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Gegenbilder, Kap. 3.2: Alle Menschen sind gleich ... manche sind gleicher?

Maintainer: Gruppe Gegenbilder, Version 1, 18.08.2000
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Für eine Welt individueller und gesellschaftlicher Gleichberechtigung

(1) Jeder Mensch ist anders! Die Unterschiede zwischen den Menschen sind völlig verschiedener Art. Sie sind äußerlich, oft spontan und wechselhaft, leben und handeln mit unterschiedlichem Wissen oder unterschiedlicher Erfahrung, Kraft, Ausdauer oder Neigung. Kein Mensch ist gleich, jeder hat seinen eigenen Standort auf der Welt mit seiner unverwechselbaren Perspektive. Alle Menschen sind aber gleichberechtigt, denn alle Menschen haben die Möglichkeit, in der Gesellschaft ein angenehmes Leben zu führen - grundsätzlich. Praktisch ist es aber nicht so. Praktisch gibt zwischen den Menschen Abstufungen, Herrschaftsverhältnisse und Machtgefälle. Sie beruhen auf realen Abhängigkeiten, unterschiedlichen Verfügungsmöglichkeiten über die eigenen Lebensbedingungen und nicht selten auf offenem Zwang (Gewalt, Unterdrückung, Angst usw.). Oft treten zu diesen äußeren Bedingungen noch verinnerlichte soziale Konstruktionen (Rollen etc.) hinzu. Diese haben sich als verinnerlichte Zwänge teilweise soweit verselbständigt, daß sie keines äußeren Zwanges mehr bedürfen, um zu wirken. Verinnerlichte Zwänge werden auch zwischen den Menschen weitergegeben, die damit die realen Herrschaftsverhältnisse im Alltag verfestigen und reproduzieren.

Äußere Zwänge

(2) Unterschiede zwischen Menschen können auf äußeren Zwängen, d.h. formalen, institutionalisierten Herrschaftsverhältnissen oder Handlungsmöglichkeiten beruhen. Wer mehr Geld hat, eine Waffe besitzt, nicht eingesperrt ist (um nur einige Beispiele zu nennen), hat definitiv mehr Handlungsmöglichkeiten als Menschen, auf die solches nicht zutrifft. Solche institutionalisierten Herrschaftsverhältnisse werden nicht vom Individuum selbst geschaffen, sondern sind Ergebnisse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Sie gelten mehr oder weniger universell, d.h. Reich- oder Bewaffnetsein führt überall zu den gleichen Machtvorteilen. {Diese Verhältnisse gelten im direkten Verhältnis - ob z.B. Bewaffnetsein für einen Widerstand allgemein von Vorteil ist, soll hier mit nicht beantwortet sein, sondern unterliegt einer Vielzahl komplexer Wirkungsmechanismen.}

(3) Die Unterschiede zwischen den Menschen werden in der Realität dadurch gesteigert, daß sich mehrere Vor- bzw. Nachteile vereinigen können. So verfügen viele reiche Menschen bzw. die Menschen in reichen Ländern nicht nur über Geld, sondern auch über Waffen, zumindest mehr und überlegene Waffen, über das Eigentum am Boden, die Kontrolle der Handelswege, Energieversorgung, Lebensmittelproduktion usw. Gleiches gilt auch im kleinen Maßstab - immer wieder haben einige Menschen Geld, Grundeigentum, die Verfügung über weitere Ressourcen, während anderen das verwehrt bleibt. Selbst in den reichen Industrienationen gibt es viele Menschen, denen grundlegend oder weitgehend alle Ressourcen und Möglichkeiten vorenthalten werden, z.B. Kinder, Obdachlose, Nicht mündige, viele Frauen, Behinderte, AusländerInnen und alle, die aufgrund sozialer Vorgaben nicht über die gleichen Möglichkeiten und den freien Zugang zu Ressourcen verfügen.

(3.1) 27.11.2002, 12:30, Ano Nym: schachsinn

Verinnerlichte Zwänge und Erwartungshaltungen

(4) Tradierte Vorstellungen von Wertigkeiten, immer wiederkehrende Erziehungsmuster zu gesellschaftlichen Rollen und Inhalte von Bildung sowie Medienbeeinflussung führen zu nicht willkürlichen, sondern typischen und sich immer wieder reproduzierenden Mustern. Für diese sozialen Konstruktionen gibt es sehr offensichtliche Beispiele. So beruht das Gefälle zwischen Männer und Frauen bei Lohnhöhen, bei der Präsenz in Führungspositionen oder beim Zugriff auf Geld, Eigentum usw. auf der immer wieder erneuerten sozialen Konstruktionen von Wertigkeitsunterschieden. Zur Rechtfertigung solcher sozial konstruierten Wertigkeitsunterschiede wird die Verschiedenheit von Menschen genutzt: seien es geschlechtliche, biologische, "ethnische" Unterschiede oder unterschiedliche Neigungen, Verhaltensweisen oder sonstige Merkmale, die sich zur Zuschreibung von "Eigenschaften" eignen. Diese realen Verschiedenheiten werden zu homogenen "Eigenschaften" von Gruppen von Menschen umgedeutet, um sie als Rechtfertigung zur diskriminierenden Behandlung dieser Gruppen zu verwenden. {Die Zugehörigkeit zu "Ethnien" ist bereits selbst konstruiert, da sie wie "Völker" oder "Rassen" willkürlich festgelegt werden.}

(5) Rollenbildung und Wertigkeiten zwischen Männern und Frauen entstehen nicht durch das biologische Geschlecht, sondern aufgrund der allgegenwärtigen, von (fast) allen Menschen ständig reproduzierten Bilder und Erwartungshaltungen gegenüber den anderen Menschen und sich selbst, z.B. in der elterlichen Erziehung und Beeinflussung, Schule, Arbeitswelt, Medien usw. "Mannsein" oder "Frausein" als gesell- schaftliche Rolle, als soziales Geschlecht} ist folglich eine Zuweisung der Person zu diesem Geschlecht durch gesellschaftliche Bedingungen. Dieser Prozeß reproduziert sich wegen der subjektiven Funktionalität, die diese Rollen für die Menschen im täglichen Überlebenskampf und für langfristige Perspektiven zumindest aktuell haben, ständig selbst, so daß die Rollen von Generation zu Generation weitervermittelt werden und in fast allen Lebensfeldern vorkommen. Dadurch wirken sie so, also wären sie ein Naturgesetz. Den betroffenen Menschen kommt ihre gesellschaftliche Rolle wie eine Bestimmung vor, der sie nicht entgehen können und die an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.

(6) Ähnlich wie diese soziale Konstruktion zwischen Männern und Frauen finden sich solche zwischen Alten und Jungen, sogenannten Behinderten und Nicht-Behinderten, In- und AusländerInnen, Menschen mit und ohne Ausbildung usw. Immer werden Wertigkeiten abgeleitet, die zu unterschiedlichen Möglichkeiten der eigenen Entfaltung und zu Herrschaftsverhältnissen führen.

(7) Die äußeren und verinnerlichten Herrschaftsverhältnisse, sozialen Rollenzuschreibungen und die wie ein unabwendbares Schicksal erscheinenden Beeinflussungen der individuellen Lebens- und Gesellschaftsentwürfe finden sich zwischen einzelnen Menschen, zwischen Gruppen und auch global z.B. zur Zeit zwischen Nationen oder Staatenbünden (wie der EU). Eine festgezurrte Rollenverteilung gibt es zwischen einzelnen Menschen ebenso wie zwischen Regionen, Stadt und Land, armen und reichen Ländern. Die inneren Zwänge werden dabei oft durch biologistische Setzungen pseudowissenschaftlich gerechtfertigt. Sei es die "natürliche Neigung der Mutter zum Kind" oder die "gefühls-/körperbetonten Schwarzen" - auch in der neuesten Zeit kursieren viele solcher Behauptungen, bei denen immer aus biologischen Tatsachen oder Behauptungen Ableitungen auf gesellschaftliche Rollen und Wertigkeiten erfolgen. Biologische Unterschiede zwischen Menschen sind vorhanden, aber nicht geeignet, daraus soziale Rollen zu erklären. Dennoch geschieht es, wobei die biologischen Unterschiede als Hilfsargument dienen, die Herrschaftsinteressen und kapitalistische Verwertungslogik zu verschleiern. Menschen lassen sich durch die Macht- und Profitorientierung sowie ihr eigenes Bemühen, durch Zuordnung zu vorgegebenen und erwarteten Lebensläufen ihr eigenes Leben scheinbar besser gestalten zu können, bestimmten Rollen zuordnen. Die biologischen Begründungen dienen der Verschleierung dieser tatsächlichen Interessen.

A. Kritik an der Expo 2000

(8) Das Weltbild der Expo basiert vor allem auf verinnerlichten Herrschaftsverhältnissen, d.h. den vorgegebenen, erwarteten und auch immer wieder reproduzierten, d.h. unter dem Erwartungsdruck oft selbst gewählten Rollenverteilungen zwischen Reichen und Armen, Männern und Frauen usw. Ebenso werden auch formalisierte, d.h. dauerhaft bestehende Machtstrukturen beworben (z.B. Konzepte der inneren Sicherheit, der Überwachungstechnik, moderner Polizeistrategien usw.).

(9) High-Tech als Herrschaftsmittel: Im Zukunftsbild des Themenparkes dominiert die moderne Herrschaftsform der eingeschränkten Verfügungsgewalt über High-Tech, d.h. der Forderung, weltweit bestimmte Technologien einzusetzen, obwohl nur wenige über diese Technik verfügen und so über das Monopol Machtinteressen durchsetzen können. Die zukünftige Welt wird technisch organisiert, aber nur wenige Konzerne und Nationen verfügen über die gezeigte Technik. Dadurch bestehen unterschiedliche Möglichkeiten der Selbstentfaltung sowie Abhängigkeitsverhältnisse.

(9.1) 27.11.2002, 12:30, Ano Nym: schachsinn

(10) Mittelpunkt der Welt: Deutschland als einzige Nation, die EU als einziger Staatenbund sowie der christliche Pavillon als einzige Religionsstätte stehen in der Mitte des Expo-Geländes (Plaza). Das symbolisiert eine Höherwertigkeit und eine zentrale Rolle. Dieses wird auch in entsprechenden Aussagen der Veranstalter immer wieder deutlich.

(11) Dominanz eines leistungsfähigen, anpassungsbereiten Menschentypus (klassisches Männerbild in den Industrienationen): "Die Präsentation fordert den Besucher auf, beweglich und anpassungsfähig zu bleiben". {Ziele der Konzerne auf der Expo, insbesondere im Deutschen Pavillon, Quelle: www.expo2000-bg.de}

(12) Menschen als Zuschauende: "Umweltschutz wird zum Erlebnis" heißt die Öko-Selbstdarstellungsbroschüre der Expo 2000. Die Zukunft erleben - so oder ähnlich lauten die Slogans. Nicht gestalten, sondern zuschauen und bewundern. Diese Rollenvergabe für die große Mehrheit der Menschen wird begründet damit, daß diese Zukunft aus einer sich selbst tragenden Dynamik entsteht. Damit aber wird nur verklärt, daß ein kleiner Teil von wirtschaftlichen Eliten und Regierungen reicher Nationen die wesentliche Einflußgröße sein wollen und dafür auch werben. Dadurch entsteht mehr oder weniger deutlich eine Einteilung in gestaltende und den Verwertungsregeln unterworfene Menschen, ohne dass die Grenzziehung exakt und undurchlässig ist. Jedoch wird es eine große Mehrheit von Menschen geben, die keine realistische Chance hat, jemals mehr gestalten zu können als ihren engsten Privatbereich (und auch das oft nur innerhalb engster Spielräume). {"Wie ein Naturgesetz" soll die Zukunft nach den Worten des Siemens-Expo-Beauftragten Schusser kommen (4. Projekt..., (1998)}

(13) Jugendliche als Unterhaltungsobjekt: Degradiert zu KonsumentInnen auf allen Ebenen (materieller Konsum, Bildung, Unterhaltung usw.) sind vor allem Jugendliche. Die Expo präsentiert sich als umfassend in der fremdbestimmten Tagesgestaltung vor allem mittels cyberspaciger Unterhaltungstechnik.

(14) Menschen im Trikont als ProblemverursacherInnen, Konzerne und Industrienationen als Retter: Die Expo führt eine menschenverachtende Bevölkerungsdiskussion. Die Menschen in ärmeren Ländern, vor allem dort die Mehrheit der nicht in offiziellen gesicherten Strukturen lebenden Menschen, werden als unterentwickelt und ungebildet dargestellt. Ihnen wird die Hauptschuld an Diskriminierung, Umweltzerstörung, Hunger und Vertreibung zugeschoben. Das Bevölkerungswachstum wird als bedrohliche "Explosion" und jedes Land mit steigender Bevölkerungszahl als Problem beschrieben, während die Industrienationen trotz ihrer überwiegend viel höheren Bevölkerungsdichte nicht nur als Problemverursacher verdrängt, sondern sogar kraft ihrer hungerbesiegenden Technik als Retter beschrieben werden. Somit erfolgt auch hier eine Einteilung der Menschen nach ihrem Wert. Verschärft trifft das Frauen im Trikont, die als Gebärende und damit Schuldige betrachtet werden. {Trikont = arme Länder der Kontinente Asien, Afrika und Südamerika.}

(15) Alternativlosigkeit zu den bestehenden sozialen Verhältnissen: Die sozialen Rollen von Menschen, die Notwendigkeit der Verwertung der eigenen Arbeits- und Denkkraft im kapitalistischen Markt, die Verteilung von Produktionsprozessen über soziale Gruppen und verschiedene Regionen der Welt - all das wird als unumgänglich dargestellt. Dabei reproduziert das Verwertungssystem sich selbst, weil die kapitalistische Gesellschaftsordnung alle Menschen, die sich ihrer Logik unterwerfen, belohnt. Konsum, materielle Absicherung, Teilnahme am kulturellen Leben und an der Mobilität usw. werden weitgehend garantiert. Daraus folgt eine globale Funktionalität für das Kapital, denn die Menschen wählen individuell eine Lebensform, die insgesamt wiederum dem Profit dient. Die einzelnen Menschen wählen sie aus ihrer individuellen Sicht, so daß die Entscheidung für sie subjektiv funktional, also Vorteile bringt bei dem, was sie wollen: Überleben, gut leben, reich werden, Ruhm und Ehre oder anderes.
Gleichzeitig legt die allgemeine mediale Beeinflußung nahe, daß die Ziele nicht auf eine andere Art als dem Mitmachen in den gegebenen Verhältnissen erreicht werden können. Das Schüren von Angst vor dem Verlust von Familienstatus, Arbeitsplatz u. ä. gehört zu den wichtigsten Voraussetzung für das Funktionieren kapitalistischer Gesellschaft aufgrund der Selbstunterwerfung der einzelnen Menschen unter die scheinbaren Notwendigkeiten - und deren Weitergabe an andere Menschen, z.B. die eigenen Kinder.

B. Visionen

(16) Eine Gesellschaft freier Menschen in freien Vereinbarungen muß alle Herrschaftsverhältnisse abbauen - die äußeren und die verinnerlichten. Während erstere in einem Prozeß der Widerständigkeit und des Aufbaus herrschaftsfreier Räume zurückgedrängt bis ganz beendet werden können, vollzieht sich der Abbau verinnerlichter Herrschaftsverhältnisse nur über eine offensive Dekonstruktion der totalen Vereinnahmung von Menschen für die Funktionalität und Alternativlosigkeit ihrer Rollen im Verwertungsprozeß, u.a. in der Erziehung, Ausbildung, in den Medien und in anderen Prozessen der Beeinflussung von Menschen in ihrem sozialen Umfeld.

(17) Widerstand gegen institutionalisierte Herrschaftsstrukturen und Befreiung aus den verinnerlichten Zwängen und Erwartungshalten - beides ist wichtig, aber insbesondere die Dekonstruktion der verinnerlichten Herrschaftsverhältnisse setzt einen andauernden kämpferischen Prozeß voraus, nicht eine einmalige Handlung im Sinne klassischer Revolutionen.

(18) Die Welt der Gleichen unter Gleichen bedeutet keine Einheitlichkeit. Ganz im Gegenteil: Wo alle Menschen gleiche und maximale Möglichkeiten der Entfaltung haben, wird die Unterschiedlichkeit zunehmen und wird Individualität zur Quelle von Selbstentfaltung. Die Menschen untereinander, aber auch sich zusammenfindende Gruppen werden sehr unterschiedliche Lebensstile finden, diese lange beibehalten oder ständig wechseln. Die freie Entfaltung von Menschen setzt voraus, daß die Menschen frei sind, d.h. sie ihr Leben nicht ständig nach Zwängen orientieren müssen, seien es Zwänge durch äußere und verinnerlichte Herrschaftsstrukturen oder den Zwang, auf bestimmte Art und Weise die eigene Existenzsicherung zu betreiben (wie derzeit durch die fast alternativlose Verwertung im Arbeitsmarkt). Die Facetten einer solchen Gesellschaft gleicher Menschen sind daher vielfältig, müssen aber unter anderem beinhalten:

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(27) Freie Menschen in freien Vereinbarungen - das "Frei"sein entspringt der vollständigen Dekonstruktionen aller Herrschaftsverhältnisse sowie aller sozialen und formalen Setzungen, die Unterschiede zwischen den Menschen konstruieren. Die Menschen werden nicht gleich sein im Sinne des konkreten Lebensentwurfes. Aber sie können alle gleichermaßen frei entscheiden, welchen Weg sie beschreiten - eben in freien Vereinbarungen, die nur dann frei sind, wenn keine Zwänge herrschen. Heutige Verträge sind in diesem Sinne eben nicht frei, weil die Menschen zwar bei manchen Verträgen im speziellen Fall Nein oder Ja sagen können, aber durch die bestehenden Zwänge die Entscheidungsspielräume eingeengt sind (z.B. bei Arbeitsverträgen, Ausbildung, Ehe, wo wirtschaftlicher oder sozialer Druck zu bestimmten, normierten Verhaltensweisen drängt).

C. Konzepte

(28) Die Vision der gleichen Menschen in freien Vereinbarungen erscheint angesichts der bis ins kleinste Detail gesellschaftlicher Organisation gehenden Formalhierarchien und der überall stark verinnerlichten Rollenbilder weit weg von der Realität. Der Abbau von Diskriminierungen und Ungleichheiten wird aber, wie schon formuliert, angesichts der Tiefe seiner Verwurzelung in den Strukturen und Denkmustern nicht in einem einzelnen revolutionären Akt gelingen, sondern muß in einem kämpferischen Prozeß erschritten werden. In diesem sind viele Einzel- und Zwischenschritte, Aktionsformen und Projekte vorstellbar.

(29) Existenzsicherung: Die Befreiung des Menschen aus den institutionalisierten und verinnerlichten Herrschaftsverhältnissen, Rollenerwartungen und sozialen Wertzuweisungen setzt voraus, daß die Menschen frei entscheiden können. Sie benötigen eine Absicherung für ihre eigene Existenz, sonst stände die Existenzangst und die subjektive Funktionalität, durch Anpassung an die realen gesellschaftlichen Verhältnisse in diesen auch überleben zu können, einer freien Entscheidung im Weg.

(30) In den Verhältnissen hochindustrialisierter Länder sind Sicherungen vor allem über Geld zu erreichen. Daher ist das Existenzgeld im Sinne einer sicheren Existenzgrundlage unabhängig vom Verhalten des Menschen ein Schritt in diese Richtung. Allerdings basiert Existenzgeld auf einer Geldorientierung, die gesellschaftlich vorgegeben ist, und festigt diese damit. Daher ist es nur als Zwischenschritt zu begreifen hin zu Weiterentwicklungen, die die Absicherung von Menschen aus der Logik von Markt und Geld herausholt. Erst dann kann eine erweiterte freie Entscheidung über den eigenen Lebensentwurf erfolgen. Solche geldentkoppelten Absicherungen können über ein Eigentumsrecht am für eine Subsistenz im Nahrungsmittelbereich notwendigen Boden, aber auch über gesellschaftliche Strukturen, in denen alle Menschen am frei geschaffenen Reichtum von Ideen, Technik, Lebensmitteln usw. teilhaben können, entstehen.

(31) Kooperativen gleichberechtigter Menschen und ihrer Gemeinschaften: Die Gesetze von Marktwirtschaft und sozialen Rollen können in Zwischenschritten zu einer umfassenden Veränderung in kleineren Bereichen zurückgedrängt oder gar aufgehoben werden. Wichtig ist, daß sich Menschen kooperativ und gleichberechtigt begegnen. Dieses setzt ein kämpferisches Verhältnis zu den sozialen Vorgaben und den bestehenden Herrschaftsstrukturen voraus. Widerstand gegenüber den äußeren Einflüssen und den verinnerlichten Erwartungshaltungen kann herrschaftsärmere Räume schaffen, in denen dann Experimente für gleichberechtige gesellschaftliche Verhältnisse ablaufen können.

(32) Gleichberechtigung üben: Ein wichtiges Übungsfeld sind die Gruppen selbst, in denen sich Menschen für emanzipatorische Visionen oder Teilthemen engagieren. Diskussionsabläufe, Rollenverteilung in den Gruppen und Organisationen, Entscheidungsprozesse und vieles mehr sind wichtige Praxisfelder. Für sie müssen Konzepte entwickelt und ausgetauscht werden. Gleichberechtigtes Miteinander ist an jedem Ort der Gesellschaft ein wichtiges Ziel - jede reale Gruppe ist damit als Teil der Gesellschaft ein mögliches Umsetzungsfeld.

(33) Die zur Zeit meist angewendeten Methoden des Dominanzabbaus in Gruppenprozessen, z.B. Supervision, verregeltes Redeverhalten und Moderation, sind ungeeignet, das Ziel von Gleichberechtigung zu erreichen. Statt eines Dominanzabbaus werden formalisierte Dominanzverschiebungen z.B. hin zu den moderierenden Personen vorgenommen. Oftmals entstehen dadurch versteckte Hierarchien, weil ModeratorInnen nicht mehr in demokratischen Prozessen bestimmt werden, sondern unklar ist, ob bzw. wem gegenüber sie in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis stehen (AuftraggeberIn, AnsprechpartnerInnen für Rückklärungen usw.). Gleichberechtigung im Sinne einer Dekonstruktion formaler und verinnerlichter Dominanzverhältnisse ist nur in einem offensiven und offenen, von allen getragenen Prozeß machbar. Ohne Verantwortung an dafür bestimmte Personen zu übertragen, müssen alle Menschen in einem Gruppenzusammenhang die Idee des gleichberechtigten Miteinanders tragen und umsetzen - als Anspruch an sich selbst und als Gesamtprozeß in gegenseitiger Mitteilung und Kontrolle. Die Menschen sind immer die AkteurInnen. Sie sind gleichberechtigt auch und gerade bei der Durchsetzung gleichberechtigter Verhältnisse.

(34) Diskriminierung entgegentreten: Diskriminierungen sind zur Zeit Alltag - Abwertungen und Ausgrenzungen nach Geschlecht oder sexueller Orientierung, nach körperlicher Fitneß oder Ausbildungsgrad, nach Alter oder Herkunft. Nicht Gesetze oder Verregelungen werden Diskriminierungen beseitigen, sondern die unmittelbare Intervention der Einzelnen. Darum muss gerungen werden. Notwendig sind Diskussionen und Entschlüsse in bestehenden Zusammenhängen und das Herausholen des Widerstands gegen Diskriminierungen aus der Theoriedebatte oder der verregelnden Strukturdiskussion, um ihn an das direkte Handeln der Menschen als Einzelpersonen zu übergeben. {Auch Plena oder Schiedsgremien sind nichts als Stellvertreter, auf die die Verantwortung der Einzelnen abgeschoben wird. Unmittelbares Handeln wird durch zentrale Prozesse blockiert.} Es wäre falsch, Menschen in formalisierten Verfahren schuldig sprechen zu wollen, wenn sie bewußt oder als Folge ihrer bisherigen Erfahrungen Unterdrückung oder Diskriminierung reproduzieren. Wichtiger ist, direkt zu intervenieren, die Vorgänge offenzulegen, zu klären, sich die emanzipatorischen Ziele zu verdeutlichen und dann fortzufahren auf dem gemeinsamen Weg, sich durch direktes Intervenieren gegenseitig voranzubringen. Die Diskussionen um konkrete Personen und deren Ausgrenzung müssen beendet werden und die Diskussionen um die Möglichkeiten direkter Intervention müssen beginnen. Die Menschen werden in ihrer Entwicklung die GestalterInnen emanzipatorischer Verhältnisse sein, nicht Gruppendruck und Verregelung. Unmittelbares Verhalten verändert die Gegenwart. Den übergeordneten Strukturen die Verantwortung für solch zentrale Fragen wie den Abbau von Diskriminierungen zu überlassen, zeigt nur einen überkommenen Glauben in die Weisheit der Mächtigen oder den Unwillen zum eigenen Handeln.

D. Experimente

(35) Gesellschaft stückweise erobern: Experimente können als Teil realer Verhältnisse entstehen oder dort eingebracht werden. Jeder Betrieb, jede Regierung, jedes Gremium oder jeder Politikbereich kann geeignet sein, in den internen Strukturen sowie im eigenen Zuständigkeitsbereich die Rahmenbedingungen hin zu einem gleichberechtigten Miteinander aller Menschen soweit zu verschieben, wie das innerhalb der Rahmenbindungen möglich ist. Dabei darf nicht übersehen werden, daß es hierbei um eine Gleichberechtigung "von oben" geht und die Machtverhältnisse nicht aufgehoben werden. Es ist nicht einmal Verlaß darauf, daß die weiter bestehenden Machtverhältnisse bei neuen Entscheidungen, Wahlen oder Druck von außen das Experiment beenden können. Das ist transparent zu machen. Beispiele für solche Experimente sind:

(36) Internationale Pertnerschaften: Solidarische Beziehungen zwischen konkreten Gruppen und Projekten können einen weltweiten Austausch auf gleichberechtigter Ebene schaffen. Wichtig ist, daß alle beteiligten PartnerInnen immer die Alternative haben, ohne Aufgabe ihrer Existenzfähigkeit die Beziehung zu beenden. Sonst bestände ein Zwang und damit eine Abhängigkeit des einen von dem/n anderen. Die tatsächlichen Formen der Partnerschaft, z.B. eines Handels mit Produkten, müssen frei und gleichberechtigt ausgehandelt werden, d.h. sie dürfen nicht auf einfachen markttypischen Mechanismen wie Angebot und Nachfrage bestehen. {Beispiel: Wenn Menschen in ärmeren Ländern gegen ihre eigene religiöse Identität Weihnachtsengel für deutsche Eine-Welt-Läden schnitzen, weil nur die da gut zu verkaufen sind, zeigt sich ein Dominanzverhältnis.} Solches würde sich nur die bestehenden Ungleichheiten verstärken, indem sogar in alternativ scheinende Strukturen eine Dominanz reicher Industriegesellschaften hineinstrahlt.

(37) Gruppenprozesse: Jede existierende Gruppe kann der Ort sein, an dem gleichberechtigtes Handeln zwischen den Menschen geübt und auch weiterentwickelt wird. Das gilt auch für Vernetzungsstrukturen, d.h. das Miteinander von Gruppen in Bündnissen, Netzwerken usw. Dominanzen, zentrale Gremien oder formale Hierarchien müssen überwunden werden durch eine "horizontale Vernetzung", d.h. das Nebeneinander gleichberechtigter Teile des Ganzen.

(38) Planspiele: Zeitlich begrenzte Planspiele können den Prozeß zu einer gleichberechtigten Gesellschaft ein Stück weit üben und ebnen. Dabei kommt es darauf an, Planspiele über ihren rein spielerischen Charakter hinaus zu führen und reale Situationen zu erfassen. So können z.B. Gemeinden für eine bestimmte Zeit so verändert werden, daß die bisherigen Entscheidungsinstanzen aufgelöst sind und die Menschen sich frei organisieren. An Schulen, in Betrieben usw. können formale Hierarchien abgeschafft werden, um die Idee der freien Vereinbarung zu "erproben". Die Akzeptanz solcher Planspiele und Versuche kann steigen, wenn sie zunächst zeitlich begrenzt sind oder auch bestimmte grundlegende Entscheidungen nicht gefaßt werden können (z.B. Auflösung des Betriebes oder der Gemeinde). Letzteres ist jedoch gefährlich, weil jede Festlegung dieser Art das Planspiel zu einer Pseudobeteiligung reduzieren kann und dann eher dazu führt, daß reale Verhältnisse verschleiert und dadurch noch stärker als unabänderlich begriffen werden.

(39) Forschung und Analyse: Gesellschaft ist unterschiedlich. Das bietet Möglichkeiten, bereits bestehende Organisationsstrukturen, Gemeinschaften usw. zu untersuchen und zu vergleichen. Um Gleichberechtigung zu erreichen, bedarf es kritischer Reflexion und der Experimente als Weg, neue Ideen zu entwickeln und den Gesamtschatz an Möglichkeiten zu erweitern. Je mehr Auswahlmöglichkeiten Menschen haben, angefangen z.B. von technischen Lösungen bis zu Methoden der Entscheidungsfindung, desto bewußter und freier können sie sich entscheiden.

Fortsetzung

(40) Weiter geht es mit Kapitel 3.3: Mensch - Natur.


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