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3. Die spezifische Möglichkeitsbeziehung und die Handlungsfähigkeit

Maintainer: Annette Schlemm, Version 1, 10.04.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) voriges Kapitel: Gesellschaftliche Natur der Menschen

Systemcharakter der Gesellschaft

(2) Die eben angesprochene Freiheit des Menschen kann man noch genauer begründen. Das Problem besteht ja darin, daß die Gesellschaft - im Unterschied zu Interaktionen und Kooperationen - einen eigenen Systemcharakter besitzt. Die Gesellschaft ist nicht nur die Summe der jeweiligen Interaktionen oder ein Netz von Kooperationen. Ihr Systemcharakter zeigt sich daran, daß sie eine selbständige Sphäre bildet, die sich selbst reproduziert. Diese Reproduktion beruht zwar auf den Handlungen der sie konstitiuerenden (bildenden/schaffenden) Menschen - entwickelt aber eigene Gesetzmäßigkeiten, die nicht mehr direkt von den einzelnen Menschen beeinflußbar sind. Im Prinzip wiederholen sich hier die Konsequenzen des Aufbaus der Welt in Strukturniveaus. Auch die Organismen müssen zwar physikalisch funktionieren - aber das spezifisch Biologische hat eigene Gesetze und Evolutionsprinzipien. Gegenüber den einzelnen Organismen haben wiederum Population, Art und Ökosystem eigene Gesetze und Evolutionsprinzipien. Das Gleiche gilt für die Ebene des Gesellschaftlichen. Die Gesellschaft bildet eigene wesentliche Zusammenhangsformen, Gesetzmäßigkeiten heraus (Eigengesetzlichkeit) und ihre Entwicklung verläuft gegenüber ihren Elementen auch eigenständig (vgl. Schlemm 2001).

(3) Diese Eigenständigkeit des Systems Gesellschaft ist dann ein Problem, wenn es sich gegenüber menschlichen Zwecken verselbständigt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist der "Terror der Ökonomie" (Forrester) strukturell verankert (vgl. Schlemm 1998 und Gruppe Gegenbilder, S. 31ff.). Die sozialen und ökologisch katastrophalen Folgen dieser Verselbständigung sind nicht mehr übersehbar oder als akzeptable Kosten des "Fortschritts" zu bewerten. Deshalb wird häufig durch ÖkoaktivistInnen die Lösung darin gesehen, jeglichen Systemcharakter der Gesellschaft abzulehnen und zu versuchen, ihn durch die Dezentralisierung in Kommunen o.ä. zu beseitigen. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Erstens ist jegliches menschliche Leben mit Gesellschaftlichkeit verbunden (siehe 2.). Eine Rückkehr in vor-gesellschaftliche Zustände wäre gleichzeitig eine Rückkehr ins tierisch-soziale Leben. Dies wäre aber angesichts der auf die Gesellschaft orientierten Bedürfnisstrukturen von Menschen - unmenschlich. Zweitens ginge damit die wichtigste Voraussetzung für spezifisch menschliches Leben verloren: die Freiheit im oben genannten Sinne.

Was für das Ganze notwendig ist, hat für den Einzelnen nur Möglichkeitscharakter

(4) Im gesellschaftlichen Charakter besteht gleichzeitig auch die Lösung für die Frage, woher menschliche Freiheit, spezifisch menschliche Möglichkeiten kommen: Die Spezifik der gesellschaftlich vermittelten Lebenserhaltung ist - wie schon mehrfach beschrieben - die "bewußte, vorsorgende Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen". Indem sich der Mensch am gesellschaftlichen Prozeß beteiligt, kann er sich selbst reproduzieren. Sein Tun in diesem Prozeß hatten wir "Handeln" genannt. Wenn der Mensch sich auf diese Weise selbst reproduzieren kann, ist er handlungsfähig. Auf den Begriff der Handlungsfähigkeit werden wir später noch zurückkommen.

(5) Die wichtige Idee für die spezifisch menschliche Freiheit ist die folgende: Die Reproduktion der Gesellschaft erfolgt - aufgrund ihres systemaren Charakters - als Ganzes unabhängig vom Beitrag des einzelnen Individuums. Das System, die Gesellschaft, bedarf zwar durchschnittlich in ausreichendem Maße aktiver Handlungen durch Menschen. Aber dieses durchschnittlich ausreichende Maß wird nicht direkt auf den einzelnen Menschen "heruntergerechnet". Es bleibt für den Einzelnen offen, ob, wie und in welchem Maße er sich konkret an der Reproduktion der Gesellschaft beteiligt. Das menschliche Individuum ist nicht ein "funktionierendes Element zum Selbsterhalt des Systems", sondern das System kann auch ohne seinen Beitrag funktionieren. Es kann nicht unabhängig vom Beitrag von genügend Menschen existieren, aber vom Beitrag jedes speziellen Einzelnen schon.

(6) Wir müssen hier einfach den Blickwinkel, die Perspektive, den Standpunkt wechseln. Von der Gesellschaft her gesehen, muß der Beitrag von allen Menschen irgendwie ausreichend erbracht werden. Vom Einzelnen her gesehen, ist es durchaus nicht notwendig, jetzt und heute genau dies oder jenes zu tun. Was für das System als Ganzes notwendig ist, ist für den Einzelnen lediglich eine Handlungsmöglichkeit. Bisher sind wir durch ein "verantwortungsvolles" Denken dazu erzogen worden, meist "aus der Sicht der Gesellschaft" zu denken. Der vom Einzelnen ausgehende Standpunkt wird als "Egoismus" diffamiert. Genau hier ist der Knackpunkt des Paradigmenwechsels (Wechsels des Bezugsrahmens) der Kritischen Psychologie. Sie setzt der üblichen Sichtweise ihren anderen Standpunkt nicht nur abstrakt gegenüber, sie lehnt den anderen nicht lediglich polemisch ab - sondern sie begründet ihren Standpunkt selbst aus den realen Eigenschaften der Gesellschaft.

Subjektivität und Bewußtsein

(7) Kritische Psychologie ist Subjektwissenschaft - sie betrachtet die Welt immer vom Standpunkt eines Subjekts aus. Letztlich entsteht durch diese Sichtweise überhaupt erst die Subjektivität. Der Einzelne muß nicht nur für das Ganze "funktionieren", sondern er kann sich bewußt gegenüber den Möglichkeiten verhalten.

(8) Dieses bewußte Dazu-Verhalten bedeutet, daß er erkennen kann, daß er nicht nur ein bewußtloses Rädchen im Getriebe ist, sondern daß er sich zumindest gedanklich vom Unmittelbaren lösen kann. Er kann erkennen, daß die Gesellschaft als Ganzes sich zwar durch die Beiträge aller Menschen reproduzieren muß - daß sein eigener Beitrag jedoch in seinem eigenen Ermessen steht. Daß er das kann, heißt nicht, daß jeder Mensch das in jedem Moment immer tut oder auch nur tun sollte. Er hat die Möglichkeit dazu. Und das ist schon viel. In jeder konkreten Gesellschaft wird ihm nahegelegt, was er zu tun hat... das Nahelegen kann mit mehr oder weniger Zwang verbunden sein. Nichtsdestotrotz hat jeder Mensch die Möglichkeit, sich wenigstens gedanklich zu distanzieren.

(8.1) 25.03.2004, 20:20, s w: Eine kritische Psychologie, die hilft, den Einzelnen über seine Möglichkeiten aufzuklären, widersetzt sich der Manipulation durch Massenmedien und Propaganda der "Bewußtseinsindustrie" (Enzensberger).

(9) Indem Bewußtsein mit diesem bewußten-Verhalten-zu verbunden ist, ist auch unsere Frage, ab wann Lebewesen ein Bewußtsein zukommt (in 1., siehe S.1), beantwortet: erst Menschen nach dem Dominanzwechsel können sich bewußt zu den Gegebenheiten verhalten, haben ein Bewußtsein. Ob Maschinen jemals ein Bewußtsein haben können, ist hiermit auch beantwortet: wenn sie eine "Gesellschaft" bilden könnten. (Natürlich kann jede/r sich andere Begriffe von "Bewußtsein" machen - aber ob sie viel Sinn machen, sei dahingestellt. Für das spezifisch Menschliche würde dann noch ein weiterer Begriff gebraucht...).

(9.1) Maschinen und Bewusstsein, 04.03.2002, 13:14, Stefan Meretz: Abstrakt ist es zwar richtig, dass "Maschinen ... ein Bewußtsein haben können, ... wenn sie eine "Gesellschaft" bilden könnten" - aber konkret irgendwie dann doch nicht: Maschinen müssten ihren Mittelcharakter (also die Simulation ihren Simulationscharakter) verlieren, und das ist IMHO unreal.

Menschliche Freiheit - spezifische Möglichkeitsbeziehung zur Welt

(10) Bedeutung im Tierreich vermitteln zwischen der objektiven Beschaffenheit der Umwelt und der Psyche der Tiere (Holzkamp 1985,S. 207). Dies geschieht in einer Weise, daß dem einzelnen Tier keine "Wahl" gegeben ist, aktiv zu werden oder nicht oder in verschiedener Weise, wenn z.B. Bedarf (psychische Konstellation) und Beute (Umweltgegebenheit) zusammenkommen. Scheinbar sichtbare Unentschlossenheit oder "Wahl" sind nicht wirklich bewußte Entscheidungen, sondern sie folgen automatisch ablaufenden wechselhaften inneren Bewertungen dieser Bedeutungen, was bei höheren Tieren in komplexen Umwelten schon recht kompliziert sein kann.

(11) Bei Menschen ist jedoch die Umsetzung der jeweils konkret gegebenen Bedeutung nicht mehr unmittelbar notwendig zur Existenzsicherung, da diese durch die Eingebundenheit in die gesellschaftliche Reproduktion mit Sicherheit (abzüglich dies ggf. einschränkender oder verhindernder Machtbeziehungen) gegeben ist. Die Bedeutungsstrukturen liegen auch für Menschen jeweils objektiv vor. Ihre Handlungen sind jedoch dadurch nicht festgelegt. Das menschliche Individuum hat "immer auch die "Alternative", nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber "frei"." (Holzkamp 1985, S. 236) Oder noch einmal anders ausgedrückt: "Einerseits sind in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen objektive Notwendigkeiten enthalten, andererseits hängt es von meinem subjektiven Standort, meiner Situation, meiner Befindlichkeit und meinen Intentionen ab, ob und welche Handlungsmöglichkeiten ich für mich ergreife. Zu den Handlungsmöglichkeiten gehört damit auch, die Handlungsmöglichkeiten selbst zu ändern" (Lenz, Meretz 1995, S. 68).

(12) Wir hatten oben nur kurz eingeflochten, daß in konkreten Gesellschaftsformen die "bewußte, vorsorgende Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen" für den Einzelnen beschränkt oder behindert sein kann. Prinzipiell ist sie - diese vorsorgende Verfügung - durch die Gesellschaftlichkeit aller dieser Gesellschaftsformen gegeben - sie kann aber auch weit eingeschränkt sein. Wir bleiben beim Subjektstandpunkt: Allein dadurch, daß ich diese Beschränkung und Behinderung geistig erfassen kann, bestätige ich das Vorhandensein von etwas möglichem Anderen. Wo eine Schranke erkannt ist, ist sie wenigstens geistig schon überschritten. Erst wenn ich "das Andere" erahne, erkenne ich die Kerkermauern. Schon diese geistige Überwindung ist eine Alternative. "Auch noch so eingeschränkte Handlungsalternativen bleiben immer noch Alternativen" (Holzkamp 1985, S. 345). Dies sieht auch Jean-Paul Sartre so: Einem Arbeitslosen "wird es nicht gelingen, aus dem Elend herauszukommen, aber mitten in diesem Elend, an dem er klebt, kann er wählen, in seinem Namen und im Namen aller anderen gegen alle Formen des Elends zu kämpfen; er kann wählen, der Mensch zu sein, der es ablehnt, daß das Elend das Los der Menschen sei" (Sartre 1944, S. 60).

Spezifik des Menschlichen: Freiheit als spezifische Möglichkeitsbeziehung

(13) Bereits in den Punkten 1 und 2 fragten wir nach der Spezifik des Menschlichen. Seine "gesellschaftliche Natur" war die Antwort. Was das bedeutet, haben wir jetzt weiter diskutiert. Die Spezifik der menschlichen Existenz besteht in der Möglichkeitsbeziehung, der Fähigkeit zum "bewußten-Verhalten-zur-Welt". Jeder einzelne Mensch wird in historische Gegebenheiten und gesellschaftliche Strukturen mit Eigengesetzlichkeit hineingeboren. Seine Menschlichkeit zeigt sich darin, daß er diesen Bedingungen nicht nur "blind folgt", sondern sich zu ihnen bewußt ins Verhältnis setzt. Dadurch ist er jeder Bedingtheit immer ein Stück voraus (vgl. Holzkamp 1985, S. 355). Seine Freiheit ist nun nicht nur durch die Ablehnung von Bedingtheiten gekennzeichnet. Diese Bestimmung der Freiheit wäre eine rein negative. "Bewußtes-Verhalten-zur Welt" entfaltet jedoch eigene Begründungen, die sich nicht durch Bedingungen erklären lassen, sondern subjektiv entstehen. Freies Handeln ist zwar nicht durch Bedingungen festgelegt - aber auch nicht unbegründet. Diese Gründe sind jedoch nur subjektiv einsichtig - niemals "von außen" beobachtbar.

(14) Genau diese Spezifik geht in einer dogmatisch "materialistischen" Sicht verloren, wenn das "materiell Gegebene" dem ideell Vorausweisenden entgegengesetzt wird. Genau diese Spezifik war Inhalt jeglicher progressiver Philosophie, so auch typisch für die Klassische Deutsche Philosophie:
Johann Gottlieb Fichte schrieb in seiner Schrift "Die Bestimmung des Menschen":
"Für Intelligenzen gibt es "mannigfaltiger Handelsmöglichkeiten, unter denen allen, wie es mir scheint, ich auswählen kann, welche ich will." (Fichte 1799/1800, S. 193)
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling verlangte: "Einer Philosophie nun, die als ihr erstes Prinzip die Behauptung aufstellt, daß das Wesen des Menschen nur in absoluter Freiheit bestehe, daß der Mensch kein Ding, keine Sache, und seinem eigentlichen Sein nach überhaupt kein Objekt sei...". (Schelling 1796, S. 9) Auch Jean-Paul Sartres Denken hat als Grundlage: "Wenn die Existenz dem Wesen vorausgeht, das heißt, wenn die Tatsache, daß wir existieren, uns nicht von der Notwendigkeit entlastet, uns unser Wesen erst durch unser Handeln zu schaffen, dann sind wir damit, solange wir leben, zur Freiheit verurteilt.... Frei sind wir, weil wir in jedem Augenblick unseres Lebens über alles, was wir tun oder nicht tun, frei entscheiden. ...Selbst wenn wir uns zur Untätigkeit, zur Passivität entschließen, bleibt das unser eigener Entschluß" (nach König, S. 44). Die "zweite Möglichkeit"

(15) Schon im Wort "Möglichkeit" steckt eine Unbestimmtheit. Wenn ich eine Möglichkeit habe - heißt das, daß ich nicht nur eine Möglichkeit habe, denn das wäre eine Notwendigkeit. Aber abgesehen von dieser Wortklauberei haben wir eben begründet, wieso menschliches Handeln immer Alternativen hat. Oft wird gesagt: "Aber ich konnte/kann wirklich nichts anders tun! - Mir bleibt nur diese eine Möglichkeit!". Wenn ich ehrlich bin, habe ich da unsere Wahl schon getroffen. Bestimmte Prämissen haben mich dazu geführt, denkbare andere Alternativen so sehr auszuschließen, daß ich sie vergesse oder verdränge. Es ist ja auch sinnvoll, nicht ständig nur zu überlegen, was man hätte tun können, wenn und wenn nicht und wenn anders... Aber die grundsätzliche Möglichkeit, für die jeweilige Situation die Bedingungen zu verändern und damit auch die Situation irgendwie zu verändern, "besteht wirklich immer, die besteht dann nicht mehr, wenn man mich totschlägt. Und fünf Minuten vorher besteht sie auch noch, da kannst du schreien, es lebe die Freiheit." Wir haben immer die Möglichkeit "entweder uns abzufinden oder einen Schritt Verfügungserweiterung zu kriegen." (Holzkamp 1983)

(16) Wichtig ist es hierbei, den Subjektstandpunkt nicht zu verlassen. Es obliegt "je mir", diese Entscheidung für mich zu treffen. Es ist hier nicht zulässig, von außen zu sagen: "Du hast doch aber noch diese oder jene Möglichkeit!" oder jemandem gar vorzuwerfen, er hätte vielleicht nicht richtig gewählt und entschieden. Auch die im folgenden vorgestellten beiden Formen der persönlichen Handlungsfähigkeit sind nicht danach zu unterscheiden, ob eine davon "besser" oder "schlechter" ist. Diese Unterscheidung kann nur von "je mir" genutzt werden, um meine grundsätzlichen Möglichkeiten besser einzuschätzen. Zwei Formen der Handlungsfähigkeit Menschen haben die Möglichkeit zu handeln, d.h. ihre eigene Existenz über die Teilhabe am gesellschaftlichen Prozeß zu reproduzieren. Handlungsfähig ist ein Mensch, indem er über seine Lebensbedingungen verfügt, indem er sich am gesellschaftlichen Prozeß beteiligt (nach Holzkamp 1985, S. 241). Einerseits kann diese Handlungsfähigkeit prinzipiell auf die gemeinsame Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten überhaupt gerichtet sein (Holzkamp 1985, S. 2). Andererseits ist ein Mensch auch unter Negierung (Verneinung) dieser überschreitenden Möglichkeit handlungsfähig (ebd., S. 385). Die erste Form der Handlungsfähigkeit wird "verallgemeinerter Handlungsfähigkeit" genannt, die zweite "restriktive Handlungsfähigkeit".

(17) Es kommt hier auch wieder auf die Perspektive an: Es wird nicht gesagt: "Die Welt ist halt so gegeben, wie sie gegeben ist" und es müßte begründet werden, wieso sie auch veränderbar sein sollte. Sondern es wird vorausgesetzt, daß die menschliche Welt durch menschliches Handeln entsteht - also auch in ihren Bedingungen zu verändern ist. Lediglich die Beschränkung und Behinderung dieser Veränderungsfähigkeit erfordert eine Erklärung. Dies kehrt die übliche Betrachtungsweise nahezu um, ist aber eine Konsequenz aus der aus dem Systemcharakter des Gesellschaftlichen abgeleiteten spezifischen Möglichkeitsbeziehung der Menschen gegenüber der Welt.

(18) Während ich in der die verallgemeinerten Handlungsfähigkeit auf Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Daseinserfüllung abziele und dabei auch die "Prämissen" von Handlungen in Frage stelle und Bedingungen verändere, verzichte ich im Rahmen der restriktiven Handlungsfähigkeit auf diese Erweiterung, bleibe im Rahmen der bestehenden Handlungsmöglichkeiten. Dies macht für den konkreten Lebensvollzug durchaus Sinn und ist häufig subjektiv funktional (für den Einzelnen - subjektiv - das Leben ermöglichend). Besonders in bedrohlichen Situationen liegt es nahe, den jeweils bereits gegebenen Rahmen der Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und nicht selbst noch durch Veränderungswünsche in Frage zu stellen. Dadurch verstärke ich jedoch selbst diese Gegebenheiten, unter denen die Bedrohung erzeugt wurde (z.B. meine ich dann, eine Gesellschaftsform, die notwendig strukturelle Erwerbslosigkeit produziert, sei die "natürlichste" für den Menschen und könne nicht verändert werden). Ich mache mir dies jedoch nicht bewußt (aha, daher rührt das berühmte "Unbewußte"!). Von außen betrachtet könnte man leicht sagen: Stelle das Gegebene in Frage, nutze die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit! Ich werde dies jedoch nur dann wählen, wenn es für mich subjektiv funktional ist, wenn ich vorhersehen kann, daß dadurch die Existenzgefährdung wirklich abgewendet wird. Solange ich dies nicht sehe, ist das Verbleiben in der restriktiven Handlungsfähigkeit subjektiv funktional und damit verständlich.

(19) Fassen wir diese beiden Handlungsformen noch einmal zusammen (Seitenzitierungen aus Holzkamp 1985) [siehe Tabelle mit Vergleich: - restriktive - verallgemeinerte Handlungsfähigkeit - in Datei http://www.thur.de/philo/kp/wastun.htm].

(20) Die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit als "zweite Möglichkeit" erfordert nicht nur "positives Denken", sondern reale Handlungen zur Erweiterung der gemeinsamen Macht über die Verhältnisse. Das schließt ein "Sich-Einrichten" in den Verhältnissen weitestgehend aus. Es erfordert auch, daß ich die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit meines Lebens erkenne, ihr "Gegebenes" als Veränderbares begreife.

(20.1) 05.03.2002, 20:41, Stefan Meretz: Vorsicht vor normativen Zuspitzungen: Das "Sich-Einrichten" ist keineswegs und auch nicht weitgehend ausgeschlossen, sondern gewissermaßen die Grundlage von der ich ausgehe, um genau diese Grundlage als meine Handlungsbedingung zu verändern. Das Problem ist nicht das Einrichten - dazu sind wir genötigt in der einen oder anderen Form -, sondern das sich damit Abfinden, das nicht mehr Hinterfragen, das Hinnehmen als das Normale und Richtige usw. Vielleicht meinst du ja mit "Sich-Einrichten" das gedankliche "Nicht-mehr-infrage-stellen", womit ich mein "Nichts-tun" dann rechtfertige. - Auch würde ich hier statt "positives Denken" besser "begreifendes Denken" sagen. Begreifen ist u.U. manchmal ziemlich ernüchternd.

(21) Denkformen: Begreifen und Deuten Dieses begreifende Denken unterscheidet sich vom bloß deutenden Denken, das die typische Denkform der restriktiven Handlungsfähigkeit ist. Im deutenden Denken wird die "doppelte Möglichkeit" negiert. Das "faktisch Gegebene" wird dominant (vorherrschend) wahrgenommen gegenüber den Veränderungsmöglichkeiten, der Potentialität. Ohne gnostische (erkennende) Distanz wird das unmittelbare Gegebene wird als das "Wirkliche" genommen. So werden die Lebensbedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft als die "natürlichen" akzeptiert und nicht in Frage gestellt. Alles Denken bezieht sich aufs "Deuten innerhalb dieses gegebenen Rahmens". Das begreifende Denken dagegen begreift den Rahmen als bedingt und Bedingungen als veränderbar.

(22) Fassen wir zusammen [siehe Tabelle mit Vergleich: - Begreifen/Deutendes Denken - in Datei http://www.thur.de/philo/kp/wastun.htm].:

(23) Natürlich deutet jeder Mensch im alltäglichen Lebensvollzug ständig. Besonders im Rahmen der restriktiven Handlungsfähigkeit ist dieses deutende Denken (auch oft "Alltagsbewußtsein" genannt) naheliegend und vor allem risikolos durchzuhalten (vgl. Holzkamp 1985, S. 397). Wie komme ich nun aber zum Begreifen? Durch wissenschaftliche Schulung? Auch dazu muß erst einmal ein subjektiver Grund vorhanden sein - es muß für mich subjektiv Sinn machen (wir befinden uns nach wie vor auf dem Subjektstandpunkt, nicht in der Perspektive: "Was müßten die Menschen denn eigentlich tun?"). Begreifendes Denken kann wenigstens ansatzweise nur dort entstehen, wo die restriktive Handlungsfähigkeit selbst brüchig wird. Ich muß ja im Rahmen der restriktiven Handlungsfähigkeit verdrängen, daß die Ursachen dafür, daß es mir oft schlecht geht, in den Bedingungen der Gesellschaft liegen. Ich schreibe sie mir eher selber zu (typisch verstärkt beispielsweise durch Vorwürfe an Erwerbslose, sie hätten sich nur nicht genügend bemüht). Ganz tief im Innern steckt - noch unbewußt - durchaus die Ahnung, daß ich da nicht selber dran schuld sein kann. Hier stecken Ansatzpunkte für den Übergang zum begreifenden Denken. Diese Übergänge sind nie rein logisch herstellbar. Die logische Ableitung erfolgt erst, wenn die Entscheidung für diese Denkweise für "je mich" subjektiv funktional geworden ist, bzw. funktionaler als das Verbleiben im deutenden Denkmodus.

(24) Insofern arbeitet die wachsende Kontraproduktivität (das Tun führt - sogar für die Mächtigen - immer öfter zum Gegenteil des angestrebten Ziels) im Kapitalismus dazu, daß diese Brüchigkeit immer häufiger auftritt. Sogar ein braves "Mitmachen" ist für viele Menschen nicht mehr sinnvoll. Lange kann das emotionale Unwohlsein verdrängt werden. Oder die Ursachen werden woanders gesucht, z.B. in den konkret herrschenden Personen, in der "Faulheit" der Schwächeren ("Sozialrassismus") oder gar anderen Menschengruppen. Auch hier kann es schließlich zu qualitativen Umbrüchen kommen: Ich erkenne, daß nicht ich, sondern "das System" mein Unwohlsein verursacht. In der DDR erlebten wir, wie diese Erkenntnis auch das Gesamtsystem in Frage stellte und schließlich durch eine andere Gesellschaftsform ersetzt wurde - die neue Restriktionen in sich trägt...

(25) zusätzliche (zu 1. und 2.) Literatur:
Forrester, Vivian (1998): Der Terror der Ökonomie, München
Gruppe Gegenbilder (2000): Freie Menschen in Freien Vereinbarungen, Saasen
Holzkamp, Klaus (1983): Der Mensch als Subjekt wissenschaftlicher Methodik. Vortrag, gehalten auf der 1. Internationalen Ferienuniversität Kritische Psychologie vom 7.-12. März 1983 in Graz. Veröffentlicht in: Braun, K.-H., Hollitscher, W., Holzkamp, K. & Wetzel, K. (Hrsg., 1983): Karl Marx und die Wissenschaft vom Individuum. Bericht von der 1 internationalen Ferienuniversität Kritische Psychologie vom 7.-12. März in Graz. Marburg: Verlag Arbeiterbewegung und Gesellschaftswissenschaften. S. 120-166. In Internet: http://www.kritische-psychologie.de/kh1983a.htm
König, Traugott, (Hrsg.,1986), Sartre, J.,P., Lesebuch: den Menschen erfinden,Reinbek Lenz, Anita, Meretz, Stefan (1995): Neuronale Netze und Subjektivität, Braunschweig/Wiesbaden
Schlemm, Annette (1998): Das Wesen des Kapitalismus. In Internet: http://www.thur.de/philo/akkumulation2.htm Fichte, Johann Gottlieb (1799/1801): Die Bestimmung des Menschen, In: Fichte-W Bd. 2 Schlemm, Annette (2001): Was ist ein System? In: Internet http://www.thur.de/philo/system.htm
Sartre, Jean-Paul (1944) "Klarstellung oder Der Existentialismus ist ein Humanismus", Lesebuch Den Menschen erfinden, Hrsg. T. König, Reinbek 1996
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1796): Vom Ich als Prinzip der Philosophie. In: Schelling-W Bd. 1

(26) Weiter mit: 4. Was tun?


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