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Umweltschutz von unten - Kritik an Agenda 21
Maintainer: Jörg Bergstedt, Version 1, 03.09.2000
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv
(1) Zur Diskussion gestellt: Stein des Anstoßes - Agenda-Fieber statt eigener Perspektiven? (Ein Text von Olaf Nitsch, Jutta Sundermann und Jörg Bergstedt, Institut für Ökologie (1998, aktualisiert)
(2) Die Umweltbewegung hat sich gewandelt: Wo die Arbeitsschwerpunkte noch vor wenigen Jahren Verkehr, Müll, Energie oder Klima hießen, steht heute die Vor- und Nachbereitung internationaler Konferenzen auf der Tagesordnung, dreht sich alles um "Nachhaltigkeit" und "Agenda 21". Auch vor Ort geben sich Umweltgruppen nachhaltig und dialogbereit: Sie initiieren lokale Agendaprozesse (mit). Für den neuen Modetrend geben immer mehr Umweltaktive viel Zeit und Kraft. Andere Projekte und Aktionen stellen sie zurück, vor allem solche, die Konflikte bringen (könnten). Lohnt sich das? Wen und vor allem was wollen Umweltgruppen heute erreichen? Ganz normale Menschen mögen bei dem kuriosen Begriff "Agenda" erst einmal an ein neuartiges Waschmittel oder ein Medikament denken. Sie zucken aber meist mit den Schultern, verzichten darauf, nachzufragen oder sich gar für die Inhalte zu begeistern. Vielleicht tun sie gut daran, denn das Engagement der Umweltgruppen für die Agenda ist höchst fragwürdig.
(3) Umweltorganisationen wissen natürlich, daß es sich bei der Agenda 21 um das Hunderte von Seiten starke Schlußdokument des Welt-Umweltgipfels 1992 in Rio handelt. Darin beschlossen VertreterInnen von Regierungen, Nichtregierungsorganisationen (NRO, lieber aber NGO in der englischen Variante) sowie WirtschaftsvertreterInnnen ihr Verhandlungsergebnis. Erst 1994 übersetzte das deutsche Umweltministerium das Papier vollständig und brachte den Wälzer in Umlauf. Zu verschiedenen Umweltthemen sind Entwicklungsperspektiven aufgeführt. Nur das kürzeste Kapitel der Agenda 21, das 28. von insgesamt 40, widmet sich der Umsetzung vor Ort und wurde zur Aktionsgrundlage für immer mehr Umweltgruppen überall im Land. Doch als "Lokale Agenda" agieren sie zwangsweise ohne konkrete Ziele, weil alles, was uns die Agenda 21 sagen will, nicht etwa kurz und deutlich ausgedrückt ist. Ihre VerfasserInnen haben das meiste von vorne bis hinten übelst verklausuliert und garantieren auch so (neben dem Umfang des Werkes und dem Namen), daß kaum ein normaler Mensch sich diese Wortverknotereien zu Gemüte führen wird. Ein Beispiel gefällig?: "(...) Die Staaten sollen, gegebenenfalles in Zusammenarbeit mit den einschlägigen internationalen Organisationen, a) ... b) im Rahmen des Londoner Dumping- Übereinkommen (...) darauf hinwirken, daß die Bemühungen um die Beendigung der Untersuchungen über einen Ersatz des freiwilligen Moratoriums über die Einbringung schwachradioaktiver Abfälle ins Meer durch ein Verbot unter Berücksichtigung des Vorsorgegrundsatzes beschleunigt werden, damit eine gut informierte und baldige Entscheidung in dieser Frage getroffen werden kann. (...)"
(4) Fast scheint es, als ob die Umweltbewegten, die in Sachen Agenda 21 Bündnisse schmieden, diskutieren und Presseinformationen verfassen, selbst das Buch nicht gelesen hätten. Oder würden sie sonst so viel Kraft in ein Werk stecken, das Gentechnik und Atomenergie befürwortet??? In je einem eigenen Kapitel wird hier herausgearbeitet, daß in der Gentechnik die Zukunft von Medizin und Welternährung liegt, während ebenfalls ausführlich von der Notwendigkeit sicherer Atommülltransporte und -lagerung gesprochen wird (ohne daß auch nur ein Halbsatz zum Thema Ausstieg aus der Atomenergie zu finden ist). Atomkraftwerke sollen weltweit auf den modernsten technischen Standard gebracht werden. Und noch ein Kapitel in der Agenda müßte UmweltschützerInnen die Haare zu Berge stehen lassen: Zur Förderung der Privatwirtschaft sollen Beteiligungsrechte in Umweltdingen eingeschränkt werden. Die Industrie soll bei der politischen Beteiligung bevorzugt werden, nirgends sind die Formulierungen so weitgehend wie in diesem Kapitel. Frauen, Kinder, ArbeitnehmerInnen ihnen allen ist ein Kapitel mit unverbindlichen Sprüchen gewidmet, nur bei der Beteiligung der Industrie finden sich konkretere Positionen. Danach sollen Unternehmen zukünftig gleichberechtigt mit PolitikerInnen die Zukunft des Landes bestimmen. Den UreinwohnerInnen in ein besonderes Kapitel gewidmet. Sie seien wegen ihrer spezifischen Lebensumstände unfähig, mit ihrem eigenen Land nachhaltig umzugehen und sollen deshalb an die Notwendigkeiten nachhaltigen Lebens "angepaßt" werden. An etlichen Stellen beschwört die Agenda 21 die freie Marktwirtschaft und den Abbau von Handelsschranken als Allheilmittel für ökologische und soziale Ziele (siehe auch Zitate).
(5) Daß in der Agenda ein Aufruf zu einer "Lokalen Agenda" enthalten sei, bei deren Bearbeitung die BürgerInnen gleichberechtigt mitreden sollen, ist schlicht erfunden. Tatsächlich sind die Kommunen nur aufgerufen, mit den BürgerInnen (und der Wirtschaft, das wird gleich mitbenannt!) zu reden, um deren Wissen für die eigene Arbeit verfügbar zu machen. Zitat: Jede Kommunalverwaltung soll in einen Dialog mit ihren Bürgern, örtlichen Organisationen und der Privatwirtschaft eintreten und eine "kommunale Agenda 21" beschließen.
(6) Die Ex-Bundesatom- und -umweltministerin Angela Merkel wußte, was sie an der Agenda hat - und Jürgen Trittin weiß es jetzt. Wenn sie (wie im Dezember 1996) einlädt, bundesweite Agenda-Arbeitskreise zu gründen, kommen illustre Gäste aus Wirtschaft (Chemie-/Auto-), Wissenschaft, Ministerien und Verbänden (BUND, Grüne Liga, Beamtenbund...). Dort, wo die Lokale Agenda vor Ort zum Thema wird, kommen am "Runden Tisch" ebenfalls VertreterInnen aus Parteien, Wirtschaft, Kirchen, Verbänden usw. zusammen. Muß das nicht stutzig machen? Die VertreterInnen der härtesten, umweltzerstörenden Industrie brauchen vom Agenda 21-Prozeß nichts zu fürchten. Überall geht dort der Dialog vor. Es gibt tatsächlich keine Passage im Rio-Dokument, die die Großindustrie grundsätzlich in Frage stellt oder auch nur kritisiert. Der Schutz der Menschenrechte angesichts eines liberalisierten Welthandels gerät z.B. vollständig unter die Räder, kommt in der Agenda nicht vor. Dafür läuft die Expo 2000 in Hannover als Agenda-Projekt - das ist doch was zum Aufschauen für die kleinen UmweltschützerInnen, die ein solch großes Umweltprojekt, für das so viel gebaut und umgekrempelt wird, niemals hinkriegen würden. Ein weltweites Happening mit dem Agenda Banner - "Das, was zu tun ist." (Übersetzung des Wortes "agenda").
(7) Die Agenda 21 enthält viele Seiten mit vielen Kapiteln mit vielen, vielen Worten. Die Agenda-Bündnisse zeichnen sich ebenfalls vor allem durch viele Worte aus. Das merken immer mehr Menschen und Medien, ohne daß die Agenda-Begeisterung bisher merklich abenommen hätte: "Einen Aufstand muß man machen, und nicht nur von ihm reden. Bisher wurde viel geredet, unglaublich wenig gemacht, obwohl es unzählige Menschen gibt, die sich für nachhaltige Politiken und Projekte einsetzen". (Politische Ökologie 5/96) Frankfurter Rundschau vom 24.10.95: "Die einst agilen, spontanen und die Massen mobilisierenden Umweltverbände und -initiativen drohen immer mehr zu Bürohengsten zu verkommen. Der Kleinkrieg mit Politik und Administration bindet die Kräfte..."
(8) Agenda ist ein Mythos und Ersatzideologie geworden. Dafür wurde gelogen, daß sich die Balken biegen. Die Kritik von 1992 wurde ausgeblendet. Selbst die Nachfolgekonferenzen von 1995-97 haben keinen Verdacht geschürt, daß die Sache vielleicht grundsätzlich faul ist. Der Mythos ist Ergebnis einer Darstellung der Agenda zunächst von Seiten der Mächtigen, dann der typischen MitläuferInnen (LobbyistInnen, auch die Umweltverbände) und schließlich einer immer breiteren Szene von Menschen und Institutionen, die mit dem Begriff Agenda inzwischen gutes Geld machen: Verlage, ModeratorInnen, Bildungseinrichtungen. Der Blick in die Hefte, die die Agenda vorstellen, ist offenbar überall vernebelt. Sonst müßte auffallen, daß fast ausnahmslos bei der Vorstellung der Inhalte nicht nur Dinge gesagt werden, die so nicht in der Agenda stehen (z.B. die Beteiligungsrechte von BürgerInnen), sondern vor allem auch die kritischen Texte einfach weggelassen werden. In der Agenda wird der Ausbau der Atom- und der Gentechnologie in zwei umfangreichen Kapiteln gefordert. In den Broschüren und Ausstellungen, die vorgeben, die Inhalte der Agenda zu beschreiben, fehlen diese Kapitel immer.
(9) Industrie und Bundesumweltminister haben gut lachen: Die meisten Umweltgruppen, vor allem aber die etablierten Verbände unterstützen die Agendaarbeit und die Nachhaltigkeitsdebatte. Neue Modewörter wie "Nationaler Umweltplan" geistern herum und werden über Jahre alle Kapazitäten binden, ohne das etwas herauskommt. Wer heute Agendaarbeit macht, kann auf gute Presse, Zuschüsse oder vielleicht sogar ein Pöstchen im neugeschaffenen Agendabüro hoffen. Auf Landes-, Bundes- und überregionaler Ebene aber haben ganz andere Kreise die Agendathematik besetzt: Umweltminister Trittin, die EXPO und andere. Die RWE-Zeitung heißt "Agenda". Sie können sich auf die vielen hundert (oder gar schon tausend?) Gruppen vor Ort berufen, die mit ihnen einer Meinung sind: Agenda ist die Zukunft. Wer vor Ort die Agenda und ihre Ziele unterstützt, fällt denen in den Rücken, die auf überregionaler Ebene gegen Gen- und Atomtechnik sowie gegen die Deregulierung und zunehmende Macht der Großkonzerne kämpfen. Ist es ein Wunder, daß dieselben Umweltorganisationen, die bundesweit den Agenda- und Nachhaltigkeitsdiskurs fördern, jetzt bei der EXPO mitmachen oder Ökosteuerreformvorschläge entwickeln, bei denen die Großenergieverbraucher Ausnahmen erhalten sollen? Da hilft es auch nichts, wenn sich Agenda-Leute vor Ort rausreden, daß die Agenda zwar problematisch sei, aber sie vor Ort ja was Besseres daraus machen. Dadurch, daß sie ein Dokument stützten, in dem Gen- und Atomtechnik befürwortet werden und die Stärkung der Privatwirtschaft zum Ziel aufsteigt, machen sie wirksame Umweltschutzarbeit landes- und bundesweit schwieriger. Sie stehen (mindestens symbolisch) einfach auf der Seite von Merkel, RWE usw.
(10) Ohne Geld und Pöstchen wäre aus der gescheiterten Rio-Konferenz '92 niemals der Mythos entstanden, den die Agenda jetzt darstellt. Dazu war Geld nötig, sehr viel sogar. Es floß auf unterschiedlichen Ebenen. Zuerst wurden Bundes- und Landesregierungen aktiv (egal, wer dort gerade regierte). Arbeitskreise zum Thema Nachhaltigkeit bzw. Agenda banden die Hauptamtlichen der Umweltverbände. Aber dort wurde auch über Projekte diskutiert, Finanzierungen ausgelotet das Mitmachen lohnte sich also. Auf kommunaler Ebene dauerte alles zunächst recht lange. Geld half auch hier. Die hessische Landesregierung stellte 6 Mio. DM zur Verfügung für alle, die Agenda machen wollten. Das half. Ob CDU- oder SPD- regiert, viele Kommunen fingen an. In den Metropolen laufen die Agenda-Prozesse schon länger. Sie sind in der Regel mit einigen hauptamtlichen Stellen verbunden, Projekt- und Öffentlichkeitsmitteln. Und wer kann dazu schon Nein sagen ...
(11) Im Zuge der Agenda-Aktivitäten vor Ort werden BürgerInnen eingeladen und häufig kommen etliche Menschen zusammen. Das ist neu, UmweltschützerInnen haben sich lange gar nicht um BürgerInnen-Beteiligung geschert. Sie haben in diesem Bereich sicher "Hausaufgaben" zu machen. Das Ziel einer breit getragenen Gesellschaftsveränderung und echten Umweltschutzes ist sicher nur mit BürgerInnen-Rechten zu erreichen. Das ist aber kein Argument für die Agenda, denn mehr Rechte für die Menschen will sie gar nicht. Anhörungen und runde Diskussions-Tische sind im Rio-Papier aufgeführt. Dann machen die PolitikerInnen den Rest - oder auch nicht. BürgerInnenentscheide z.B. sind Elemente einer echten Mitbestimmung. Es gibt da gute Vorschläge und aktive Gruppen - die Agenda braucht es auch hier nicht.
(12) Bündnisarbeit ist eine gute Sache und wichtig, um Zielen näher zu kommen. Aber immer muß dann die Frage geklärt sein, ob ein Bündis mit jedem und jeder diesem Ziel noch dienlich sein kann. Jede Umweltgruppe, die sich von Merkel für einen Arbeitskreis gewinnen läßt, der nichts erreichen soll, muß sich fragen, ob das wirklich der Weg sein kann. Jede Umweltgruppe, die die Agenda 21 hochhält, muß daran denken, daß sie damit klare Positionen gegen Gentechnik und Atomenergie verrät. Es stehen auch vernünftige Sachen in dem Rio-Papier. Aber das sind Forderungen, auf die die Umweltbewegung vorher schon gekommen ist, die sie auch vertrat, ohne dabei ein Gesamtwerk salonfähig zu machen, das ganz vielen Forderungen der Umweltbewegung total zuwider läuft. Es ist eben der faule Kompromiss, den alle Regierungs-, Wirtschafts- und NGO-VertreterInnen nach langen Diskussionen unterschreiben konnten. Übrigens: Die in der Agenda angepeilten Prozesse sollten zum Nachfolgegipfel in New York bereits abgeschlossen oder in vollem Gange sein. Der New Yorker Gipfel ist rum, nichts ist passiert. Soweit hat sich die Agenda schon selbst in's Abseits gespielt. Jeder Teil der Ökologiebewegung könnte jetzt anfangen und endlich die heilige Kuh schlachten: Wo bleiben neue Maßstäbe und wer fordert lautstark Umweltschutz ohne doppelte Moral? Es ist möglich, für eigene Ideen und Konzepte BündnispartnerInnen zu finden und gemeinsam was zu erreichen, ohne daß der Rest der Menschheit abschaltet und samt seiner Umwelt dem Dialog mit der Wirtschaft geopfert wird!
(13) Die 300 Seiten starke Übersetzung kann bezogen werden über: BMU; Ref. Öffentlichkeitsarbeit; Postfach 120629; 53048 Bonn oder: http://195.80.205.111/infos/download/ag21_txt.exe
(14) Unter dem Titel "Agenda, Expo, Sponsoring - Perspektiven radikaler, emanzipatorischer Umweltschutzarbeit" ist im April 1999 im IKO-Verlag der Band 2 erschienen, in dem die Ideen und Strategien ausgeführt werden (ISBN 3-88939-450-7, 39,80 DM). Band 1 enthält eine detaillierte Kritik an der Situation der Umweltschutzbewegung (ISBN 3-88939-613-5, 39,80 DM), zudem gibt es eine CD mit den dort verwendeten Quellen und Dokumenten (ISBN 3-88939-453-1, 49,80 DM). Bestelladresse für alles: Institut für Ökologie, Turmstr. 14A, 23843 Bad Oldesloe. Dort können auch weitere Diskussionspapiere z.B. zu den Themen "Direkte Demokratie" oder "Agenda 21" bestellt werden (gegen einmalig 3 DM Porto). Das Infopaket "Umweltschutz von unten" enthält alle Diskussionspapiere und weitere Information (gegen 6 DM in Briefmarken). Für 12 DM gibt es einen ausführlicheren Reader zur Agenda-Kritik mit Titel "Agenda 21 - Chance oder Mythos?".
(15) Umweltschutz von unten (http://go.to/umwelt) - Anti-Expo (www.expo-no.de) - Aktionen, Termine usw. (www.aktionsinfo.de) - Infos zur Projektwerkstatt (http://come.to/projektwerkstatt) - Ökostrom von unten (http://move.to/oekostrom)