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Genese der Information (1992)
Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 29.09.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv
(1) Der folgende Text ist Teil des 3. Berichts des Projekts "Begriffliche Fundierung der Informatik" (September 1992), das an der TU Berlin von 1991 bis 1993 bestand.
(2) Die Ausführungen der Grundlegung der Psychologie beginnen mit dem qualitativen Übergang vom vorpsychischen zum psychischen Leben. Als Voraussetzung wird der "qualitative Sprung von vorbiologischen zu biologischen Entwicklungsprozessen" (Holzkamp, 1983, S. 59) genannt, aber nicht ausgeführt. An dieser Stelle wollten wir ansetzen (vgl. dazu auch unseren 1. Bericht, Törpel & Meretz, 1991). Wir vertraten die These, daß ein mit »Information« bezeichenbarer Sachverhalt an den Lebensprozeß gekoppelt werden müsse und nahmen an: "»Information« ist etwas genuin Immaterielles, es ist ... ein Verhältnisbegriff" (ebd., S. 20). Damit weisen wir alle »physikalistischen« Informationsdefinitionen zurück, die - unterschiedlich deutlich - in einem Determinationsverhältnis des Menschen durch seine »informationale« Umwelt enden. Wenn unsere These der Kopplung von »Information« an das Leben zutreffen sollte, so muß die Genese eines so zu bezeichnenden Sachverhalts im qualitativen Übergang von unbelebter zu belebter Materie aufweisbar sein. Damit rücken Forschungen auf dem Gebiet der »präbiotischen Chemie« und »präbiotischen Evolution« in das Zentrum des Interesses. Als Beispiel diskutierten wird den Text "Molekulare Evolution und Ursprung des Lebens" von Peter Schuster (1987) bzgl. seiner Relevanz für das uns interessierende Problem.
(2.1) Abgrenzung, 29.09.2002, 13:20, Markus Schaal: In der Informatik wird "Information" gemeinhin als Struktur mit Bedeutung verstanden. Eine Abgrenzung gegen diesen nicht an der Genese orientierten Begriff, der auch nicht als "physikalistisch" abgewiesen werden kann, vermisse ich in diesem Absatz.
(2.1.1) Re: Abgrenzung, 29.09.2002, 16:32, Birgit Niemann: Dem möchte ich hinzusetzen: Auch in der Molekularbiologie wird unter einem Gen eine Nukleinsäure-Struktur, die in einem stofflichen Kontext eine "stoffliche Bedeutung" codiert, verstanden.
(2.1.1.1) Re: Abgrenzung, 30.09.2002, 08:21, Stefan Meretz: Das kommt aber in diesem Text explizit vor, um nicht zu sagen: Der ganze Text handelt nur davon. Oder willst du sagen, dieser hier formulierte "Verhältnisbegriff" sei für die Molekularbiologie nichts Neues? Schön - dann wäre sie weiter als die Informatik (über Literatur-Hinweise freue ich mich). Meistens fehlt der von dir erwähnte "stoffliche Kontext", was dazu führt, dass die "Bedeutung" verdinglicht und verabsolutiert wird.
(2.1.1.1.1) Re: Abgrenzung, 06.10.2002, 15:32, Birgit Niemann: Lieber Stefan, Du verblüffst mich immer wieder, denn ehrlich gesagt, habe ich den Informationsbegriff noch nie anders, denn als Verhältnisbegriff gekannt. Schon allein deshalb, weil "Information" immer das "Information für wen ?" als unausgesprochene und unhintergehbare Vorraussetzung mit enthält. Anders hat der ganze Begriff und sein Inhalt für mich nicht den geringsten Sinn. In Wahrheit habe ich bis heute noch nicht einmal im Traum darüber nachgedacht, ob es überhaupt irgendeinen realen Zusammenhang gibt, in welchem "Information" etwas Absolutes sein könnte. Doch Du bist der Informatiker von uns beiden. Daher wirst auch Du den größeren Überblick darüber haben.
(2.1.2) Re: Abgrenzung, 30.09.2002, 08:12, Stefan Meretz: Der Heinweis ist berechtigt. Bitte Geduld, ich veröffentliche weitere (ältere) Texte, in denen eine detailierte Auseinandersetzung mit dem im engeren Sinne "informatischen" Informationsbegriff (Syntax - Semantik, manchmal auch noch: - Pragmatik) vorkommt.
(3) Obwohl zahlreiche Erscheinungsformen im Übergangsbereich zwischen Nichtleben und Leben bekannt sind (Viren, Sporen, Viroide) sind in der Biologie die Kriterien für »Leben« weitgehend Konsens:
(4) Es sind in den Bereichen der Physik und Chemie zahlreiche Beispiele gefunden worden, für die bei weiter Auslegung die genannten drei Kriterien zutreffen. Solche Prozesse, die sich durch einen Selbstverstärkungsmechanismus (1.), eine inhärente Variabilität (2.) und durch einen Energie-/Materialfluß (3.) auszeichnen, werden mit dem Begriff Selbstorganisation [2] gefaßt. Die physikalische Grundlage für Selektions- oder Selbstorganisationsphänomene ist mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gefaßt worden: im thermodynamischen Gleichgewichtszustand, auf den global alle Systeme zustreben, sind keine Ordnungsprozesse möglich; jegliche Ordnungsphänomene sind nur jenseits des Gleichgewichts in lokalen Bereichen durch Stoffwechsel »gegen« die globale Gleichgewichtstendenz erzeugbar/aufrechterhaltbar. Dies gilt mithin für alle physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse.
(5) Schuster folgert daher: "Es besteht insofern eine Ähnlichkeit zwischen Selbstorganisationsvorgängen in Physik und Chemie und der biologischen Evolution, als aus den verschiedensten anfänglichen mikroskopischen Ordnungszuständen durch Selbstverstärkung einer ausgewählt wird, der an die makroskopischen Randbedingungen, das sind beispielsweise Gefäßdimensionen, Flußgeschwindigkeiten oder äußere Zeitgeber, optimal angepaßt sind. Selbstorganisationsvorgänge lassen sich dementsprechend auch als eine Selektion durch die äußeren Randbedingungen verstehen ..." (ebd., S. 54), bzw. als eine funktionale Widerspiegelung, wie wir sagen könnten. Während man solche »einfachen« Selbstorganisationsphänomenen (der Physik/Chemie/Biologie) als funktionale Widerspiegelung in einem zeitlich beschränkten räumlichen Kontinuum bezeichnen könnte, handelt es sich bei evolutionären Widerspiegelungen um raumzeitlich-übergreifende Prozesse ungleich höherer Stabilität, Kontinuität und progressiver Komplexität.
(6) Dies beschreibt auch Schuster: "Biologische Systeme ... haben ... ein um Größenordnungen reicheres Repertoire von Antworten auf die Herausforderungen der Umgebung. Formen der Anpassung sind deshalb in der Biologie um vieles reicher, detaillierter und subtiler als in anderen selbstorganisierenden Systemen." (ebd., S. 55), womit er jedoch die evolutionären und »einfachen« Optimierungprozesse auf die gleiche Stufe der »Selbstorganisation« stellt. Physikalische/chemische/biologische Selbstorganisationsvorgängen als zeitlich beschränkte lokale Optimierungsprozesse sind vielfach die Grundlage »höherer« Phänomene wie etwa denen des Lebens, der psychischen Dimensionen etc.; sie sind aber weder mit diesen identisch noch sind solche »höheren« Prozesse als Addition »einfacher« Selbstorganisationsvorgänge zu erklären [3]. Mit dieser (von uns getroffenen) Unterscheidung und einer engeren Fassung des ersten Kriteriums als "struktur-identische Selbstreproduktion" (nach GdP) entfiele die Notwendigkeit eines 4. Kriteriums, zumal das Kriterium der Darwin'schen Evolution zirkulär ist: es lebt das, was zur Darwin'schen Evolution fähig ist; das, was den Kriterien der Darwin'schen Evolution entspricht, lebt.
(7) Schuster nennt die beobachtete funktionale und progressiv komplexe evolutionäre Anpassung "a posteriori" (ebd., S. 55) zweckgerichtet (GdP: "teleonom"). Mit dieser nichtteleologischen Zweckauffassung müsse auch die »präbiotische« Evolution untersucht und Modelle der Lebensentstehung diskutiert werden, um die Notwendigkeit des 4. Kriteriums zu prüfen. Unsere Fragestellung (an den Text) ist dagegen eine andere: Wie konnte es zum Umschlag raumzeitlich beschränkter Selbstorganisationsphänomene in eine raumzeitlich übergreifende progressive Entwicklung im Übergangsfeld Nichtleben-Leben kommen? Wenn wir die Methode der funktional-historischen Rekonstruktion auch hier anwenden, so ist ausgehend von den o.g. Kriterien für »Leben« also zu fragen: Welche Bedingungen müssen für den Prozeß der struktur-identischen Selbstreproduktion (einschließlich ihrer inhärenten Variabilität) gegeben gewesen sein und wie konnten sich diese wiederum selbst herausbilden? Und: Wie haben sich die Voraussetzungen für den reproduktionsnotwendigen Stoffwechsel im gleichen Prozeß mit herausgebildet? Die primär zu beantwortende, da entwicklungslogisch vorgeordnete Frage ist die nach der Herausbildung der struktur-identischen Selbstreproduktion, da der Stoffwechsel, zwar auch Bedingung, doch zunächst Resultat dieser Reproduktion war. Selbstreproduktion und Stoffwechsel müssen also zunächst zusammengeschlossen gewesen sein, bevor sie sich im weiteren präbiotischen evolutionären Verlauf differenzierten. Der Reduplikationsprozeß der Urbiopolymere muß sich selbst hervorgebracht und mit Energie versorgt haben, er muß als raumzeitlich begrenzter Selbstorganisationsprozeß begonnen und sich im Verlaufe eine Form gegeben haben, die ihn von raumzeitlich zufälligen Bedingungen zunehmend unabhängig machte.
(8) Um die Frage nach der Entstehung des Prozesses der struktur-identischen Selbstreproduktion beantworten zu können, seien zunächst einige Prinzipien des Aufbaus biologischer Materie vorgestellt. Proteine, Nukeinsäuren und andere Biopolymere sind nach dem gleichen allgemeinen Prinzip aufgebaut: "An ein regelmäßig gebautes, periodisches Grundgerüst werden in vorgegebenen Abständen Seitenketten angehängt. Die Seitenketten entstammen einem Vorrat von einigen (K) Typen (K=4: G, A, C und T oder U). Bei der Desoxyribonukleinsäure (DNS) sind dies die Purinbasen Guanin (G) und Adenin (A) und die zwei Pyrimidinbasen Cytosin (C) und Thymin (T). In Ribonukleinsäure (RNS) tritt anstelle von Thymin die nahverwandte Pyrimidinbase Uracil (U) auf. Im Fall von natürlichen Proteinen unterscheiden wir 20 Typen (K=20) ..." (ebd., S. 59). Die ungeheuere Vielfalt der Biopolymere entsteht durch Kombinatorik: jeweils KN (N=Anzahl der Sequenzbausteine) mögliche Sequenzen können zusammengebaut werden. Damit sind auch schnell Theorien ad absurdum geführt, die die Lebensentstehung einem Zufallsprozeß zuschreiben wollen, denn die Wahrscheinlichkeit ein Biopolymer zu erhalten, beträgt eben nur 1/K^N [4]. Die Schlußfolgerung von Schuster ist, daß die Biopolymere selbst aus einer Art Darwin'scher Evolution hervorgegangen sein müssen.
(9) Die präbiotische Evolution wird in zwei Phasen eingeteilt. Die erste Phase wird als "»präbiotische Chemie« bezeichnet (und) behandelt mögliche, unter präbiotischen Bedingungen »plausible« chemische Reaktionen, welche zu den heutigen Biomolekülen und ihren Vorstufen führen konnten ..." (ebd., S. 72). Die zweite Phase setzt "die Existenz von polynukleotidartigen [5]Molekülen voraus, welche bereits zu Replikation und Mutation befähigt sind. In dieser Phase der präbiotischen Evolution gibt es bereits Selektion und evolutionäre Optimierung im Sinne Darwins." (ebd.).
(10) Für die Phase der präbiotischen Chemie sind die Experimente von Miller bekannt, der in den 50er Jahren "Vorstufen der meisten 20 natürlichen Aminosäuren durch elektrische Entladungen in Mischungen der Gase Methan, Ammoniak, Wasserstoff und Wasserdampf" (ebd., S. 73) bilden konnte. Neuere Forschungsergebnisse sprechen jedoch dafür, "daß die Erdatmosphäre zur Zeit der chemischen Evolution nur schwach reduzierend [6] war, keinen freien Wasserstoff enthielt und vorwiegend aus den Gasen Stickstoff, Kohlenstoffmonoxid und Kohlenstoffdioxid bestand. Unter diesen Bedingungen liefern die Millerschen Simulationsexperimente nur eine sehr schlechte bis keine Ausbeute an biologisch wichtigen Materialien. An der augenscheinlich leichten Zugänglichkeit der meisten natürlichen Aminosäuren ändert dies jedoch wenig, da auch andere, weniger gut untersuchte Reaktionswege bekannt sind, welche unter schwach reduzierenden Bedingungen zu Aminosäuren führen." (ebd., S. 74). Diese sollen an dieser Stelle nicht weiter vorgestellt werden.
(11) Der nächste Schritt besteht in der Synthese von Aminosäuren, Ribose und Phosphat zu Oligo- oder Polynukleotiden, dem ersten Schritt in die »eigentliche« präbiotische Evolution. Da erhebliche thermodynamische Barrieren zu überwinden sind, ist dieser Prozeß noch nicht vollständig und einhellig aufgeklärt. Eine der für die weiteren Schritte interessante Variante geht von der Möglichkeit der "enzymfreien, matrizeninduzierten Synthese von Polynukleotiden ... (aus). An einem vorgegebenen Polynukleotidstrang, hier als Matritze bezeichnet, werden die komplementären aktivierten Moleküle zu einem Oligo- oder Polynukleotid mit komplementärer Basensequenz vereinigt. Diese Reaktion unterscheidet sich von ... der RNS-Synthese nur dadurch, daß kein Enzym als Katalysator [7] verwendet wird. Dieser Prozeß ist von fundamentaler Bedeutung, da er den eigentlichen Zugang zur frühen molekularen Replikation ermöglicht und damit den Einzug des Darwinschen Evolutionsmechanismus in die präbiotisch Evolution einleitet." (ebd., S. 76).
(12) Solche enzymfreien Replikationen sind sehr ungenau, zudem werden die gebildeten Oligo- und Polynukleotide auch immer wieder zerstört, sodaß kaum Kettenlängen von über 100 Nukleotiden erreicht werden können. Dieses dynamische Gleichgewicht zwischen stark fehlerbehaftetem Aufbau und Zerstörung führt zu einer Art »Molekülselektion«: "In einer ersten Phase der frühen »natürlichen« Auslese werden jene Moleküle herausgebildet, welche unter den gegebenen Bedingungen die größte Fitness aufweisen, das sind jene Moleküle, für die die Differenz zwischen Synthesegeschwindigkeit und Abbaurate am größten ist." (ebd., S. 77f). Dennoch bleiben die Kettenlängen begrenzt. Unter den gegebenen Randbedingungen ist diese Form der physikalisch-chemischen Selbstorganisation an ihre Grenze gestoßen. Ein Übergang von einem begrenzten Optimierungsprozeß in einen potentiell unbegrenzten Entwicklungsprozeß [8] erfordert eine qualitative Änderung des Prozesses selbst, oder anders formuliert: eine Entwicklung des Prozesses zur Erzeugung/Aufrechterhaltung lokaler Ordnung unter Aufwendung von Materie/Energie gegen die Tendenz zum globalen Gleichgewicht.
(13) Da die Randbedingungen und damit die Fehlerraten der Polynukleotidsynthese gegeben sind, konnte eine zunächst quantitative Erweiterung der Synthesekapazität nur erreicht werden, indem der Syntheseprozeß sich »selbst« seine »eigenen« »Randbedingungen« schuf und sie so stabilisierte, daß es zu einer kumulativen Optimierung des Syntheseprozesses kommen konnte. Solche geeigneten »Randbedingungen« konnten jedoch nur von den Syntheseprodukten selbst, den Oligo-/Polynukleotiden, gebildet werden. Wie konnte aber ein ein Syntheseprodukt sich selbst »Randbedingung« werden, wie konnte etwas passiv »Matritze« sein, was doch gleichzeitig aktiv synthetisiert wurde? Wie konnte ein und derselbe Stoff in zwei verschiedenen Funktionen im gleichen System ohne Konkurrenz anwesend sein? Schuster schreibt dazu: "Ein Mechanismus zur Unterdrückung von Konkurrenz baut auf gegenseitiger Abhängigkeit durch Katalyse auf. Das zugrundeliegende Prinzip wurde katalytischer Hyperzyklus genannt. Ein katalytischer Hyperzyklus vereinigt einige zur Selbstreplikation befähigte Moleküle zu einer funktionell organisierten Einheit. Voraussetzung für seine Ausbildung ist zyklische Katalyse: Jedes Molekül katalysiert die Synthese seines Nachfolgers in einer Reihe, die »sich in den Schwanz beißt«, das heißt in einer kreisförmigen Anordnung. Der Hyperzyklus ist demnach eine spezielle Art des positiven Rückkopplungskreises" (ebd., S. 78, Hervorh. d. Verf.) [9].
(14) Diese Art der Prozeßspeicherung unabhängig vom Prozeß selbst kann man, da in qualitativ neuer Funktion, auch als »Informationsspeicherung« bezeichnen. Aus bloßen »Randbedingungen« ist »Information« geworden. Im weiteren Verlauf können dabei durch Mutation und Selektion optimierte Varianten dauerhaft und prozeßunabhängig gespeichert werden. Spezialisierungen im Prozeß können jeweils kumulativ optimiert an neue Synthesegenerationen weitergegeben werden. So kommt es zur Ausbildung der Polypeptidsynthese [10], die ihrerseits wiederum in ungleich effizienterer Weise die Synthese von Nukleinsäuren katalysieren können: "Auch aus nur wenigen Aminosäuren durch Nukleinsäureinstruktion gebildete Polypeptide würden in ihren katalytischen Eigenschaften sehr bald alle anderen nicht instruierten Matrialien übertreffen, da sie durch Mutation und Selektion optimiert werden können." (ebd., S. 79). Mehr und mehr wurden "weitere Aminosäuren in die primitive Übersetzungsmaschinerie einbezogen, wobei die Triebkraft für die Erweiterung der genetischen Sprache die Verbesserung der katalytischen Möglichkeiten der codierten Proteine war. Schließlich wird ein Optimum bei der heutigen Zahl von 20 Aminosäuren erreicht: Der Aufwand, das Translationssystem darüber hinaus zu erweitern, lohnt nicht mehr, da die Verbesserung der katalytischen Eigenschaften der Proteine durch eine weitere Aminosäure zu gering ist." (ebd., S. 80). Schließlich übernehmen die Nukleinsäuren die spezialisierte Aufgabe der Speicherung der Prozeßinformationen, während die Synthese an den entstandenen Ribosomen durchgeführt wird. Ein durch Mutation und Selektion modifziertes und spezialisiertes Adenin, das Adenosintriphosphat (ATP) übernimmt die Funktion des unversellen Energiespeichers. Nach Entwicklung von Membranen (über die es verschiedene Theorien gibt), war die Zelle »fertig«.
(15) Die beschriebene Emanzipation vom raumzeitlich abhängigen Selbstorganisationsprozeß konnte nur gelingen, indem die den Prozeß steuernden »Randbedingungen« selbst erzeugt und »aufgehoben«, gespeichert wurden. Die Speicherung von Prozeßinformationen unabhängig vom Prozeß war ein notwendiger Entwicklungsschritt in der präbiotischen Evolution. Dabei kommt dem Genese des Informationsspeichers die zentrale Rolle. Ein Informationsbegriff macht demzufolge nur als Verhältnisbegriff Sinn: "Die Information zur Synthese eines Proteinmoleküls ist ... in einem Teil des Nukleinsäuremoleküls und der Synthesemaschinerie enthalten. So erscheint es ... sinnlos, von der Information des isolierten Nukleinsäuremoleküls zu sprechen, da die in ihm gespeicherten Anweisungen nur mit Hilfe einer geeigneten Maschinerie realisiert werden können." (ebd., S. 66). Dies bedeutet aber, daß "Informationsspeicher und die zur Entfaltung dieser Information notwendige Maschinerie ... gemeinsam entstehen" (ebd., S. 67) mußten. Genau dies war, wie oben mit dem katalytischen Hyperzyklus beschrieben, der Fall.
(16) Mit der Zellkonstituierung und ihrer »inneren« Differenzierung (s.o.) entstand mit der Membran gleichzeitig eine neue und konstitutive physikalische Grenze zwischen der Zelleinheit und der »Außenwelt«: "Die Fähigkeit zur strukturell identischen Selbstreproduktion schließt notwendig die Fähigkeit der einzelnen Organismen zur Erhaltung ihrer Strukturidentität ein ..." (Holzkamp, 1983, S. 60). Der Stoffwechsel dient mithin nicht nur dazu, die »inneren« Replikationsmechanismen, aus denen er selbst hervorging, zu ermöglichen, sondern er ist zunehmend mehr notwendig, um die Organismus-Integrität als »aktive« Lebenseinheit gegenüber einer »passiven« Umwelt aufrechtzuerhalten. Damit tritt neben den »inneren« auch ein Informationsaspekt in Relation des Organismus zum »Äußeren«: "Die organismische Systemerhaltung hat neben dem energetischen gleichursprünglich einen Informationsaspekt: Der Organismus reagiert auf bestimmte äußere Bedingungen nicht lediglich gemäß unspezifischen chemisch-physikalischen Gesetzen, sondern setzt diese Bedingungen selektiv in (mindestens) innere Aktivität um ... Organismische Aktivitäten unter dem Aspekt einer dergestalt selektiven Informationsauswertung werden »Reizbarkeit«, »Erregbarkeit« oder auch »Irritabilität« genannt und stellen eine elementare Eigenart von Lebensprozessen dar." (ebd., S. 61). Auch in der Relation des Organismus zur Umwelt macht ein Informationbegriff als Verhältnisbegriff also Sinn, oder umgekehrt formuliert: es ist mit dieser Argumentation sinnlos etwa der Umwelt in irgendwelchen Aspekten »Information« zuzumessen - »Information« in Relation wozu?
(17) Ein ähnliches Verhältnis von Organismus und Umwelt hatten wir bisher bereits mit dem Bedeutungsbegriff gefaßt (vgl. 2. Projektbericht, Meretz, 1992, S. 4ff). Der Bedeutungsbegriff ist gegenüber dem Informationsbegriff als Aktivitätsrelevanz inhaltlich qualifiziert: eine Bedeutungseinheit ist als Aktivitätsrelevanz sowohl mit einer bestimmten Aktivität als auch mit einer bestimmten Zustandsdimension (Bedarfsdimension) deterministisch (auf tierischem Niveau) verbunden. Information ist so gefaßt die unspezifische Dimension des Bedeutungsbegriffs in Bezug auf das Organismus-Umwelt-Verhältnis. Ein Bedeutungsbegriff ist folglich für die beschriebenen »Innenverhältnisse« (etwa als "Genotyp=Information und Phänotyp=Bedeutung") unangebracht.
(18) [1] In der GdP (Grundlegung der Psychologie, Holzkamp 1983) waren die Kriterien: "struktur-identische Selbstreproduktion", die die Mutagenität mit einschloß und "Stoffwechsel" (Holzkamp, 1983, S. 60).
(19) [2] Der Begriff der Selbstorganisation wird hier ausschließlich deskriptiv denn als analytische Kategorie verwendet (vgl. auch Fußnote 4).
(20) [3] Damit wird deutlich, daß der Begriff der Selbstorganisation als Beschreibungsbegriff auf unspezifisch physikalisch-chemisch-biologische Optimierungsprozesse zu begrenzen ist und nicht als Kategorie z.B. auf spezifisch-psychische Dimensionen oder etwa menschliche Gesellschaften angewendet werden kann. Für letztere ist der Begriff der Entwicklung geeigneter.
(21) [4] Diese (Un-)Wahrscheinlichkeit veranschaulicht Küppers (1987b, S. 22): "Im Universum ist die Gesamtzahl aller stabilen Elementarbausteine der Materie von der Größenordnung 10^80. Das Alter des Universums, ausgedrückt in der kleinsten quantenmechanisch zulässigen Zeitspanne, beträgt etwa 10^40. Die Zahl aller Prozesse, die seit Anbeginn der Welt möglich gewesen wären, kann somit die obere Grenze von ... N=10^80 x 1040=10^120 nicht überschritten haben. Diese Zahl, so unvorstellbar groß sie bereits ist, ist ihrerseits wieder nur ein verschwindender Bruchteil der Zahl aller kombinatorisch möglichen Sequenzalternativen eines Bakteriengenoms ... (10^2,4 Millionen, d. Verf.). Hieraus wird ersichtlich, daß die physikalischen Voraussetzungen unseres Universums für eine Urzeugung des Lebens bei weitem nicht ausreichten. Selbst die Urzeugung eines einfachen optimierten Enzymmoleküls ist unter diesen Bedingungen absolut unwahrscheinlich."
(22) [5] Polynukleotide sind Sequenzen von Einheiten (Nukleotide) aus Aminosäure und Ribose verknüpft durch Phosphat.
(23) [6] Reduktion: Elektronenaufnahme (im Gegensatz zur Oxidation: Elektronenabgabe). Eine reduzierende Atmosphäre enthält Gase, die in der Lage sind, Elektronen zu binden.
(24) [7] Katalysator: Substanz, die eine chemische Reaktion befördert und dabei selbst nicht verändert wird.
(25) [8] Wir beziehen uns dabei auf das in der GdP verwendete dialektische Entwicklungskonzepts des "Umschlags von Quantität in Qualität", der "Negation der Negation" etc. (vgl. Holzkamp, 1983, S. 78ff).
(26) [9] Für ExpertInnen: "Direkte Katalyse von biochemischen Reaktionen durch Nukleinsäuren war bislang unbekannt. Die konventionelle Biochemie ging von der durch viele Einzelbefunde erhärteten Vorstellung aus, daß die Nukleinsäuren im zellulären Geschehen als Replikationsmatritzen, Informationsspeicher und Adaptoren zwischen Nukleotid- und Aminosäuresequenzen fungieren, während den Proteinen die hochspezifische Katalyse der chemischen Reaktionen der Zelle vorbehalten ist. Molekularbiologische Untersuchungen in den letzten fünf Jahren haben jedoch gezeigt, daß die katalytischen Fähigkeiten von RNS-Molekülen gewaltig unterschätzt wurden. Aufgrund zahlreicher Experimentalbefunde wissen wir heute, daß RNS-Moleküle in der Synthese von anderen RNS-Molekülen, aber auch ihrer eigenen Synthese als Katalysatoren wirksam sein können." (ebd., S. 78f). Solche autokatalytischen Rückkopplungen bewirken meist Oszillationen der Stoffverhältnisse im System, die chaotischen Charakter haben. Damit wird das Gebiet der »Chaosforschung« berührt, von dem ebenfalls interessante Beiträge zu Frage der Genese des Lebens geliefert werden. Dies kann hier aber nicht ausgeführt werden.
(27) [10] Polypeptide sind einfache Proteine.
(28) Holzkamp, K. (1983), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main: Campus.
Küppers, B.-O. (1987a, Hrsg.), Ordnung aus dem Chaos - Prinzipien der Selbstorganisation des Lebens, München: Piper.
Küppers, B.-O. (1987b), Die Komplexität des Lebendigen - Möglichkeiten und Grenzen objektiver Erkenntnis in der Biologie, in: Küppers (1987a).
Meretz, S. (1992), Projekt "Begriffliche Fundierung der Informatik" - 2. inhaltlicher Bericht über den Stand unserer Überlegungen, April 1992, TU Berlin.
Schuster, P. (1987), Molekulare Evolution und Ursprung des Lebens, in: Küppers (1987a).
Törpel, B. & Meretz, S. (1991), Projekt "Begriffliche Fundierung der Informatik" - Bericht über den Stand unserer Überlegungen, August 1991, TU Berlin.