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Wikipedia in der Krise

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 01.04.2006
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Freie Produktionsweise in einer unfreien Welt

(1) Mittlerweile ist die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia interessierten Menschen ein Begriff. Mit dazu beigetragen hat eine Kette von »Rückschlägen«, über die genüsslich bis hämisch in der Presse berichtet wurde. Auch un/kritische KritikerInnen fühlen sich bestätigt, kann doch in ihrem Weltbild unter der Sonne des Kapitals nichts über das Kapital Hinausweisendes gedeihen. Was ist geschehen?

(1.1) Krise?, 05.04.2006, 16:24, Thomas Uwe Grüttmüller: Also, ne Krise seh ich darin nicht...

(2) Fall 1: Im November 2005 wurde entdeckt, dass seit fast zwei Jahren anonym Artikel aus DDR-Lexika bei Wikipedia eingestellt wurden. Während außerhalb des Projekts der Schaden in einer ML-Unterwanderung vermutet - wenn auch nicht belegt - wurde, sah das Projekt die Kopien als Problem der Urheberrechtsverletzung (Abkürzung: URV). Normalerweise werden URV-Fälle schnell entdeckt, weil zum Wikipedia-Software-Universum auch spezialisierte Tools gehören, die das Web regelmäßig nach potenziellen URV durch Wikipedia-Artikel absuchen. Im Falle der DDR-Lexika gab es jedoch keine Referenzen im Web, da mit dem Staat auch die Lexika verschwanden oder bestenfalls im Antiquariat landeten.

(2.1) 01.04.2006, 13:10, Benni Bärmann: Interessant sind nicht nur diese Fälle, sondern auch, wie damit umgegangen wird. Sicher ist Deine Kolumne zu kurz um das mit aufzunehmen, aber darin zeigen sich ja erst Stärken und Schwächen des Experiments. Im DDR-URV-Fall scheint die Community das durch eine große gemeinsame und organisierte Anstrengung ( http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:DDR-URV ), scheint das in diesem Fall zu gelingen. Im ähnlich gelagerten Fall des Ablegers der französischsprachigen Wikiquotes scheint das nicht gelungen zu sein. Das Projekt wurde jetzt geschlossen und muß von vorne anfangen. Vor allem wohl, weil die dazugehörige Community sehr klein war oder sogar fast nicht existent.

(2.1.1) 04.04.2006, 17:58, jan de schaliedekker: ich finde es schon sehr seltsam, wenn hier urheberrechte scheinbar verteidigt werden. besonders wenn es sich um welche von längst abgewickelten staaten handelt. lasst die informationen doch frei kreisen - aneignen - verwandeln - anders verwenden...

(2.1.1.1) Irrtum!, 05.04.2006, 13:57, Thomas Uwe Grüttmüller: Das Urheberrecht an den Werken aus der DDR ist mit der Annexion dieses Staates nicht etwa erloschen, sondern wurde lediglich durch das durch Gesetze der BRD implementierte ersetzt. Desweiteren ist der Rechteinhaber nicht die DDR gewesen, sondern irgendwelche Privatpersonen, die noch leben oder noch nicht 70 Jahre tot sind.

(2.1.1.2) 13.04.2006, 12:16, Benni Bärmann: Es geht nicht um die Verteidigung des Urheberrechts, sondern um die Verteidigung der Wikipedia. Wenn man dort Urheberrechtsverstöße zulässt, macht das dass Projekt als Ganzes angreifbar.

(3) Fall 2: Ende November 2005 berichtete der bekannte US-Journalist John Seigenthaler in einer Kolumne für die Zeitung »USA Today« über den Wikipedia-Artikel zu seiner eigenen Person, in dem ihm eine Verwicklung in den Mord an US-Präsident Kennedy unterstellt wurde. Wie sich später herausstellte, wurde der Fake von einem Angestellten in Nashville fabriziert, um einen Kollegen zu beeindrucken - als »Scherz«. In der deutschsprachigen Ausgabe gab es einen ähnlichen Fall, bei dem fälschlicherweise der Tod des bekannten Informatikers Bertrand Meyer gemeldet wurde.

(3.1) 01.04.2006, 13:12, Benni Bärmann: Bei all dem sollte man immer bedenken: Zumindestens _diese_ Fehler sind nach den Skandälchen nicht mehr in der Wikipedia. In einem entsprechenden proprietären Projekt hingegen bleiben die Fehler meist erstmal viel länger drin.

(3.2) 04.04.2006, 18:02, jan de schaliedekker: fakes sind wunderbar und zeugen von phantasie. zudem verdeutlichen sie, daß es objektive wahrheiten nicht geben kann. sie zerlegen die geltungsansprüche durch das ad absurdum führen von nachrichten und informationen. so wird die wahrheitsgläubigkeit angegriffen. und kanäle zum selbstständigen nachdenken eröffnet.

(3.3) 14.04.2006, 00:51, Jörg Bergstedt: Nach meinen Erfahrungen wird massiv gesteuert und gefälscht. So versuche ich z.B. immer mal wieder, Links und kritische Fakten auf Seiten von Politikern unterzubringen: Chancenlos. In Sekunden ist das weg. Offenbar sind da hauptamtliche Stäbe automatisiert am frisieren. Umgekehrt wurde die Seite über mich zu einem unglaublichen Kampffeld von lauter Leuten, die mich nicht mögen. Ich selbst oder Menschen aus meinem Umfeld waren daran nicht beteiligt. Es ging um das systematische Verbreiten von Lügen. Ich finde den offenen Raum Wikipedia trotzdem richtig, aber die ungleichen Handlungsmöglichkeiten der Rest-Gesellschaft werden dadurch nicht aufgehoben. In gesteuerten Räumen wirken sie zudem MINDESTENS genauso stark.

(3.3.1) 14.04.2006, 11:45, Benni Bärmann: Sei doch froh, dass Du so einen Artikel hast ;-) Ich hab da jetzt aber nix direkt falsches gefunden (wobei ich sicherlich auch kein Jörg Bergstedt Experte bin). Was waren denn das für kritische Links in was für Politikerartikeln. Gib mal konkrete Beispiele. Hast Du einen Benutzer bei der Wikipedia?

(4) Fall 3: Ende Januar 2006 flog auf, dass Mitarbeiter des US-Kongresses ca. 1000 Einträge über Senatoren und Abgeordnete geschönt hatten. Im Falle des demokratischen Abgeordneten Matty Meehan wurden nicht eingehaltene Wahlversprechen gelöscht, was zur Sperrung des Rechners des Praktikanten führte, der eingestandenermaßen von seinem Chef zur »Korrektur« beauftragt wurde. »Vandalismus« nennt das die Wikipedia-Community.

(4.1) 01.04.2006, 13:12, Benni Bärmann: Zwischenzeitlich war wohl sogar der gesamte IP-Raum des US-Kongresses gesperrt.

(5) Hinzu kommt die kontinuierliche Auseinandersetzung um die Kernfrage des Projektes: Welcher Artikel kommt in welcher Form und mit welchen Informationen in die Enzyklopädie und welcher nicht? Ein Beispiel dafür ist die juristische Auseinandersetzung um die volle Namensnennung des Hackers »Tron«, die zeitweise zur Abschaltung von wikipedia.de führte (www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,399943,00.html). Formaler Rahmen sind dafür die »Richtlinien und Konventionen« des Projektes, in denen der »neutrale Standpunkt« und die »Einhaltung des Urheberrechts« eine zentrale Rolle spielen. Zitat: »Ziel des Enzyklopädieprojektes ist die Zusammenstellung bekannten Wissens.« Was aber ist das? So gehört ein Artikel zum Stichwort »Wertkritik« zum bekannten Wissen, während das Stichwort »Wertabspaltungsansatz« nur als Link, nicht aber als eigenständiger Artikel akzeptiert wurde.

(5.1) 01.04.2006, 13:32, Benni Bärmann: Die Löschdiskussion von "Wertabspaltungsansatz" findet sich hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:L%C3%B6schkandidaten/7._Juni_2005 Wenn jemand, der sich besser mit Wikipedia auskennt, den Artikel geschrieben und eingestellt hätte, wäre das IMHO anders ausgegangen. Ich würde sogar vermuten, dass der Artikel bei erneuter gut vorbereiteter Einstellung eine Chance hätte. Das war echt eine schlechte Leistung der Wikipedia. Schade, dass ich das damals nicht mitgekriegt habe, ich glaube da hätte man was machen können.

(5.2) 04.04.2006, 18:08, jan de schaliedekker: aber so ist das doch immer, wenn sich spezialisten zu zensoren aufschwingen, um darüber zu bestimmen was wertvolles WISSEN sei oder was nicht. wenn schon ein umfassendes lexicon dann muß da alles rein, oder so ein ding (auch wenn es nur virtuell ist) wird zu einem normenfestsetzungsmechanismus - eine gruppe aus einzelpersonen bestimmt was für alle das beste und wahre und richtige sei. und eliminiert alles was nicht ins konzept passt aufgrund fadenscheiniger gründe.

(6) Die Produktionsweise von Wikipedia ist neu, sie ist vergleichbar mit der Freier Software. In ihrem Kern ist sie nicht wertförmig und nicht demokratisch. Die »Fälle« zeigen die Konfrontation mit der Wert- und Rechtsform der ordinären Warengesellschaft, in der Wikipedia überleben muss - zur Zeit auf Spendenbasis und unter strikter Akzeptanz des Urheberrechts. Sie zeigen auch die vielfältigen Versuche zur Instrumentalisierung von Wikipedia für proprietäre Interessen. So weit, so auch aus der Freien Software bekannt.

(7) Die Fälle zeigen aber auch die Chancen alternativer Regulationsformen gesellschaftlicher Konflikte. Die linke Bewegung klebt an den Fetischformen von Staat und Demokratie. Und auch die Wertkritik hat, wenn sie denn einmal den Blick über den Tellerrand der Kritik schafft, nicht mehr zu bieten als »Räte«, irgendwie. Die Freie Software und Wikipedia hingegen probieren transdemokratische Formen der gesellschaftlichen Regulation praktisch aus. Hier werden Erfahrungen gemacht, die für eine Freie Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind.

(7.1) 02.04.2006, 15:03, Stefan Merten: Ich halte die Probleme, die bei der Wikipedia im Qualitätsicherungsbereich auftreten, für absolut essentiell. Theoretisch gesprochen sind sie eine Folge davon, dass der Gegenstand der Wikipedia eben auch jenseits einer bestimmten Gesellschaftsformation reichlich Entfremdung ermöglicht - "Wahrheit" lohnt sich immer zu verbiegen. Ich bin hochgespannt, wie die Wikipedia mit diesen Problemen umgehen wird und ich denke, dass wir aus der Lösung viel für eine Vision einer GPL-Gesellschaft lernen können.

(7.1.1) Wahrheit als mehr oder weniger valide und reliable These, 02.04.2006, 17:41, Peter Grunder: Ohne ganz allgemein einem Positivismus zu huldigen: Bezogen auf Wikipedia halte ich die Selbstreinigungskräfte à la longue für stark genug - eingedenk von kurzfristigem Unsinn, Unfug und Streit. Indes liegt bezüglich Validität und Reliabilität von Beiträgen vielleicht grundsätzlich etwas im Argen: Als ich in Wikinews damit beginnen wollte, meine journalistischen Arbeiten reinzustellen, die ich notabene für bedeutende Schweizer Printmedien verfasst hatte, scheiterte ich schon bei der ersten Arbeit, und Diskussionen fruchteten überhaupt nichts. #Freilich wohnt dem Erzählenden von Wikinews a priori ein subjektiver Standpunkt inne, der im wahrsten Sinne schwerer auf die Reihe zu bringen ist als das Erklärende von Wikipedia, wo die subjektiven Standpunkte früher oder später aufs Objekt fokussieren. Mithin sehe ich für Wikinews anhand der aktuellen Prozesse keine Zukunft, was ich sehr bedaure: Was wäre zu tun?

(7.2) 04.04.2006, 18:12, jan de schaliedekker: das will ich jetzt aber mal genauer verdeutlicht haben bitteschön...

(7.2.1) 05.04.2006, 11:32, Peter Grunder: Er will es "genauer verdeutlicht haben" - insofern mein Einwurf betroffen ist: schwierig, deutlicher und/oder genauer zu werden. Aber anders; vielleicht so: Ein Berg Neuigkeiten und ein Berg lexikalischer Einträge sind unterschiedlich aufgebaut. Ein zentraler Unterschied liegt in der Zeit: hier eher viel, dort eher wenig. Ein weiterer, der indes bereits abhängig ist vom ersten, liegt in der Dichte: hier mehr, dort weniger. Ganz plakativ: Journalistisches macht tendenziell eine Person, Lexikalisches machen tendenziell mehrere Personen, woraus sich auch und gerade die Schwierigkeit um Reliabilität und Validität ergibt. Deutlicher genug? Aber immer noch mangeln Methoden, insbesondere Wikinews wirksamer zu machen - wiederum ohne ganz allgemein einem Positivismus zu huldigen (memento Krisis, Stefan Meretz).

(8) Die Herausforderung, vor der emanzipatorische Bewegungen stehen, ist die Frage nach der nicht-wertförmigen Vergesellschaftung. Schon diese Formulierung »nicht-wertförmig« zeigt, dass wir es noch nicht schaffen, aus der einfachen Negation in eine doppelte Negation überzugehen. Dieser Übergang wird sich auch nicht denkend und theorieförmig vollziehen, sondern kann nur das Ergebnis bewusster Reflexion der »wirklichen Bewegung« (Marx über den Kommunismus) sein. Zur bewussten Reflexion, zur begrifflichen Widerspiegelung wirklicher Bewegung, die eine Kritik der praktischen Bewegung einschließt, ist jedoch eine offene, lernbereite und nicht-moralische Haltung Voraussetzung.

(9) Wer (zu Recht) beklagt, dass Wikipedia auch hochproblematische Artikel enthält (Kritik an Rassismus und Sexismus in Wikipedia: www.no-racism.net/article/1336/) und danach das Projekt als Ganzes bewertet, hat nicht verstanden, dass Wikipedia nur den durchschnittlichen Stand gesellschaftlicher Gedankenformen widerspiegeln kann - und nicht ein Wunschgebilde an emanzipatorischer Theorie. Wer Wikipedia derart beurteilt, der übersieht die wesentlichen und eigentlich interessanten Punkte: nämlich die Art und Weise, wie sich Wikipedia organisiert angesichts der Anforderung, ein globales Projekt in über 100 Sprachen zu betreiben. Diese Organisationsformen sind die Anfänge der Vergesellschaftungsformen jenseits von Markt und Staat. Sie wissen es nicht, aber sie tun es - einfach, weil die Fetischformen nicht mehr zur Regulation taugen. Dass dies kein »reiner« Prozess sein kann, liegt auf der Hand.

(9.1) 01.04.2006, 14:06, Benni Bärmann: Der von Dir verlinke Atrikel bewertet doch gerade nicht das Projekt als Ganzes. Ich verstehe den vor allem als Aufforderung zum Mitmachen (aber das steht da so direkt leider nicht). Umgekehrt hilft es ja nun auch nichts, nur zu betonen, dass Wikipedia (oder Freie Software oder ...) die Zukunft ist und dann über alle solche Dinge hinwegzusehen.

(9.2) 04.04.2006, 18:14, jan de schaliedekker: aber was genau ist denn ein durchschnitt?

(9.2.1) Durchschnitt, 09.04.2006, 23:08, Stefan Meretz: Ein "Durchschnitt" lässt sich weder genau, noch überhaupt von einem Außenstandpunkt festlegen. Der Durchschnitt ist eben das, was sich bei hinreichender und damit repräsentativer Beteiligung durchschnittlich gedacht wird und in gewisser Weise auch gedacht werden muss, damit diese Gesellschaft so funktioniert wie es tut.

(9.3) FR-Artikel, 14.04.2006, 11:48, Benni Bärmann: Ein Artikel in der FR zum Thema Rassismus im Netz und in Wikipedia in Bezug auf die Deutsche Kolonialgeschichte (Leider nur begrenzt online): http://www.frankfurter-rundschau.de/ressorts/kultur_und_medien/medien/?cnt=846573&sid=7f0cbcf55a69f19c73a9713c0d4b8385

(10) Die Linke hingegen ist im »Widerstandsmodus« befangen und versteht nicht, dass sich Widerstand an die Formen des Alten kettet und nicht von diesen abhebt: Zu widerstehen bedeutet »nur«, unter Bedingungen der zunehmenden Barbarisierung die eigenen Lebensbedürfnisse immanent zur Geltung zu bringen. Eine Widerstandsbewegung kann die Barbarisierung als Ausdruck der objektiven Krisenentfaltung der Warengesellschaft nur bremsen und partiell aufhalten, sie kann ihr aber noch nicht einmal denkend etwas Neues entgegensetzen. Denn das scheint mir klar: Das Neue ist nicht nur einfach das Nicht-Alte. Ein Neues wird sich nur durchsetzen, wenn es die Lebensbedürfnisse der Menschen besser als das Alte erfüllen kann. Danach ist zu suchen.

(10.1) 01.04.2006, 14:07, Benni Bärmann: Alles was wir tun, ist immer nur "immanent". Auch Denken hilft da nicht weiter.

(10.1.1) Immanenz, 09.04.2006, 22:59, Stefan Meretz: Dass alles "immanent" ist, ist tautologisch. Das Wort "immanent" habe ich im Zusammenhang mit dem Zur-Geltungbringen von Lebensbedürfnissen verwendet, also dem (absolut notwendigen) Widerstehen gegen Zumutungen. Ich setze dagegen keinen etwa "tranzendentalen" Außenstandpunkt eines imaginierten "Neuen", sondern ganz praktisch die Frage, womit ich mit beschäftige: mit dem Alten oder mit einem Neuen, dass keimförmig im Alten aufscheint. IMHO führt diese unterschiedliche Orientierung auch zu zwei unterschiedlichen "Verteidigungshaltungen": Leiste ich Widerstand, um das zerfallende Alte zu restaurieren, oder um es zu aufzuheben. Zur Aufhebung brauche ich eine Vorstellung eines Neuen, in der Restauration ist nur das Alte vorstellbar. Da hilft Denken schon weiter - immanent.

(10.1.1.1) Re: Immanenz, 13.04.2006, 12:15, Benni Bärmann: Ja, so macht es mehr Sinn. Das wird so in Deiner alten Formulierung zumindestens für mich nicht so ganz klar, wie es gemeint ist.

(10.2) Widerspruch/Ergänzung I., 12.04.2006, 23:10, Jörg Bergstedt: Einmal ist das „Gegen“ nicht prinzipiell dem Alten verhaftet, sondern es kommt auf den Blickwinkel und den gegenstand der Kritik an. So finde ich eine Kritik an strukturkonservativen Mechanismen oder etwas der aktuellen autoritären Zuspitzung in der Gesellschaft richtig, weil hier im „Gegen“ bereits das Neue gedacht wird, denn dort, wo das Alte systematisch Weiterentwicklung verhindert, ist das „Nicht-Alte“ bereits der Ansatz für das Neue. Beispiel: Wo Neuerungen verboten würden oder Kontrollen zur Verhinderung abweichender Handlungsformen eingeführt würden, ist die Kritik an den Verboten und Kontrollen ja die Kritik an Verhältnissen, die das „Neue“ be- oder gar verhindern. Daher ist „Gegen“ nicht unter allen Blickwinkeln“ nur das „Nicht-Alte“. Richtig ist Deine Kritik dort, wo das Alte beschimpft wird ohne jegliche Orientierung an neuen Ansätzen. Das ist auch aus meiner Sicht leider meistens der Fall, besonders schlimm in rückwärtsgewandter Mythologisierung des „guten Alten“ oder des krampfhaften Festhaltens an „Bewährtem“. Also als erste Bemerkung und Vorschlag einer Erweiterung Deiner Kritik: Selbst das „Nicht-Alte“ kann wichtig sein für das Neue, wenn es Restriktionen, die z.B. einen gesellschaftlichen Status Quo konservieren oder gar das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen, attackiert.

(10.2.1) Re: Widerspruch/Ergänzung I., 17.04.2006, 13:04, Stefan Meretz: Die Debatte müsste mehr um die Frage geführt werden, was denn ein "Neues" - das ist ja auch bei mir nur ein Hilfsbegriff - ausmacht. Das Konservieren eines gesellschaftlichen Status Quo (Stichwort: Erhaltung des Rest-Sozialstaates) ist bei vielen schon maximaler "linker" Denkhorizont. Das zu attackieren, ist mindestens zwiespältig: Einerseits berechtigt, andererseits wird aus dem Angriff mitnichten die Alternative zum paternalistischen Staatsversorgungsmodell sichtbar, weshalb ein bloßer Angriff einem Boden-unter-den-Füßen-wegziehen gleichkommt. Es ist doch einfach nicht so, dass sich das "Rad der Geschichte" voran dreht, und irgendwelche Deppen wollen das partout aufhalten oder "zurückdrehen". Dieses "Rad" existiert nicht. Das ist eine Metapher, auf die wir verzichten sollten, weil sie eine zwangsläufige historische Entwicklungsrichtung vom Niederen zum Höheren impliziert, die es nicht gibt. Deswegen sehe ich auch den Nutzen des "Nicht-Alten" für das "Neue" nicht. Das "Neue" muss explizit gesagt und gemacht werden - in Verbindung mit dem Widerstehen gegen die Barbarisierung im "Alten", d'accord.

(10.3) Widerspruch/Ergänzung II., 12.04.2006, 23:10, Jörg Bergstedt: Zum zweiten können Widerstand und Vision wunderbar verbunden werden (wo ja offenbar Einigkeit besteht). In der Fangemeinde der Torte im Gesicht von Bill Gates bedarf diese Aussage eigentlich keiner Erklärung. Leider sind Widerstand und Vision aber sehr selten miteinander verbunden. Tatsächlich existieren unterschiedlichste soziale Bewegungen, Gruppen, Zusammenschlüsse usw., bei denen die beiden Aspekte regelmäßig auseinanderfallen. Das geschieht entweder ganz, d.h. die AkteurInnen machen nur das eine oder das andere: z.B. theoretische Entwürfe, Diskussionen usw., formal aber eingebunden in das „Alte“ und/oder von den Handlungsformen her sowas von „normal“, dass nur bei genauem Hinhören auf die inhaltlichen Positionen - die zudem noch in veraltete Formen gegossen sind - das Innovative erkennbar wird. Oder nur Aktionen, ohne die Frage nach dem „Warum“ und mehr noch dem „Wohin“ nicht beantworten zu können bzw. bei den Details, wo sie sich äußern, in äußerst alte Denkmuster zurückzufallen (Strafe für Nazis, internationale Gerichte und Weltregierungen, Reregulierung und Kontrolle, internationale Polizei statt Armeen ...). Oder diese Trennung geschieht zumindest zeitlich, d.h. die AkteurInnen machen mal dieses, mal jenes. Aber sie bringen die Dinge in ihren Handlungen nicht zusammen. Genau in der Verbindung zwischen Widerstand und Vision sehe ich die interessante Wirkung, denn Theorieentwicklung ohne das praktische Experiment lässt einen wesentlichen Bereich der Erkenntnis aus, zudem werden die Wege, Ideen in der Gesellschaft zu verbreiten, erheblich eingeschränkt. Aktion ohne Vision ist dagegen reine Gegenwehr - oft wichtig, aber nicht weiterführend, d.h. selbst der Grund der ständigen Wiederholung, weil die Verhältnisse durch die reine Abwehrreaktion nicht weiterentwickelt werden.

(10.3.1) Re: Widerspruch/Ergänzung II., 13.04.2006, 09:57, Benni Bärmann: Im Prinzip Zustimmung, ich vertehe nur nicht Deine Gleichsetzung von "Widerstand" mit "Aktion". Es gibt doch auch jede Menge Aktionen, die nicht widerständig sind und trotzdem weiter führen.
Ausserdem ist Dein Anspruch halt ein sehr hoher. Ich glaube viele Leute, die nur "Nebenerwerbsrevoluzzer" sind, sind froh, wenn sie eines von beiden gelegentlich in ihren Alltag einbauen können. Aber es kommt wohl auch weniger drauf an, dass es wirklich die selben Leute sind, die das eine tun und das andere nicht lassen, sondern dass es einen lebendigen Dialog zwischen beiden "Fraktionen" gibt, der nicht nur in gegenseitigen Vorhaltungen - wie zur Zeit meistens - besteht.


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