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Gegenbilder, Kap. 2.2: Vergesellschaftung und Herrschaft

Maintainer: Gruppe Gegenbilder, Version 1, 18.08.2000
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) {Herrschaft} Mit dem Begriff der Produktivkraftentwicklung haben wir die ökonomische Entwicklung als Ganze erfasst. Welche Rolle spielen aber die Einzelnen in diesem Prozess, wie werden die gesamtgesellschaftlichen Strukturen individuell vermittelt, wer bestimmt über den Gesamtprozess, wer herrscht? Um diesen Fragen näher zu kommen, müssen wir den Begriff der Vergesellschaftung einführen. Wie deutlich werden wird, bedingen sich Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftung.

(2) Schon der Begriff der "Gesellschaft" ist unanschaulich, denn "Gesellschaft" kann man nicht sehen oder anfassen. Gesellschaft ist ein Denkbegriff, der einen realen, aber unanschaulichen Sachverhalt fassen soll. Gesellschaft ist der überindividuelle Zusammenhang, der das Leben jedes Einzelnen vermittelt. Gesellschaft ist damit mehr als bloße Geselligkeit oder Sozialität, die Gesellschaft ist der unabhängig von konkreten Individuen selbstständig funktionsfähige Zusammenhang, der durchschnittlich von diesen Individuen geschaffen wird, ja werden muss, da er sonst ja nicht existieren würde.

(3) Diese eigentümliche Eigenschaft der Gesellschaft, die einerseits allgemein von Individuen geschaffen werden muss, andererseits aber von konkreten Individuen unabhängig ist, bestimmt die charakteristische Beziehung des einzelnen Menschen zur Gesellschaft. {Daraus folgt: Es gibt immer eine "zweite Möglichkeit" neben der Anpassung an das Gegebene!} Da die Gesellschaft auch ohne mein unmittelbares Zutun funktioniert, habe ich grundsätzlich eine Möglichkeitsbeziehung zur Realität. Es gibt keinen Sachverhalt, der mein Handeln unmittelbar festlegt. Ich kann handeln, muss aber nicht oder kann auch anders handeln. Diese gesellschaftliche Natur mit der eingeschlossenen, grundsätzlichen Möglichkeits- oder Freiheitsbeziehung zur Welt kommt nur den Menschen zu! {Gesellschaftliche Natur des Menschen Freiheit}

(4) Wenn nun aber das Handeln der Menschen nicht unmittelbar "ausgelöst" werden kann, wie erhält sich dann die Gesellschaft? Wie kommt es zu den "durchschnittlich" notwendigen Beiträgen der Einzelnen? Der Grund ist die Tatsache, daß niemand sein Leben ungesellschaftlich reproduzieren kann. Die individuelle Existenz ist grundsätzlich immer gesellschaftlich vermittelt. Die Herstellung des Vermittlungszusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft nennen wir Vergesellschaftung. Und wie kann es anders sein, auch die Form der Vergesellschaftung hat sich historisch qualitativ verändert. Die Vergesellschaftungsform beschreibt sozusagen den grundsätzlichen Handlungsrahmen, in dem die Individuen ihr individuelles Leben durch Beteiligung an der gesellschaftlichen Reproduktion erhalten. {Gesellschaftliche Produktion und Reproduktion} War die Beschreibung der Produktivkraftentwicklung der inhaltliche Aspekt menschlicher Gesellschaftsgeschichte, so erfasst die Vergesellschaftungsform den Formaspekt des gleichen Prozesses. Die Geschichte als Geschichte der Produktivkraftentwicklung ist also eigentlich erst wirklich verstehbar, wenn man die Form, innerhalb derer sie sich entfaltet, rekonstruiert. Das wollen wir für die drei "Epochen" nun durchführen. {Mehr zur Vergesellschaftung im Kapitel 2.3, Punkt C.}

A. Von der personal-konkreten zur abstrakten Vergesellschaftung

(5) In den agrarischen Gesellschaften der "Natur-Epoche" wurde die Vergesellschaftung über personale Abhängigkeitsbeziehungen reguliert. Der Sklave war Besitz des Sklavenhalters, der Fron-Bauer arbeitete zu großen Teilen für "seinen" Feudalherrn oder seinen Pfaffen. Dies bedeutet nicht, daß die Abhängigen den Herrscher auch persönlich kennen mussten, aber es war klar, zu wem sie "gehörten". Auch die nicht-herrschaftsförmigen Beziehungen innerhalb der bäuerlichen Gemeinde waren personal strukturiert. Allein die regionale Begrenztheit bäuerlichen Handelns aufgrund fehlender oder unerschwinglicher Transportmittel erklärt die sprichwörtliche "Beschränktheit" und "Enge" des bäuerlichen Daseins. Entsprechend war auch die Produktion neben der Erfüllung der abgepressten Fron an den konkreten Bedürfnissen der dörflichen Gemeinschaften orientiert. Ein abstraktes Anhäufen von Reichtum war weder gewollt noch möglich, gute Ernten wurden direkt in höheren Lebensgenuss und ausgedehntere Muße umgesetzt. Entsprechend der personal vermittelten Struktur der Gesellschaft und der am Gebrauchswert der Dinge orientierten Produktionsweise kann man die Mensch-Natur-Mittel-Beziehung bei der Produktion der Lebensbedingungen als personal-konkrete Produktivkraftentwicklung bezeichnen.

(6) Mit dem Einsetzen der "Mittel-Epoche" und dem Aufstieg des Kapitalismus änderte sich die Vergesellschaftungsform vollständig. Mit Gewalt wurden alle personal strukturierten Beziehungen zerschlagen und durch eine abstrakte Vergesellschaftungsform ersetzt. Aus vielen Bauern wurden "doppelt freie" Lohnarbeiter, "frei" von Boden und "frei", seine Arbeitskraft zu verkaufen. Aus ursprünglichen Schatzbildnern, Händlern oder feudalen Räubern, wurden Warenproduzenten, die Kapitalisten. Zu Recht nennt man diese Raubphase, die der Entfaltung des Kapitalismus vorausging, nicht nur die "sogenannte ursprüngliche Akkumulation" (Marx 1976/1890, 741, sondern auch "ursprüngliche Expropriation" (Lohoff 1998, 66), da die Menschen von allen Mitteln "enteignet" wurden, die ihnen eine kapitalismusunabhängige Grundversorgung bot. Das "Bauernlegen" in England ist legendär. In Indien brachen später die englischen kolonialen Eroberer den Webermeistern die Finger, damit sich englische Kleidung auf dem indischen Subkontinent durchsetzen konnte. Heute werden Staudämme gebaut, die nur wenigen Menschen "Fortschritt" bringen, aber Millionen von ihrem Land vertreiben und zur "Überbevölkerung" machen.

(7) Wie aber funktioniert diese abstrakte Vergesellschaftung? Die Grundlagen dafür hat Karl Marx im Kapitel "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis" des "Kapital" aufgedeckt. {Fetischismus} Im Feudalismus waren die gesellschaftlichen Verhältnisse durch persönliche Abhängigkeiten bestimmt. Die Arbeitsprodukte gingen in ihrer konkreten, in ihrer Naturalform in die gesellschaftliche Reproduktion ein. Entsprechend charakterisiert Marx die Arbeit:

"Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form." (Marx 1976/1890, 91)

(8) Die Besonderheit, die Konkretheit, die Nützlichkeit der Dinge, was Marx "Naturalform" nennt, bestimmte die Arbeit. Man könnte auch von einer Subsistenzproduktion sprechen. {Subsistenz} Es wurde das produziert, was konkret gebraucht wurde. Getauscht wurden nützliche Dinge gegen nützliche Dinge, ein abstrakter Vermittler wie das Geld spielte kaum eine Rolle. Marx weiter:

"...die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte." (Marx 1976/1890, 91f)

(9) Die gesellschaftlichen Verhältnisse waren entsprechend der Konkretheit und Nützlichkeit der Arbeit vorwiegend konkrete "persönliche Verhältnisse". Eine Idealisierung dieser "persönlichen Verhältnisse" ist jedoch völlig unangebracht, denn es handelte sich um personale Zwangsverhältnisse wie Sklavenbesitz, Leibeigenschaft, patriarchale Familienstrukturen etc. {Zwang}

(10) Anders im Kapitalismus, so Marx, hier sind persönliche Verhältnisse "verkleidet" in Verhältnisse von Sachen. Wie ist das zu verstehen? Im Kapitalismus wird nicht auf direkte Verabredung des gesellschaftlichen Bedarfs produziert, sondern in Form "voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten" (Marx 1976/1890, 87). Diese Produkte werden dann im Nachhinein im Tausch einander als Werte gleichgesetzt, was bedeutet, sie als geronnene Arbeitszeiten gleichzusetzen. Die Produkte werden entsinnlicht, ihre jeweilige Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit interessiert nicht mehr, es interessiert nur mehr der Wertinhalt. Damit wird die Arbeit nicht mehr durch die Besonderheit, Konkretheit und Nützlichkeit bestimmt, sondern einzig durch die Tatsache, daß sie Wert schafft. Der Wertvergleich, also Vergleich von Arbeit(szeit) auf dem Markt ist ein sachliches, von der Konkretheit der Dinge abstrahierendes Verhältnis. In dieses "Verhältnis der Sachen" sind die persönlichen Verhältnisse "verkleidet", sie bestimmen alle gesellschaftlichen Verhältnisse.

(11) Beispiel: Ich gehe in einen Laden und kaufe Milch. Dafür lege ich Geld auf den Tisch. Ich stelle abstrakt "persönliche Verhältnisse" her: zum Bauern, zur Milchfahrerin, zum Arbeiter an der Abfüllanlage etc. - doch diese Verhältnisse sind "verkleidet" in ein sachliches Verhältnis, und das ist das des Geldes. Das Geld bestimmt die Beziehungen, es "verkleidet" sie vollkommen, es abstrahiert von der "Persönlichkeit" der Beziehungen vollständig.

(12) Ein solches "sachliches Verhältnis" wäre erträglich, wäre es statisch. Das Gegenteil ist der Fall, und das ist es, was den Terror der Ökonomie ausmacht. {"Terror der Ökonomie" ist ein Buch von Viviane Forrester, das zur Zeit Furore macht, aber den Kern der geschilderten Problematik nicht erfaßt.} Die gesellschaftlichen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erhalten ihre subjektlose Dynamik durch die Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz. Das bedeutet: Wert "ist" nur Wert, wenn er Kapital wird, wenn der Wert sich auf dem Markt auch wirklich realisiert, d.h. wenn er auf Wert in Geldform trifft und in Kapital umgewandelt wird, wenn er die Konkurrenz um das beschränkte Geld auf dem Markt gewinnt. Die Verwertung von Wert ist dauerhaft nur sichergestellt, wenn Wert zu Kapital wird, um die nächste Runde des Warenzirkulation anzutreiben. Das Kapital ist Ausgangs- und Endpunkt einer sich stetig steigernden Spirale der Selbstverwertung von Wert in der Konkurrenz:

"Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist ... Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos." (Marx 1976/1890, 167)

(13) Die Wertabstraktion, die Verdinglichung menschlicher Beziehungen, hat verschiedene Erscheinungen: als Ware, als Geld, als Lohn. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind damit der Vermittlung durch den Wert unterworfen, so auch die Arbeit und die Produktivkraftentwicklung. Wir sprechen daher für die "Mittel-Epoche" von entfremdeter Produktivkraftentwicklung. {Entfremdung} Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert ist der klassische Fall einer "sich selbst organisierenden und sich selbst reproduzierenden" Bewegungsform. {Wertvergesellschaftung} Diese Selbstorganisation des Werts ist selbst subjektlos, mehr noch, sie unterwirft jedes Subjekt unter seine maßlose Bewegung. Damit tritt die Gesellschaft den Menschen - obschon von ihnen geschaffen - als Fremde gegenüber:

"Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren." (Marx 1976/1890, 89)

(14) Es schien eine Befreiung zu sein, die persönlichen Abhängigkeiten des Feudalismus zu verlieren. Allerdings erkaufte man sich dies mit einer "ordnenden, aber unsichtbaren Hand" (Adam Smith) für die Gesellschaftsorganisation. Es entstanden sachliche Mächte, vorwiegend auf den "Märkten", denen gegenüber alle Menschen gleich sein sollten:

"Da die Verallgemeinerung von Geldbeziehungen aber nur durch die Konstitution anonymer, großräumiger Märkte möglich war, mußte sie zusammen mit der Tendenz zur totalen Vereinzelung auch die Tendenz zur totalen Konkurrenz bringen. Denn der anonyme, sozial unkontrollierte Vergleich der Waren weit voneinander entfernter Produzenten, die in keinerlei kommunikativer Beziehung mehr zueinander stehen, entfesselt das sogenannte 'Gesetz von Angebot und Nachfrage': Die Waren müssen über den Preis miteinander konkurrieren, und somit unterliegt auch die Produktion dem stummen Zwang der Konkurrenz. Das bedeutet, daß der gesellschaftliche Zusammenhang der 'vereinzelten Einzelnen' nur noch negativ durch die ökonomische Konkurrenz hergestellt wird." (Kurz 1999, 36).

(15) Geld als Kapital löst alle alten Gemeinwesen auf, vereinzelt die Menschen und wird stattdessen zum sachlichen "realen Gemeinwesen" (Marx 1983/1857, 152). Nicht mehr der Gebrauchswert der Ware oder auch der Geldschatz stehen im Mittelpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit, sondern der Wert in seiner ruhelosen Dynamik verselbständigt sich gegenüber den Menschen und wird "automatisches Subjekt" (Marx 1976/1890, 169). Die Versachlichung schleicht sich auch in das Leben selbst. Das Kapital als herrschende Sache "existiert ... in Verfahrensabläufen, objektiven Produktionsabläufen und materialisiert in Konzernpalästen, Autobahnen, Fernsehern, Raketen, Doseneintopf." (Pohrt 1995, 122f).

(16) Auch die Art der Arbeit hat sich komplett gewandelt. War sie vor dem Kapitalismus primär auf die konkret-sinnliche Produktion von Gebrauchswerten ausgerichtet, die dazu dienten, das Leben zu sichern und angenehmer zu gestalten, so ist sie im Kapitalismus nurmehr abstrakte Arbeit für Geld. Was produziert wird, ist irrelevant, die Arbeit hat mit einem besseren Leben nichts mehr zu tun. Erst über den Umweg des Geldes sind Güter zugänglich, die gewissermaßen als "Abfallprodukt" der abstrakten Verwertung von Wert auf der Grundlage der von anderen geleisteten abstrakten Arbeit "anfallen". Der Konsum, ein besseres Leben, ist und war immer nur nachrangiger Effekt der Verwertung abstrakter Arbeit. Dies wird heute umso deutlicher, da die Produktion von Waren mit einem besseren Leben immer weniger zu tun hat. Die Qualität der Produkte sinkt, die Zerstörungen, die bei ihrer Herstellung angerichtet werden, stehen in keinem Verhältnis mehr zu ihrem Nutzen - die Milch, die erst vier Länder bereist, um endlich als Joghurt auf unserem Tisch zu landen, mag die Absurdität dieser Produktionsweise illustrieren.

B. Die Herrschaft der schönen Maschine

(17) {"Schöne Maschine"} Lange Zeit sah man in der Ungerechtigkeit der ungleichen Verteilung des produzierten Mehrwerts das zentrale Problem des Kapitalismus. Folglich bestand in der Eroberung der Verfügung über die entscheidenden Produktionsmittel der Schlüssel zu einer gerechteren Welt. Doch was ist gewonnen, wenn "die Arbeiter die Macht" haben? Die historischen Erfahrungen wurden in den realsozialistischen Ländern gemacht. Diese Versuche scheiterten nicht vorrangig an subjektiven Fehlern, sondern weil sie objektiv den gleichen Gesetzen der Selbstverwertung von Wert unterlagen, wie alle anderen Staaten der Erde auch, und in der globalen Konkurrenz schließlich kapitulieren mußten. Was ist gewonnen, wenn die Beschäftigen "ihre Firma" übernehmen? Sie müssen den gleichen Gesetzen gehorchen, wie die private Konkurrenzfirma auch. Die automatische Geldmaschine duldet keine Ausnahmen. Hans-Olaf Henkel, Chef des Unternehmervereins, hat diesen totalitären Mechanismus so auf den Punkt gebracht:

"Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt. (...) Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet." (Süddeutsche Zeitung, 30.05.1996)

(17.1) Re: B. Die Herrschaft der schönen Maschine, 14.02.2006, 03:11, Christian MAXEN (d.II.):
Der große Vernichter, H.O.Henkel. In "seinem Markt" gilt der geldlose Mensch nicht als nachfragender Teilnehmer. "Sein Markt" ist verschlossen gegenueber Geldlosen.
In einem offenen Markt gibt es Tauschmittel, das kann heutiges Geld nicht mehr leisten, denn es ist an den entscheidenden Stellen schlicht nicht vorhanden, gerade da, wo es für das alltägliche Handeln am dringlichsten ist ( öffentliche(unsere) Kassen leer, ein Drittel westlich-zivilisierter Menschheit in Armut). Handelsbeschränkungen und Einfuhr-Zölle geben Auskunft über die Freiheit der real-existierenden Märkte.

Wenn Beschäftigte auf die Idee kämen, ihre Firmen zu übernehmen, wäre dies -meine Sicht- ein wichtiger Schritt, psychologisch. Doch nichtmal Gewerkschaften scheinen daran interessiert und so lassen sich die Beschäftigten ihre Firmen vor der Nase zu machen. Da helfen nur Argentinische Zustände, auf die wir uns -meine Sicht- zu bewegen, wenn man keinen Krieg und Kampf der Kulturen veranstaltet. Wir brauchen sowas nicht!

Was bleibt, ist das Land, die Luft und Leute, reich an Wissen und Können. Ein "Marshall-Plan für die Welt" wird hie und da diskutiert, doch der Morgentau-Plan scheint wie vergessen.

(18) Es geht also nicht um einen bösen Willen, den finstere Mächte durchsetzen, sondern um die Befolgung der Regeln des Kapitalismus. Marx nannte die Rollen, die die Menschen in der sich selbst reproduzierenden Wertmaschinerie einnehmen, "Charaktermasken". {"Die ökonomische Charaktermaske des Kapitalisten hängt nur dadurch an einem Menschen fest, daß sein Geld fortwährend als Kapital funktioniert." (Marx 1976/1890, 591).} Der Kapitalist als "personifiziertes Kapital" exekutiert den immanenten Zwang zur Expansion und Niederringung der Konkurrenz wie der Arbeiter als "Lohnarbeiter" seine Arbeitszeit verkaufen muss, um zu existieren. Und selbst diese Grenzen sind heute fließend. Gibt es also keine Herrschenden, die man ob der Ungerechtigkeiten anklagen muss? Doch die gibt es, aber es ist nicht damit getan, Personen auszutauschen oder die "Macht" zu übernehmen. Solange die Grundstrukturen der kapitalistischen Geldmaschine unangetastet bleiben, ändert sich nichts. Die ökologische Marktwirtschaft ist ein Hirngespinst. Wir müssen das Programm, das Adam Smith 1759 formulierte, sehr ernst nehmen:

"Es macht uns Vergnügen, die Vervollkommnung eines so schönen und großartigen Systems zu betrachten und wir sind nicht ruhig, bis wir jedes Hindernis, das auch nur im mindesten die Regelmäßigkeit seiner Bewegungen stören oder hemmen kann, beseitigt haben." (Smith 1977/1759, zitiert nach Kurz 1999).

(19) Die Rolle der Herrschenden ist es, das Laufen der "schönen und großartigen" Wertmaschine ungestört aufrecht zu erhalten. Jeder Gedanke an eine Alternative zur Geldmaschine soll als irreal diskreditiert werden - wenn schon "Alternative", dann nur innerhalb der "schönen Maschine" (Kurz 1999). {Dieser Selbstlauf - quasi als kybernetische Maschine - kennzeichnet die "Naturgesetzlichkeit" des Kapitalismus. Sie begründet aber keine Notwendigkeit des Kapitalismus.} Hier hat die EXPO ihre Funktion. Sie soll uns die "Schönheit" und "Großartigkeit" des Systems demonstrieren und Alternativen innerhalb des System vorgaukeln. Inzwischen lassen sich selbst frühere KritikerInnen weltweiter Ausbeutungsstrukturen in die Rechtfertigungsveranstaltung EXPO einbinden. Sie tragen mit dazu bei, das System der Marktwirtschaft als System der Herrschaft der Märkte über die Menschen zu naturalisieren. Als Beispiel mag der tschechische Präsident Vaclav Havel dienen:

"Sosehr auch mein Herz schon immer links von der Mitte meiner Brust schlug, habe ich immer gewußt, daß die einzig funktionierende und überhaupt mögliche Ökonomie die Marktwirtschaft ist. (. . .) Die Marktwirtschaft ist für mich etwas so selbstverständliches wie die Luft: geht es doch um ein jahrhundertelang (was sage ich - jahrtausendelang!) erprobtes und bewährtes Prinzip der ökonomischen Tätigkeit des Menschen, das am besten der menschlichen Natur entspricht." (Havel 1992, 59ff).

(20) Fazinierend ist die Dreistigkeit, mit der die Marktwirtschaft nicht nur der menschlichen Natur, sondern auch noch der gesamten Menschheitsgeschichte zugeschlagen wird. Oder es ist bodenlose Unkenntnis der historischen Fakten, die klar zeigen, daß die abstrakte Selbstverwertung des Werts über Märkte mit brutaler Gewalt und Zwang, daß die "ursprüngliche Enteignung" gegen die subsistenzwirtschaftlichen {Subsistenz} Strukturen der agrarischen Gesellschaften durchgesetzt wurde. Es ist schlicht falsch, einen "Markt" zum Gütertausch mit dem geldgetriebenen Hamsterradsystem der Marktwirtschaft gleichzusetzen. Nicht überall, wo ein Markt zum Tausch von Gütern existiert, herrscht auch die "Marktwirtschaft"!

(21) Seit ihrem Beginn im Jahre 1851 in London sind Weltausstellungen technologische Demonstrationen kapitalistischer Macht, die EXPO 2000 macht hier keine Ausnahme. Die realen Probleme der Erde und ihrer Bewohner sind zwar nicht mehr verdrängbar - etwa so, wie man das zum Beispiel auf der jährlichen Internationalen Automobilausstellung noch wunderbar kann. Doch bei der EXPO wird auf die globalen Probleme schematisch mit zwei Antworten reagiert: Die globalen Probleme sind lösbar, wenn man dem Welthandel freien Lauf lässt, ihn "liberalisiert" und wenn die richtigen Technologien zum Einsatz kommen. Im Kern heißt das, der Kapitalismus reguliere schon alles selbst und bringe auch von selbst die richtigen Technologien zur Lösung der Menschheitsprobleme hervor. Hier von Zynismus zu sprechen, ist schon fast eine Untertreibung, war und ist es doch der Kapitalismus, der erst die Probleme in ihrer globalen Dimension produziert und systematisch die Lebensgrundlagen der Menschheit untergräbt. {Umwelt} Die "schöne Maschine", in der Nützlichkeit bestenfalls ein Abfallprodukt der stets erweiterten Wertverwertung ist, soll nun ganz von selbst die Lösung mit Technologie bringen, soll die Zerstörungen durch "alte" Technologien mit "neuen" wieder gerade biegen?

(22) Für die EXPO ein technisches Problem:

"Wir brauchen ein neues Verhältnis zur Umwelt und zum technischen Fortschritt, damit die globalen Probleme von heute gelöst werden können. Deshalb soll die EXPO 2000 Hannover ein Forum für innovative Lösungen und Lösungsansätze sein, mit denen überall auf der Welt ein tragfähiges Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie angestrebt werden soll." (EXPO 2000 Hannover GmbH).

(23) Verbal ist "Öko" in, Leitlinie ist die Agenda 21, das "Aktionsprogramm", das als Ergebnis der UN-Umweltkonferenz in Rio 1992 beschlossen wurde. Doch wenn man sich die Mühe macht und die voluminöse Agenda liest, dann stellt man fest: 90% Wortblasen ("Nachhaltigkeit", "Verantwortung", "Zukunft" etc.) und 10% Technologiefetischismus, Bevormundung, Ausgrenzung - wie an anderer Stelle in diesem Buch ausführlich dargestellt. Technik kann und darf dabei nur als Aggregat der "schönen Maschine" gedacht werden, um die Lösung der globalen Probleme geht es letztlich überhaupt nicht. Und "Nachhaltigkeit" bezieht sich einzig auf die "Nachhaltigkeit der Profitrealisierung". Es kann auch nicht anders sein, denn die selbstzweckhafte Wertverwertungsmaschine kennt keinen Zweck außerhalb der Vermehrung von Geld. Die vielen gutmeinenden Menschen und auch PolitikerInnen können einem fast leid tun, bleibt ihnen doch nichts weiter als die Hoffnung, daß bei der Wertverwertung auch etwas für die Menschen und die Natur abfallen möge. Doch die Blütezeit des Kapitalismus ist vorbei, der "Abfall" ist Abfall im wörtlichen Sinne, die Nützlichkeit der produzierten Dinge verschwindet nahezu völlig hinter den sozialen und ökologischen Verheerungen. Die vielen Probleme globaler Dimension verdichten sich zu dem globalen Problem überhaupt, und das ist der Kapitalismus selbst.

C. Selbstentfaltung statt Wertverwertung

(24) Doch gibt es überhaupt eine Alternative außerhalb der "schönen Maschine"? Wir haben bereits dargestellt, daß der nächste logische und praktische Schritt in der Produktivkraftentwicklung die Entfaltung des Menschen an-und-für-sich ist. Was heißt das aber für die Form der Vergesellschaftung?

(25) Die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen ist unter den Bedingungen der subjektlosen Selbstverwertung von Wert als Kern der "schönen Maschine" undenkbar. Selbstentfaltung bedeutet ja gerade, daß sich das Subjekt selbst entfaltet, und zwar jedes Subjekt und das unbegrenzt. Dennoch gibt es auch unter entfremdeten Bedingungen der abstrakten Arbeit neue Möglichkeiten, denn neben den Effekten der Entsolidarisierung gibt es gleichzeitig auch einen größeren Handlungsspielraum, ein Mehr an Entfaltungsmöglichkeiten und Verantwortung als zu alten Kommandozeiten. In der unmittelbaren Arbeitstätigkeit sind die Handlungsrahmen weiter gesteckt als vorher:

"Es gilt das Motto: 'Tut was ihr wollt, aber ihr müßt profitabel sein'" (Glißmann 1999, 151).

(26) Innerhalb dieses vergrößerten Handlungsrahmens kann ich in größerem Maße als früher meine individuellen Potenzen entfalten, weil ich selbst an meiner eigenen Entfaltung interessiert bin, weil es Spaß macht und meiner Persönlichkeit entspricht. Die Bedingungen, daß ich mich selbst als Haputproduktivkraft entfalte, sind im Vergleich zu meinen Eltern und Großeltern schon besser geworden, gleichwohl geschieht dieses Mehr an Entfaltung immer noch unter entfremdeten Bedingungen. Die Entfaltung ist nur möglich, solange ihre Ergebnisse verwertbar sind, solange ich bin. Sogar die Love-Parade wird damit zum profitablen Geschäft. In meiner Person spiegelt sich damit der unter unseren Bedingungen nicht auflösbare Widerspruch von Selbstentfaltung und Wertverwertung, von Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich und entfremdeter Produktivkraftentwicklung.

(27) Wie sieht die Aufhebung des Widerspruches von Selbstentfaltung und Verwertungszwang in Überschreitung unserer Bedingungen aus? Es geht um die Umkehrung des Satzes von Marx, wonach die "gesellschaftliche Bewegung" durch eine "Bewegung von Sachen" kontrolliert wird, "statt sie zu kontrollieren". Marx hätte das so sagen können:

"Die gesellschaftliche Bewegung wird von den Menschen bewußt bestimmt. Die Bewegung von Sachen wird von den Menschen kontrolliert und dient einzig dem Zweck, ein befriedigendes Leben zu gewinnen." (Marx, nie aufgeschrieben).

(28) Die Alternative zur abstrakten subjektlosen Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion durch den Wert (als Bewegung von Sachen) ist die konkrete Selbstorganisation durch die handelnden Menschen selbst - das ist so einfach wie logisch! Oder anders formuliert: Die abstrakte Vergesellschaftung über den Wert wird ersetzt durch eine konkrete Vergesellschaftung der handelnden Menschen selbst. Wir wollen daher auch diese zukünftige Form personal-konkrete Produktivkraftentwicklung nennen. Bedeutet das ein Zurück zu den alten Zeiten der "Natur-Epoche"? Nein, so wie die "Mittel-Epoche" die "Natur-Epoche" aufgehoben hat, so wird die Epoche der menschlichen Selbstentfaltung alle vorherigen Entwicklungen aufheben. "Aufheben" bedeutet dabei sowohl Ablösen als auch Bewahren und in einem völlig neuen Kontext fortführen. Es ist klar, das Menschen natürlich weiter Nahrungsmittel und industrielle Güter produzieren werden, doch es ist ebenso klar, daß sie dies nicht in der gleichen Weise wie bisher tun werden - weil die bisherige ignorante kapitalistische Produktionsweise die Reproduktionsgrundlagen der Menschheit systematisch zerstört, woran in einer freien Gesellschaft niemand ein Interesse hat.

(29) An dieser Stelle kommt oft der Einwand: "Das ist ja utopisch!" - eine verständliche Reaktion. Die herrschende abstrakte Vergesellschaftungsform über den Wert hat alle Lebensbereiche so weit durchdrungen, daß ein Leben außerhalb dessen schier undenkbar erscheint. Wer kann sich schon ein Leben ohne Geld, das über die Lebensmöglichkeiten von Menschen bestimmt, vorstellen? Ein Leben mit "einfach nehmen" statt "kaufen"? Es ist nicht einfach, das zu denken, darum versuchen wir das "Undenkbare" noch weiter zu skizzieren - in Kapitel 2.3. Hier geht es uns zunächst einmal darum, zu begründen, daß die Wertvergesellschaftung nicht das Ende der Geschichte darstellt, sondern daß eine personale Vergesellschaftung historisch-logisch die entfremdete Form aufheben kann.

(30) Die Tatsache, daß es eine abstrakte Instanz, den Wert, gibt, über den sich die gesellschaftlichen Beziehungen regulieren, hat auch eine positive Funktion: Sie entlastet die Gesellschaftsmitglieder, jeden Einzelnen individuell von der Notwendigkeit, "die ganze Gesellschaft" zu denken. Ich muss mich nur mit meinem unmittelbaren Umfeld beschäftigen, alles andere regelt sich schon. So paradox es klingt: Die personalisierende Denkweise ist unter entfremdeten Bedingungen naheliegend, denn einerseits besteht nicht die unmittelbare Notwendigkeit, andererseits auch kaum die Möglichkeit im gesellschaftlichen Maßstab individuell Einfluß zu nehmen. So wird alles nach dem Schema unmittelbar-personaler Beziehungen gedacht ("der Politiker ist schuld" etc.), obwohl sich die Gesellschaft gerade nicht primär über das Wollen von Personen, sondern über den abstrakten Mechanismus der maßlosen Wertvermehrung reguliert. Hieraus haben linke Bewegungen den Schluss gezogen, daß die Totalität des amoklaufenden Werts durch eine kontrollierte Totalität einer umfassenden gesellschaftlichen Planung abgelöst werden müsse. Wie bekannt, sind alle Versuche mit gesellschaftlicher Gesamtplanung gescheitert. Auch eine Weltregierung könnte dieses Problem nicht lösen. Diese praktische Erfahrung ist auch theoretisch nachvollziehbar, denn die kommunikativen Aufwände, die notwendig wären, um die individuellen und die gesellschaftlichen Bedürfnisse miteinander zu vermitteln, also die Vergesellschaftung praktisch zu leisten, sind schier unendlich hoch. Selbst Räte oder andere Gremien können das Problem der immer vorhandenen Interessenkonflikte nicht stellvertretend aufheben. Auch für den Einzelnen ist die Notwendigkeit, die eigenen Interessen mit unendlich vielen anderen Interessen zu vermitteln, eine völlige Überforderung.

(31) Eine neue Vergesellschaftungsform kann nur den gleichen individuell entlastenden Effekt haben, wie die sich selbst organisierende Wertmaschine - nur, daß sie ohne Wert funktioniert! Sie muß gesamtgesellschaftlich stabil und verläßlich funktionieren, ohne jedoch ignorant und gleichgültig über die Interessen von Menschen hinwegzugehen wie bei der abstrakten Vergesellschaftung über den Wert. Gesucht ist also ein sich selbstorganisierender "Mechanismus", der einerseits die Vergesellschaftung quasi "automatisch" konstituiert, andererseits aber die abstrakte Vergesellschaftung durch eine personal-konkrete Form ablöst. Das hört sich wie ein Widerspruch an, ist es aber nicht! Man muss sich nur von der Vorstellung verabschieden, die Gesellschaft müsse planvoll von irgendeiner Art zentraler Instanz gelenkt werden. Diese Vorstellung enthält immer das Konzept eines Innen-Außen: Die Planer - ob Räte, Behörde, Diktatoren - stehen gleichsam außerhalb der Gesellschaft und planen diese. Die Planer planen für uns, oder noch deutlicher: sie planen uns. Das geht aber ganz grundsätzlich nicht, denn kein Mensch ist planbar und vorhersehbar. Die Alternative zu stellvertretenden Planung kann nur die Selbstplanung der Gesellschaft sein.

(32) Eine Selbstplanung der Gesellschaft setzt strukturell eine Annäherung allgemeiner Interessen voraus. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Der Kapitalismus kennt überhaupt nur Partialinteressen, die jeweils nur gegen andere Partialinteressen durchsetzbar sind. Eine gelungene Vermittlung der Partialinteressen trägt dann den Namen "Demokratie" - das kann es aber nicht sein. Kann es aber eine Annäherung allgemeiner Interessen geben? Sind die individuellen Interessen und Wünsche nicht sehr verschieden, will nicht eigentlich jeder doch irgendwie etwas anderes? Ja, und das ist auch gut so! Unter unseren Bedingungen schließt diese Frage jedoch immer mit ein, diese "Wünsche", dieses "andere Wollen" muß auch gegen andere - ob individuell oder im Zusammenschluss mit anderen, die die gleichen Partialinteressen haben - durchgesetzt werden. Wir hatten aber vorher dargestellt, daß die Selbstentfaltung des Menschen nur funktioniert, wenn sich alle entfalten können und dies auch real tun. Unter Bedingungen der Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse an der Selbstentfaltung der anderen Menschen. Etwas vereinfacht gesprochen steht der Win-Loose-Situation im Kapitalismus eine Win-Win-Situation in der zukünftigen Gesellschaft gegenüber. {Das verbreitete Win-Win im neoliberalen Modejargon blendet aus, daß dem Win-Win ein verschwiegenes Loose-Loose auf der anderen Seite gegenübersteht.}

(33) Schön und gut, aber wie kommen denn nun die Brötchen auf den Tisch? Was ersetzt denn nun den Wert als selbstorganisierenden Mechanismus der Vergesellschaftung? Aber das ist es doch gerade: Die Selbstentfaltung des Menschen ersetzt diesen abstrakten Mechanismus durch eine personal-konkrete Vermittlung der Menschen! Selbstentfaltung bedeutet ja nicht Abschaffung der Arbeitsteilung. Ich beziehe mich weiterhin nicht auf die "gesamte" Gesellschaft, sondern weiterhin nur auf den Ausschnitt der Gesellschaft, der mir zugekehrt ist. Wie groß dieser Ausschnitt ist, entscheide ich je nach Lage. Entfalten sich die Menschen um mich herum fröhlich vor sich hin - und ich mittendrin -, dann besteht kein Grund, den gesellschaftlichen Ausschnitt zu vergrößern. Gibt es aber Einschränkungen meiner Selbstentfaltung, die nicht meinem unmittelbaren Handeln zugänglich sind, dann werde ich den Blick weiten, um die Ursachen der gemeinsamen Einschränkungen aus der Welt zu schaffen. Da mein Leben nicht mehr auf die Heranschaffung des Abstraktums "Geld" ausgerichtet ist, bekommen die Einschränkungen für mich eine völlig neue konkrete Bedeutung: Sie schmälern in direkter Weise meinen Lebensgenuss. Da diese Einschränkungen meiner Selbstentfaltung auch für alle anderen beschränkend sind, liegt es unmittelbar nahe, die Einschränkungen im gemeinsamen Interesse zu beseitigen. Im eigenen und gleichzeitig allgemeinen Interesse werden wir uns die personalen und konkreten Vermittlungsformen suchen, die notwendig sind, um Einschränkungen unseres Lebensgenusses aus der Welt zu schaffen. Allgemeiner formuliert: Jedes menschliche Bedürfnis findet auch seine Realisierung - und ist das Bedürfnis mein einzig alleiniges auf der Welt, dann realisiere ich es eben selbst. Da das aber bei den Brötchen auf dem Tisch nicht der Fall sein dürfte, wird es für das Problem "Brötchen auf dem Tisch" eine allgemeine Lösung geben.

(33.1) 04.09.2000, 17:15, Wolf Göhring: "... wird es fuer das problem 'broetchen auf den tisch' eine allgemeine loesung geben" Aber genau das ist das problem!!! Denn vor den broetchen ist die muehle, davor der maehdrescher, der acker, der pflug, der duenger, also der ganze maschinenbau, die chemie, das stahlkochen, das erdoel, die kohle, der koks, die pipelines, die schiffe, die haefen, die E-technik und das CO2, mit den elektronischen steuerungen in der backmaschine, auf dem trecker, in der prozesstechnik die ganze computerei, wo alleine ein pc etwa 16 tonnen bewegtes material hinter sich hat, usw. Nichts davon geht, ohne dass angefasst wird. Was wird uns menschen bewegen, dies alles zu tun, damit die broetchen auf den tisch kommen? (Mit der steinsichel, dem holzpflug und zwei flachen steinen zum zerreiben des kornes werden wir uns nicht mehr abfinden) Und wie wird sich jede/r einzelne in diesem geflecht positionieren koennen, damit auch er/sie zu broetchen kommt?

(33.1.1) Broetchen, 05.09.2000, 13:38, Stefan Meretz: "Was wird uns menschen bewegen, dies alles zu tun, damit die broetchen auf den tisch kommen?" Zwei Dinge: Das Bedürfnis nach Brötchen, und das Bedürfnis nach individueller Selbstentfaltung - jeweils bei verschiedenen Personen. Was sollte sie hindern, das auszuleben? In Deiner Frage klingt ein wenig die Annahme durch, das man im Grunde die Leute zur "Arbeit" zwingen muss. Unter Bedingungen des Zwanges zum Gelderwerb, der Verrichtung abstrakter Arbeit, um überleben zu dürfen, ist das auch sicher so. Hierzu scheint als Negation bloss das "Abhängen" denkbar zu sein. Unter unbeschränkt kooperativen Bedingungen, in der erweiterte Verfügungsmöglichkeiten nicht auf Kosten anderer gehen (der "Andere" bin immer auch "ich"), sondern die Entfaltung des Einzelnen die Voraussetzung für die Entfaltung aller ist, spricht alles dafür, auch komplex arbeitsteilige Prozesse kooperativ zu organisieren. Das ist eine Behauptung, mein reales Vorbild ist die Freie Softwarebewegung, die genau das in ihrem Bereich auch schafft - ohne Geld.

(33.1.2) Teilhabe, 05.09.2000, 15:08, Stefan Meretz: "Und wie wird sich jede/r einzelne in diesem geflecht positionieren koennen, damit auch er/sie zu broetchen kommt?" Das ist die Frage nach der verallgemeinerten Vorsorge und meiner Teilhabe, also die Frage danach, inwieweit ich mich darauf verlassen kann, dass diese Vorsorge allgemein und also auch für mich sichergestellt wird. Heute ist es das Geld, was meine individuelle Teilhabe regelt - es ist deswegen auch der universelle Fetisch. In einer freien Gesellschaft ist es die garantierte unbeschränkte individuelle Entfaltung. Das hört sich platt an, ist es aber nicht: Menschen sind so verschieden und entäußern ihre Individualität in unendlich verschiedener Form. Die Resultate dieser Entäußerungsformen (Backmaschine, Trecker, Prozesstechnik, Computerei...) sind kooperativ die sinnlich-nützlichen Produkte für unser Leben, sie gehen in die allgemeine Vorsorge ein - ohne Geld _und_ ohne Tausch. Dieser Prozess ist jedoch kein bloss zufälliger, sondern ein - idealiter globaler - kommunikativ vermittelter. Ich gehe individuell an den Ort und den Platz in der Gesellschaft, der eben für mich _und_ die Gesellschaft der genau richtige ist. Meine Vergesellschaftung ist eine unmittelbare.

(34) Mit der Selbstentfaltung des Menschen kann es eine andere, individuell entlastende Form der Vergesellschaftung geben. Wenn man sich per Fingerschnipp in die neue Gesellschaft versetzen könnte, ist diese Utopie schon fast vorstellbar. Aber wie kommt man dahin, wo doch die Menschen so durchdrungen sind von Verwertungszwang und Konkurrenzkampf? Das ist die Frage nach den Inhalten und Formen linker politischer Bewegungen heute. Das ist das Thema von Kapitel 2.3.

D. Zusammenfassung

(35) Wir haben die gesellschaftlichen Vermittlungsformen, innerhalb der sich die Produktivkraftentwicklung bewegt, dargestellt. Interessanterweise ergibt sich keine schematische "Höherentwicklung" der Formen der Vergesellschaftung, sondern eher eine "spiralförmige" Bewegung. In der "Natur-Epoche" fand die Produktivkraftentwicklung in personal-strukturierten, konkreten Vergesellschaftungsformen statt. Mit dem Übertritt in die "Mittel-Epoche" wurde die kleinliche bäuerlich-handwerkliche Enge zerschlagen und die Produktivkraftentwicklung in abstrakte, entfremdete Bahnen gelenkt. Das heißt nicht, daß es nicht noch bäuerlich-handwerkliche oder andere Produktionsformen gäbe. Jedoch führt die Maßlosigkeit der Kapital-Wert-Verwertung unausweichlich zur "Globalisierung". Die kapitalistische Marktwirtschaft entfaltet ihre totalitäre subjektlose Herrschaft bis in alle Winkel der Erde. Kern dieser Vergesellschaftungsform ist die Verwertung von Wert als Selbstzweck. Die eigenen inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems, der immanent nicht aufhebbare Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und Verwertungszwang, drängt auf die Ablösung der abstrakten Vergesellschaftungsform durch eine neue personal-konkrete Vergesellschaftungsform mit der individuellen Selbstenfaltung als Selbstzweck statt der abstrakten subjektlosen selbstzweckhaften Wertverwertung als ihrem Kern. Somit kann die personal-konkrete Produktivkraftentwicklung auf neuer Entwicklungsstufe die entfremdete Produktivkraftentwicklung aufheben, die ihrerseits das Ende der personal-konkreten Produktivkraftentwicklung agrarisch-handwerklicher Provenienz bedeutete. Diese allgemeinen Rahmenbestimmungen schließen keinerlei Aussagen über das Problem des Übergangs ein, also die Frage, wie denn das totalitäre und alle Reproduktionsgrundlagen der Menschheit untergrabende System der Marktwirtschaft abgelöst werden kann. Mit einigen am Ziel gemessenen Richtungsaussagen wollen wir uns im nächsten Kapitel noch näher befassen.

Fortsetzung

(36) Weiter geht es mit Kapitel 2.3: Freiheit ist die Freiheit aller Menschen.


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