüssigen Bewußtseins und der emanzipatorischen Interessen geführt und der Reproduktion des Bestehenden gedient. Vielmehr müssen die in ihre Gesellschaft eingesperrten Menschen in die Lage gebracht werden, sich das Wissen und die Imagination unverstümmelt zueigen zu machen was wiederum schon die Revolution voraussetzt.
(49) Das Wissen und seine Kommunikation entwickelt sich unter einem Horizont gesellschaftlicher Verhältnisse, der die Richtung der Forschung mitbestimmt. Theoretische und angewandte Wissenschaft sind zwei Phasen in demselben Prozeß; die Differenz zwischen beiden reduziert sich im Spätkapitalismus durch die zunehmende Rolle der intellektuellen Arbeit im materiellen Produktionsprozeß. Entsprechend wird notwendigerweise das Bildungsprivileg durch "general education" erweitert. Aber diese Demokratisierung geht mit dem Abbau der emanzipatorischen Kraft des Wissens Hand in Hand. Ein großer Teil der technisch wissenschaftlichen Errungenschaften kommt der Aggression und Destruktion zugute, oder dient als "gadgets", als Spielzeug wie Sport den kompensatorischen Interessen der abhängigen Bevölkerung, ihrer Befriedigung und der Stärkung des "subalternen Bewußtseins".
(50) Diese Einheit von Fortschritt und Unterdrückung erleichtert das Management der politisch ökonomischen Gegensätze in der globalen Struktur des Spätkapitalismus. Die Frage "wie lange noch?" läßt sich nicht rational beantworten: Die Theorie ist keine Prophetie. Aber es bleibt wahr (und die Tatsachen zeigen die Tendenzen), daß der Kapitalismus seine eigenen Totengräber produziert. Nur sind sie nicht das Proletariat, sondern der Gesamtarbeiter und das in ihm gestaute Bewußtsein, die rebellierende Subjektivität. Wie der kapitalistische Fortschritt selbst die objektiven Bedingungen seiner Aufhebung schafft (strukturelle Arbeitslosigkeit, Saturierung des Marktes, Inflation, innerkapitalistische Konflikte, Konkurrenz mit dem Kommunismus...), so auch die subjektiven. Das überschüssige Bewußtsein ist nur ein Teil der Subjektivität: sein emanzipatorisches Interesse reicht bis zum Wissen dessen, was geschieht und zu geschehen hat, aber die Herrschaft kompensatorischer Interessen verhindert die Umsetzung des Bewußtseins in die Praxis. Die subjektive Seite der Revolution ist nicht nur Sache des Bewußtseins und des vom Wissen geleiteten Handelns, sondern auch der Emotionen, der Triebstruktur. Und dies auf jeder der zwei Ebenen der Veränderung:
a) radikale Kritik des Bestehenden, und
b) positiv-konkrete Antizipation der Freiheit, d.h. Gegenwart des Ziels im Hier und Jetzt des Lebens.
(51) Zur geschichtlich-gesellschaftlichen "Reife" der subjektiven Bedingungen gehört nicht nur das politische Bewußtsein, sondern auch das vitale, existentielle Bedürfnis nach einer Revolution, die in der Triebstruktur der Individuen verankert ist - gehört (mindestens im 20. Jahrhundert) nicht nur der Wille zum Überleben und zum Vorwärtskommen, sondern auch die Einstellung des Existenzkampfes, der versklavenden Produktion, der endlosen Tauschprozesse, kurz: der Wille zur glücklichen Freiheit, zur Selbstbestimmung.
(52) In der Triebstruktur verankert, bedeutet (den Wahrheitsgehalt der Freudschen Theorie vorausgesetzt): In der Klassengesellschaft ist die Revolution als der Drang des Eros nach Befreiung von sozial bedingter Surplusrepression, nach Befriedigung und Intensivierung der Lebenstriebe "angelegt". (Die primäre zivilisatorische Repression, z.B. das Inzesttabu, teilet training, bestimmte gesellschaftliche Verkehrsformen sind heute kein Hindernis der Befreiung mehr.) Die wesentlichen Forderungen der Revolution: Abschaffung der entfremdeten Arbeit, Gleichheit in den Möglichkeiten der Selbstbestimmung, Befriedigung der Natur, Solidarität, haben so in der Subjektivität eine erotische Grundlage (wie der Faschismus die seine im destruktiven Charakter hat). Die Gesellschaft und die Befreiung als gesellschaftlich geschichtlicher Prozeß ist im Eros selbst wirksam - sehr zum Unterschied von der Sexualität und der sexuellen Befreiung, die sich auch innerhalb der Klassengesellschaft abspielen kann. Die Entfaltung der Lebenstriebe, das Eros, bedarf der gesellschaftlichen Veränderung, der Revolution; die Revolution bedarf der triebhaften Grundlage.
(53) Die gesellschaftliche Veränderung ist nicht nur eine der menschlichen Natur, sondern auch eine der äußeren Natur. Die zum Kapitalismus gehörige Natur mag sich sehr wohl als eine unüberschreitbare Grenze des Systems erweisen. Sicher ist sie sehr effizient den Interessen des Kapitals unterworfen, aber es bleibt ein unbewältigter Rest, der für die Entwicklung entscheidend werden kann.
(54) Die naturhafte Grenze des Kapitalismus wird in den Protestbewegungen sichtbar, in denen die Natur zu einer potentiellen Kraft in der Veränderung der Gesellschaft wird. Sie wird dies als das konkrete Gegenbild zu ihrer Eingliederung in den kapitalistischen Produktionsprozeß. Nicht nur in dem Sinne, daß ihre organisierte Verteidigung den Profit der großen Industrie und die Interessen des Militärs bedroht. In der Rebellion gegen die Kernenergie und die allgemeine Vergiftung der Lebenswelt ist der Kampf für die Natur zugleich Kampf gegen die bestehende Gesellschaft und der Schutz der Natur zugleich Herausforderung an das Kapital.
(55) Aber darüber hinaus hat die ökologische Bewegung auch psychologische Wurzeln. Die als Spielraum des Glücks, der Erfüllung und Befriedigung erlebte Natur ist Umwelt des Eros - Antithese zu dem auf die Natur angewandten Leistungsprinzip. Diese Antithese ist (weitgehend unartikuliert und sogar verdrängt) auch in der Frauenbewegung lebendig. Das Leistungsprinzip ist die geschichtlich entwickelte Form patriarchalischer Herrschaft. Freilich, auch die sozialistische Gesellschaft wird ihr Leistungsprinzip haben das Negativ des bestehenden. Es würde gerade die Dimension des gesellschaftlichen Lebens bestimmen, die im Kapitalismus entwertet oder gesperrt ist, nämlich, Konkurrenz in der Entfaltung und im Genuß der individuellen schöpferischen Fähigkeiten und Schaffung der Vorbedingungen für die Anwendung der technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften des Kapitalismus im Interesse der Allgemeinheit, statt im partikulären Interesse des Kapitals. Die Aufhebung des Leistungsprinzips erscheint im Kapitalismus nur in falscher Form, verkörpert in den zur "Natur der Frau" stilisierten Kontrast- und Wunschbildern (Rezeptivität, Sensibilität, emotionale Kapazität, Naturnähe etc.). Sie zeigen die bio-psychologische Dimension der Frauenbewegung an. Im Kampf der Frauen für die wirkliche Gleichheit und Gleichberechtigung, für die allgemeine Emanzipation in allen Kulturbereichen steckt die Rebellion der zum Objekt gemachten Natur.
(56) Die anti-autoritäre, die ökologische und die Frauenbewegung sind so innerlich verbunden: sie sind die (noch sehr unorganisierte und diffuse) Manifestation einer die Herrschaft des Leistungsprinzips und der entfremdeten Produktivität erschütternden Triebstruktur als Grund eines verwandelten Bewußtseins. (2) So mobilisiert diese Opposition Kräfte der Umwälzung in einer (nicht nur) vom Marxismus vernachlässigten Dimension, die im Spätstadium des kapitalistischen Fortschritts diesem Einhalt gebieten kann: die rebellierende menschliche und äußere Natur.
(57) Der Rückgriff dieser Bewegungen auf die Natur als Faktor politischer Praxis unterscheidet sie wesentlich von den Fluchtbewegungen in der Neuen Linken, in denen Natur, verabsolutiert, zum Kriterium der nicht entfremdeten, authentischen Existenz wird. Diese beschwören die Natur (innere und äußere) gegen den Intellekt, die Unmittelbarkeit gegen die Reflexion. Sie pflegen gerade die Dichotomie, die im Prozeß der Befreiung aufgehoben werden soll. Der Kult der Unmittelbarkeit ist reaktionär: er ist der Rückschritt von der Natur als Kraft in der gesellschaftlichen Dynamik (als Subjekt Objekt) zur Natur als reiner Subjektivität, die schon als solche das Wahre und Gute gegenüber dem Falschen und Schlechten der Gesellschaft repräsentiert. Aber in der nackten Unmittelbarkeit ist das Falsche und Schlechte nicht überwunden, es ist nur verdrängt oder auf die anderen übertragen.
(58) Die "Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung" kritisieren die diese Bewegung durchherrschende Ambivalenz:
»Kriterium politischen Handelns ist schon lange nicht mehr die treffende theoretische, zumal die Ökonomie kritische Analyse, vielmehr die subjektive Erfahrung des jeweiligen Individuums. Wofür man also aktiv werden soll, das will man gefälligst am eigenen Leib spüren. Was jedoch in einer bestimmten Phase ein durchaus wichtiges Politisierungs- oder Kritikmoment an Orthodoxie und Dogmatismus darstellte, ist jetzt vielerorts in einen problematischen Kult der Bedürfnisse umgekippt. Erfahrung, die keiner theoretischen Analyse mehr zugänglich ist und jedes irritierende Reflexionsmoment abwehrt, hat sich auf das durchschnittliche Quantum von Gefühlserregungen reduziert. Damit hat sie ihre Widerspenstigkeit verloren und ist weitgehend integrabel geworden. Erfahrung, derart verabsolutiert, hat sich von einem Medium der Autonomie in ein Medium von Integration und Anpassung verwandelt.« (Wolfgang Kraushaar, in Autonomie oder Getto?, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1978, S. 45 f.)
(59) Die These, daß die kapitalistische Beherrschung und Ausbeutung der Natur eo ipso auch Beherrschung und Ausbeutung der Menschen ist, kann jetzt konkreter formuliert werden. Kapitalistischer Fortschritt ist Veränderung der Natur unter dem Prinzip gesteigerter Produktivität und Profitabilität. Die Natur wird zur bloßen Objektivität: ein Universum von Dingen und Beziehungen zwischen Dingen, deren "Telos" Dienst im Produktions- und Reproduktionsprozeß (Natur als organisierte Erholung) ist. Das erfordert die Unterdrückung der Natur als des Widerstands gegen das Leistungsprinzip. Da innere und äußere Natur eine (geschichtliche) Totalität sind, wirkt das Leistungsprinzip gegen das Streben des Eros nach Entfaltung in der Lebenswelt, gegen die Befreiung von der Allmacht der entfremdeten Arbeit. Daher die immer mehr verinnerlichte Repression, die die Gesellschaft den Menschen auflegt. Die Natur muß zerstört, muß der destruktiven Gesellschaft angeglichen werden. Die noch unzerstörte (obwohl der ihr eigenen Destruktion ausgesetzte) Natur darf nicht zur gegenkulturellen Lebenswelt werden, in der das Glück der Individuen im Widerspruch zur gesellschaftlich angebotenen Glücklichkeit Erfüllung findet. Aber je evidenter die vom Kapitalismus geschaffenen Möglichkeiten der Befreiung vom Leistungsprinzip werden und je mehr die erweiterte Reproduktion des Kapitalismus die Zerstörung der Natur antreibt, desto dringender die Überaktivierung destruktiver Energie. Die Mischung" der beiden primären Triebe wird dichter: Eros selbst scheint mit Aggressivität geladen, die sich oft gegen den eigenen Körper wendet (Rock- und Punk-Musik, Brutalität im Sport, Drogen...).
(60) Die Verankerung der Opposition in einer emanzipatorischen Triebstruktur soll die qualitative Veränderung, die Totalität der Revolution ermöglichen. Aber die Entwicklung einer emanzipatorischen Triebstruktur ist nur als gesellschaftlicher Prozeß vorstellbar, und eben dieser produziert und reproduziert die repressive Triebstruktur, die den Kapitalismus verinnerlicht. Wieder der "Teufelskreis"! Wie kann eine emanzipatorische Triebstruktur in einer repressiven Gesellschaft und gegen eine solche aufkommen, deren Herren (anders als die Opposition!) längst gelernt haben, die Psyche zu mobilisieren?
(61) Nur die individuelle Erfahrung, das individuelle Erlebnis, das das "subalterne" Bewußtsein durchstößt, führt oder zwingt den einzelnen dazu, die Dinge und Menschen anders zu sehen und zu fühlen, anders zu denken.
(62) »Alles Ungewöhnliche hindert die Leute, so zu leben, wie sie wollen. Sie sehnen sich - falls sie dies tun - Überhaupt nicht nach einer grundlegenden Änderung ihrer sozialen Gewohnheiten, sondern nur nach einer Ausdehnung derselben. Der Grundton alles Stöhnens und Jammerns der Mehrheit ist: "Hindert uns nicht, so zu leben, wie wir es gewohnt sind!' Wladimir lljitsch Lenin war ein Mensch, der wie kein anderer vor ihm verstand, die Leute zu hindern, ihr gewohntes Leben zu fuhren« (Gorki, zitiert nach Bahro, S. 118).
(63) Die Entwicklung der Triebstruktur ist durchaus mit der des Bewußtseins verbunden: erotische und destruktive Energie realisieren sich in vorgegebenen gesellschaftlichen Rahmen. Die Triebstruktur wird emanzipatorisch nur im Verein mit einem emanzipatorischen Bewußtsein, das die Möglichkeiten und Grenzen der Realisierung entwirft und das nur Triebhafte in sich selbst aufhebt.
(64) Der gesellschaftliche Prozeß der Revolution beginnt in den Individuen, in denen die Emanzipation vitales Bedürfnis geworden ist. Aber eben diese Individuen sind über das Ich hinausgekommen. Die emanzipatorische Triebstruktur konstituiert Solidarität als Kraft der Lebenstriebe. Schon die primären Triebe, obwohl sie "wertfrei" sind, implizieren den anderen, im Eros sowohl wie in der Destruktion. Sie enthalten das Allgemeine: Sie sind Triebe des Individuums - aber des Individuums als "Gattungswesen".
(65) Die fundierende Erfahrung, die die Notwendigkeit der Weigerung in der Psyche der Individuen verwurzelt, bleibt also niemals bei dem persönlichen Erlebnis, bei der Unmittelbarkeit der Beziehung zum Ich. Die "Reise nach Innen" trifft im Ich die anderen und das andere (die Gesellschaft und die Natur) nicht als bloße Grenze des Ich, sondern als das Ich konstituierende Mächte. Die fundierende, unmittelbare Erfahrung, in der die Relevanz für das konkrete Individuum zur Verifizierung dienen könnte, ist solche immer nur als vermittelte Unmittelbarkeit und das diese Erfahrung motivierende Handeln immer das einer über das Ich hinausgehenden; als umfassende Subjektivität. "Politik in der ersten Person" ist eine contradictio in adjecto. Die Reise nach Innen ist notwendig, weil die Dynamik von Ich und Es durch effiziente gesellschaftliche Kontrolle verdeckt ist und weil im Spätkapitalismus Individualität selbst zur Ware wird. (Autonomie oder Getto, S. 37 f.). Aber wenn die Reise dann bei einem unmittelbaren Ich stehen bleibt und dessen Manifestationen als authentisch proklamiert, verfällt sie dem Fetischismus der Warenwelt, und die auf dieser Basis geschaffene Gegenkultur wird Teil und Ergänzung der etablierten Kultur.
(66) Ich habe abschließend die Ambivalenz in der Wendung zur Subjektivität betont. Auch hier besteht die Gefahr, aus der Not eine Tugend zu machen. Die Not liegt in der Isolierung der radikalen Emanzipationsbewegungen (besonders der sozialistischen) von den Massen und in der strukturellen Schwäche dieser Bewegungen gegenüber der materiellen und ideologischen Macht des etablierten Herrschaftsapparats. Im Hinblick auf diese Konstellation erscheinen Protest und Rebellion jenseits (oder diesseits) des politisch ökonomischen Klassenkampfes als Rückzug. Das trifft selbst auf die militante Opposition in der industriellen Arbeiterklasse zu (örtliche Selbstverwaltung, Fabrikbesetzung, nichtautorisierte Streiks). Verglichen mit den großen Massenaktionen in der Geschichte der Arbeiterbewegung erscheinen sie als schwache Ausläufer einer revolutionären Tradition.
(67) Aber die Erscheinung ist nicht das Ganze. Bewegungen wie die Arbeiteropposition, die Bürgerinitiativen, die Communen, die Studentenproteste sind die von der gesellschaftlichen Situation determinierten, authentischen Formen der Rebellion als Gegenschlag gegen die Zentralisation und Totalisierung des Herrschaftsapparats. Nicht stark genug, diesem Apparat eine kampffähige oppositionelle Zentralisation entgegenzustellen, konzentriert sich die Rebellion auf örtliche und regionale Basen, wo noch relative Bewegungsfreiheit und Spielraum gegeben sind. Und gerade diese Rückbewegung antizipiert die objektiven Desintegrationstendenzen der bestehenden Gesellschaft, nämlich, das Zerbröckeln des Systems durch die Entstehung von ökonomischen und sozialen Einheiten der Selbstverwaltung. Eine solche Entwicklung würde in der Tat den Begriff der "Massen" aufgehoben und damit einen Aspekt der Befreiung realisiert haben: das Leben solidarisch fühlender und handelnder Individuen.
(68) Bahros Analyse durchbricht den Fetischismus der marxistischen Schein-Orthodoxie und der Gegenkultur der Unmittelbarkeit. Seine dialektische Analyse führt zu einer authentischen, an der begriffenen Empirie orientierten internen" Weiterentwicklung der Marxschen Theorie. Sie erweist die Radikalität ihrer Erkenntnisse hauptsächlich an den folgenden Knotenpunkten" der Theorie und Praxis:
(1) Ablehnung des in der entfalteten Industriegesellschaft längst überholten marxistisch-leninistischen Modells der proletarischen Revolution (Machtergreifung durch revolutionäre Massen, Diktatur des Proletariats), Erarbeitung eines den wirklichen gesellschaftlichen Tendenzen entsprechenden neuen Modells.
(2) Neubestimmung des Klassenverhältnisses (im "real existierenden" Sozialismus sowohl wie im Spätkapitalismus). Die "erweiterte" Arbeiterklasse; das Proletariat in ihr als Minderheit; Integrierung und Ausdehnung der Abhängigkeit; Verwandlung der Arbeiterklasse in "Volk"; ihr Konservatismus.
(3) Die entscheidende Rolle der Intelligentsia in der Übergangsperiode entsprechend ihrer Stellung im Produktionsprozeß. Der Fetischismus der Massen.
(4) Schwerpunktverlegung der gesellschaftlichen Dynamik auf die Subjektivität: die "Reise nach Innen" und ihre Ambivalenz. Bewußtsein als umwälzende Kraft.
(5) Neustellung (und Beantwortung?) der Frage nach dem Subjekt der Revolution, als Resultat von Punkt (2).
(6) Demonstration, daß der integrale Sozialismus reale Möglichkeit ist, wenn die entscheidenden Maßnahmen (Umverteilung der Arbeit und des Einkommens, graduelle Abschaffung des Leistungsprinzips, demokratisches Bildungssystem, ein über die Fabrik erweitertes Rätesystem ...) durchgeführt werden. Die neue Ökonomie als Ökonomie der Zeit: progressive Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit.
(69)
1. In den USA waren im Jahr 1972 60% der Erwerbstätigen im Sektor Dienstleistungen beschäftigt. Das Congressional Joint Econornic Committee schätzt für das Jahr 1980 eine Zahl von 80% (zitiert nach Daniel Bell, The Comingof Post-lndustrial Society, und AI Goodman in In These Times, 18-24. Oktober 1978)
2. Siehe meinen Aufsatz "Marxismus und Feminismus", in Zeitmessungen (Frankfurt, Suhrkamp, 1975).