Home   Was ist ot ?   Regeln   Mitglieder   Maintainer   Impressum   FAQ/Hilfe  

Die Macht des Wissen in der (post)modernen Gesellschaft

Maintainer: Hans-Gert Gräbe, Version 1, 01.06.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Die Widersprüche der heutigen Zeit sind mit Händen zu greifen. Sie haben ihre Wurzeln in tiefen technologischen Veränderungen, welche mit Computer und Internet auf das Engste verbunden zu sein scheinen. Diese Veränderungen haben einen kompletten gesellschaftlichen Gegenentwurf zum Kapitalismus zu Beginn der neunziger Jahre des eben zu Ende gegangenen Jahrhunderts fast lautlos in sich zusammenfallen lassen und klopfen nun, am "Ende der Geschichte", an die Pforten des "effektivsten aller Gesellschaftssysteme" und drängen vehement auf Lösung.

(1.1) 09.09.2004, 09:04, Hans-Gert Gräbe: Wahrscheinlich sollte man an der Stelle nicht verharmlosend nur von Widersprüchen sprechen, sondern von Rissen, welche durch die heutige Gesellschaft gehen. Schließlich sind es nicht Widersprüche in einer Beschtreibung, sondern Widersprüche in der praktischen Realität selbst, welche das tägliche Sein unmitelbar tangieren.
Aber während über Hartz IV und ähnliche Risse mit unmittelbarer sozialer Auswirkung medial und öffentlich ausführlich debattiert wird, bleibt es um einen der ganz großen Risse in der heutigen Gesellschaft, die Auseinandersetzung um den freizügigen Zugang zu den Wissensgütern, auffallend ruhig.
Dabei geht es hier um ein Schlachtfeld, auf dem das kapitalistische Establishment der Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte und damit der Aufhebung dieses freizügigen Zugangs offensichtlich enorme Zukunftsbedeutung beimisst. Entsprechend still kommen die Regelungen daher, als GATS und WIPO aus einem imaginären Raum in naturrechtlichem Gewand - auf alienistische Weise, würde C. Spehr wohl sagen. Regelungen, die es "nur noch gilt, in nationales Recht umzusetzen", lautlos und unauffällig und ohne deren Sinnhaftigkeit ernsthaft auf den Prüfstand zu stellen.
Die Linke nimmt dieses Schlachtfeld nur sehr peripher zur Kenntnis. Selbst die Eigentumsdebatte dreht sich nur um Fragen der Rückgewinnung der Verfügungsgewalt über großes Privateigentum. Auf den Barrikaden, die insbesondere von Vertretern der Wissenschaft inzwischen aufgerichtet sind, um im freizügigen Zugang zu Wissensgütern die letzte Bastion von Gemeineigentum zu verteidigen, sind Linke, die hier eine klare, eindeutige und lautstarke Position beziehen, nur spärlich zu finden.
Um diesen Riss wird es im folgenden Aufsatz gehen.

(2) Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine kapitalistisch verfasste gesellschaftliche Ordnung mit technologischen Herausforderungen konfrontiert wird; noch immer fanden sich bisher Antworten und die Kraft, die gesellschaftliche Ordnung entsprechend den neuen Herausforderungen umzubauen, ohne dabei die grundlegenden, eine marktwirtschaftlich-kapitalistische Ordnung konstituierenden Elemente in Frage zu stellen oder gar über Bord werfen zu müssen. Mit dieser historischen Kompetenz im Rücken macht sich das politische Establishment auch heute mit Schwung an die Arbeit und initiiert einen großflächigen Umbau der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung, mit welchem den neuen Herausforderungen begegnet werden soll, abermals ohne die Grundlagen des kapitalistischen Gesellschaftssystems anzutasten.

(3) Der neoliberale Mainstream folgt dabei bewährten Mustern, womit sich allerdings unter den gegenwärtigen Bedingungen Probleme eher zu verschärfen scheinen. Doch Umwälzungen greifen immer Besitzstände an -- und wo gehobelt wird, da fallen Späne. Jeder muss in solchen Umbruchzeiten sein persönliches Opfer bringen -- so etwa lautet die Replik auf entsprechende Klagen, worauf man Widerstände in der medialen Darstellung gern zu reduzieren sucht. Argumente werden laut, eindringlich und medial wirksam vorgetragen, obwohl -- oder weil? -- eine innere Logik oft nicht mehr zu erkennen ist. Oder kann es jemand erklären, dass man auf dem Weg in die Wissensgesellschaft gerade an den öffentlichen Ausgaben für Bildung spart?

(4) Die zunehmende Schere zwischen öffentlicher strategischer Argumentation und der Realität praktischer politisch-administrativer Tagesarbeit beginnt bereits an den Grundfesten eines demokratisch verfassten Staatswesens zu rütteln, gerade auch im Bildungsbereich, wo blumig Lösungen für das Problem der sinkenden staatlichen Finanzierung durch Privatisierung und Markt versprochen werden. Die vielfältigen politischen Bemühungen, dafür "Bildungsprodukte" marktgängig zu machen, treffen auf den erbitterten Widerstand der Wissenschaftsgemeinde, die in einem solchen Ansinnen die Grundlagen des Wissenschaftsbetriebs in seiner bisherigen Form gefährdet sieht und dem dezidiert das altbewährte Prinzip des freizügigen Zugangs zu den Wissensgütern der Gesellschaft entgegenstellt. Wahrung alter Besitzstände einer ewig gestrigen Professorenschaft?

(5) Wie dem auch sei, die Barrikaden sind aufgerichtet, und da mag es schon erstaunen, eine Meldung wie die folgende zu lesen [9]:

Unterstützung der Budapest Open Access Initiative durch das "Information Program" des Open Society Institutes, 14. Februar 2002

Die Budapest Open Access Initiative (BOAI), die heute an die Öffentlichkeit getreten ist, möchte internationale Bemühungen um den weltweit freien Online-Zugang zu wissenschaftlichen Zeitschriftschriftenveröffentlichungen in allen akademischen Feldern bündeln und beschleunigen. Die BOAI ist aus einem Treffen hervorgegangen, dass in Budapest von dem Open Society Institute (OSI) veranstaltet wurde.

Das OSI "Information Program" verpflichtet sich, für die Dauer von drei Jahren jährlich 1 Million US Dollar zur Förderung von open access-Projekten zu vergeben. Gefördert werden:

(6) Was sind das hier für Akteure und Institutionen, die sich so dezidiert entgegen dem Mainstream für freizügigen Zugriff auf Informationsgüter einsetzen und dafür auch noch nicht unbeträchtliche Geldsummen zur Verfügung stellen? Der erste der beiden Akteure, die Budapest Open Access Initiative, wird weiter im Text wie folgt dargestellt:

Die Budapest Open Access Initiative wurde von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Budapester Treffens und von Hunderten Einzelpersonen und Institutionen aus aller Welt unterzeichnet, von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, von Universitäten, Bibliotheken, Fördereinrichtungen, Zeitschriften, Verlagen und Learned Societies. Die Webseite enthält neben den Unterschriften derer, die bisher unterzeichnet haben, Vorschläge zur Unterstützung der BOAI und ein ausführliches FAQ. Wir ermutigen Einzelpersonen und Institutionen, die Initiative zu unterzeichnen und sich zu informieren, wie sie die open access-Bewegung unterstützen können.

(7) Es handelt sich also um einen breiten Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Bibliotheken und Wissenschaftsorganisationen, welche in den aktuellen Entwicklungen eine deutliche Gefahr für den freizügigen Austausch wissenschaftlicher Information und damit für den Wissenschaftsbetrieb in seiner heutigen Verfassung sehen und aus dieser Sorge heraus politisch aktiv werden. Wer aber ist das OSI, der Mäzen der Bewegung, der Geldgeber? Dazu heißt es weiter im Text:

Das OSI ist eine private Stiftung, die die Entwicklung und Implementation von Programmen in den Feldern Zivilgesellschaft, Erziehung und Bildung, Medien, Public Health, Frauen- und Menschenrechte fördert, ebenso Bemühungen um soziale, gesetzliche und wirtschaftliche Reformen. Das OSI operiert als Zentrum eines informellen Netzwerkes aus Stiftungen und Einrichtungen, die in mehr als 50 Ländern verschiedene Programme unterstützen. Es wurde 1993 von George Soros zur Vernetzung derartiger Programme, zur Förderung von Intiativen, usw. gegründet. ... Besuchen Sie http://www.soros.org für weitere Informationen.

(8) George Soros also, einer der ganz Großen aus der Welt des ganz großen Geldes. Wie hat sich dieser dezidierte Vertreter der Finanzwelt auf die "falsche Seite" der Barrikaden verirrt? Doch es kommt noch besser.

(9) Ein wesentlicher Akteur im Kampf um den freizügigen Zugang zu den Wissensgütern der Gesellschaft ist die OpenSource-Bewegung, die mit GNU/Linux eine Alternative zu proprietären Betriebssystemen, allen voran Windows, geschaffen hat und in deren Schoß eine große Zahl erstklassiger Software-Werkzeuge entstanden sind, welche allen Interessenten zu sehr freizügigen Bedingungen zur Nachnutzung, Anpassung und Weiterentwicklung bereit gestellt werden und durch die Entwicklergemeinde selbst in einen ständigen Vervollkommnungsprozess eingebunden sind. Dass Bill Gates mit scheelen Augen auf diese Entwicklungen schaut ist verständlich. Weniger verständlich mag da schon die folgende Mitteilung erscheinen [4]:

IBM steckt eine Milliarde Dollar in Linux

Anlässlich der Bekanntgabe des Verkaufs eines großen Linux-Clusters an Shell auf der eBusiness Conference and Expo in New York hat IBM-Chef Louis Gerstner angekündigt, dass sein Unternehmen nächstes Jahr eine Milliarde Dollar in Linux investieren wolle. Dabei betonte die wichtige Rolle von Linux innerhalb der zukünftigen E-Strategie seines Unternehmens: Schon jetzt seien 1500 IBM-Programmierer damit beschäftigt, Business-Software nach Linux zu portieren.

Darüber hinaus bezog Gerstner deutlich Position: "Es gibt Einschätzungen, dass Linux an Windows NT vorbeiziehen und eine höhere Verbreitung finden wird". Die Bewegung hin zu offenen Standards sei unaufhaltsam. Firmen wie Sun oder Microsoft bezeichnete Gerstner als die "letzten großen proprietären Spieler, die man für lange Zeit in der IT-Branche sehen wird".

(10) Die beiden zitierten Meldungen halte ich im weiter oben ausgebreiteten Kontext für durchaus bemerkenswert: In einem Klima, das auf zunehmende Parzellierung und Privatisierung der Wissensressourcen drängt, investieren diese herausragenden Vertreter der großen Finanz- und Geschäftswelt nicht unerhebliche Summen in Projekte, welche gerade den Zusammenhalt der Wissensressourcen zm Gegenstand haben, deren Profilierung als gemeinsame, freizügig zugängliche Infrastruktur, eines gemeinschaftlich zu bewirtschaftenden Substrats, ohne welches die verschiedensten Blumen marktwirtschaftlich produktiver Aktivitäten gar nicht erst erblühen könnten, und die natürlich, durch ihre enge Verknüpfung mit diesem Substrat, erblühend einen eigenen dinglichen und oft auch monetären Beitrag zur Reproduktion dieses Substrats leisten können und leisten. Bemerkenswert an diesen finanziellen "Spenden" ist vor allem, dass sie sich allenfalls aus einem weitreichenden strategischen Kalkül heraus rechfertigen lassen, keineswegs aber mit einer Return-on-Invest-Kalkulation, diese Entscheidungen also gerade nicht einer marktwirtschaftlichen Logik entspringen.

(11) An dieser Stelle halte ich es für angezeigt, einen kleinen theoretischen Exkurs zur marktwirtschaftlichen Logik und deren gesellschaftlicher Bedeutung und Einbettung einzuschieben. Ich halte mich dabei an Marx, insbesondere die von ihm thematisierte Verbindung dieser ökonomischen Mikroprozesse mit gesamtgesellschaftlichen Sozialisierungsprozessen, da die Aussagekraft dieses Teils seiner Theorie heute wohl auch unter (seriösen) Marxkritikern weitgehend unbestritten ist. Marx interpretiert dabei Geld und Warenaustausch als Elemente eines Prozesses der Sozialisierung individueller produktiver Arbeit, welche über den Tausch auf dem Markt zu einem durchschnittlich erforderlichen Aufwand ins Verhältnis gesetzt wird. Auf diese Weise, so Marx, etabliert sich (unabhängig vom Willen der Marktteilnehmer und hinter deren Rücken) ein gesellschaftliches Maß für die Effizienz individueller produktiver Arbeit, das seiner Natur nach ein Zeitmaß ist und dessen Anwendung das Gelingen des Tauschs am Markt (das Vorhandensein einer Nachfrage) zur Voraussetzung hat.

(12) Dieses Gelingen des Tausches ist ein zweites sozialisierendes Moment, denn es wird nur in einem gesellschaftlichen Kontext "sinnvolle" Arbeit überhaupt erst bewertet. Mit diesem "Sinn" hat es eine besondere Bewandtnis: Marx stellt dazu fest, dass es sich bei marktgängiger produktiver Arbeit um zweckmäßige Arbeit handelt, wobei der Zweck individuell und vor dem Produktionsprozess gesetzt sein muss, aber gesellschaftlich erst nach dem Produktionsprozess, eben auf dem Markt, abgefragt wird. Ein solcher Mechanismus funktioniert aber nur, wenn sich die Wirkung einer Zwecksetzung antizipieren, die produktive Arbeit also planen lässt. Dies, so Marx, ist eine dem Menschen eigene Fähigkeit:

Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. ... [8, S. 193]

(13) Marktmechanismen spielten in diesem Zusammenhang eine progressive Rolle in der Entwicklung menschlicher Vergesellschaftungsformen. Während in vorkapitalistischen Zeiten Zwecksetzung für die produktive Arbeit extern, durch Clanführer, Sklavenbesitzer, Feudalherren -- allerdings auf einer dinglichen Basis -- erfolgte, so rückt die Zwecksetzung nun in die unmittelbare Nähe der produktiv Tätigen. Wir befinden uns dabei an einem Bifurkationspunkt menschlicher Entwicklung: Während in der ganzen bisherigen Entwicklung die "Korngröße" der gesellschaftlichen Entwicklungsstrukturen mit Zwecksetzungsvollmacht linear mit der Korngröße der durch die produktive Arbeit in Gang gesetzten "Macht der Agentien" wuchs und so, wenigstens notdürftig, der dinglichen Logik der Planung produktiver Arbeit Genüge getan war, sind wir mit Beginn der kaopitalistischen Marktwirtschaft mit dem Phänomen konfrontiert, dass ein weiteres Wachstum der Korngröße der Macht der Agentien mit einem Rückgang der Korngröße der Zwecksetzungsvollmacht einher geht. Die Beachtung dinglicher Logiken durch weitere Zentralisierung der Zwecksetzungsvollmachten ist an ihre Grenzen geraten -- auch wenn sie im realsozialistischen Entwicklungsmodell noch einmal eine Renaissance erfuhr -- und wird durch eine deutlich dezentralisierte Zwecksetzungsvollmacht abgelöst.

(13.1) Zwecksetzung 1, 20.08.2004, 16:16, Stefan Meretz: Zwecksetzung gibt es, seit die Menschen Menschen sind und ihr Leben produzieren. Ganz ursprünglich waren diese Zwecksetzungen von Interessen Dritter frei, es ging nur um das Lebensinteresse der Gemeinschaft. Eine Trennung von Zwecksetzung und Lebenssicherung war überhaupt erst unter Bedingungen der Existenz eines Mehrprodukts möglich. Unter Bedingungen personaler Herrschaft von Menschen über Menschen (du nennst die Beispiele) erfolgt die Zwecksetzung durch eben diese Dritten. Unter den Bedingungen des Kapitalismus erfolgt die Zwecksetzung durch eine unpersonale und insofern abstrakte Logik der Selbstverwertung des Werts. Dieser "Zweck" ist allerdings völlig abstrakt: Es geht um die Wertverwertung, völlig egal, wie und mit welchen Dingen und unter Zuhilfenahme welcher Agentien.

(13.1.1) 23.08.2004, 13:45, Hans-Gert Gräbe: Es geht mir in der Argumentation in diesem Beitrag um eine Vertiefung des Alien-Ansatzes von C. Spehr: Die Konflikte der heutigen Zeit sind (auch) Ausdrucks eines Ringens mehrerer (in seinem Sinne) Zivilisationen um Hegemonie. Bei ihm sind Aliens und Maquis die beiden Hauptwidersacher, allerdings bleibt bei ihm alles Weitere jenseits einer phänomenologischen Beschreibung sehr vage. Meine zentrale These ist die des Ringens zwischen der Geldmacht und der Wissensmacht (im Sinne von (33) und (34)).

(13.1.2) 23.08.2004, 13:46, Hans-Gert Gräbe: Die "abstrakte Logik der Selbstverwertung des Werts" ist kein Zwecksetzung, sondern höchstens ein Koordinatensystem, denn (handlungsleitende) Zwecke sind immer konkret. Allerdings zwingt sie, die Interessen anderer zur Kenntnis zu nehmen. Und im Gegensatz zu manchen Oekonux-Diskussionen bin ich fest überzeugt, dass zukünftige Gesellschaften diesen Aspekt eher verstärken als zurücknehmen werden. Allerdings in einem kooperativen und nicht konkurrenzzentrierten Kontext, wie bei Holzkamp beschrieben. Deine Formulierung "Zwecksetzungen von Interessen Dritter frei, es ging nur um das Lebensinteresse der Gemeinschaft" halte ich für logisch inkonsistent.

(13.1.2.1) von Stefan Merten (25.8.) per email, 26.08.2004, 15:34, Hans-Gert Gräbe: Mit "Allerdings zwingt sie, die Interessen anderer zur Kenntnis zu nehmen." habe ich ein zentrales Problem. Der Kapitalismus ist in der Tat ein recht erfolgreiches Zwangssystem in dieser Hinsicht. M.E. kann eine post-kapitalistische emanzipatorische Alternative nur funktionieren, wenn sie hier eben gerade keinen Zwang braucht, sondern es - im Rahmen des OHA-Systems - es im Interesse der Menschen liegt. M.a.W.: Die Selbstentfaltung aller ist die Vorbedingung für die Selbstentfaltung der Einzelnen. Ist dies kein zentrales Feature einer solchen Gesellschaftsformation, würde ich das Zwangssystem vorziehen, das ich schon kenne. Vermutlich haben wir hier einen unaufhebbaren Dissens. Ich würde formulieren: Du glaubst einfach, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, dass es in der "Natur des Menschen" liegt, unkooperativ und ausbeuterisch zu handeln. Ich glaube das nicht und es gibt m.E. historisch mehr Gegen- als Probeispiele.

(13.1.2.1.1) 27.08.2004, 08:48, Hans-Gert Gräbe: Das ist ein sehr wichtiger Punkt, an dem ich meine, dass deine Argumentation im Kern richtig ist, aber zu kurz greift, weil sie inhärent globale Effekte ausblendet. Selbstentfaltung ist ein lokales Phänomen, die meisten infrastrukturellen Fragen sind aber mit einem lokalen Kalkül nicht zu fassen. Deshalb dazu in aller Kürze etwas ausführlicher.
Zunächst paradigmaitisch: Wir sind sicher d'accord, dass Menschen nicht nur rational, also "bewusst" handeln, sondern zu einem großen Teil "aus dem Bauch heraus". Und dass diese Bauchmotivation, SMz hat es unten noch einmal betont, auf einem Substrat operiert, das man gemeinhin als "Schicksal" oder "Karma" oder ähnlich bezeichnet. Darüber will ich hier nicht streiten. Wichtig sind für mich der hochgradig strukturierte und der werdene Charakter dieses Substrats. Insofern sind mE Menschen Zwängen ausgesetzt, was nicht gleich Determiniertheit bedeutet. Unreflektiert schlagen solche Zwänge "blind" zu - in der Psychologie ein sehr bekanntes Phänomen -, was in manchen Fällen dazu zwingt, sie zu reflektieren und zu verstehen.
Insofern sehe ich keinen Widerspruch darin, dass die Orientierung auf das bewusste Wahrnehmen der Interessen anderer zunächst als Zwang daherkommt und später - reflektiert - in die (handlungsleitende) Erkenntnis "Die Selbstentfaltung aller ist die Vorbedingung für die Selbstentfaltung der Einzelnen" (+) mündet.
Allerdings zwingt der Kapitalismus, wenigstens bis zum Fordismus, nur die Unternehmer zu dieser Reflexionsleistung. Vom "dressierten Gorilla am Fließband" wird sie (noch) nicht abgefordert. Insofern scheint dieser Zwang - und das will ich hier nicht ausargumentieren - ein Teil der Dynamik hin zur Erkenntnis (+) zu sein.
Wenn das so ist, dann ist der Kapitalismus ein wichtiges Durchgangsstadium in der Menschheitsentwicklung und die Unternehmer (wenigstens die KMU) wichtige Subjekte für eine progressive Menschheitsentwicklung. Die stärkere Verlagerung solcher unternehmerischer Verantwortung in die Unternehmen hinein ist ein weiteres Indiz in dieser Richtung. Das ist die "kommunistische Vergesellschaftung der Sachen" (Kurz), die (noch) unter "der blinden tautologischen Selbstbewegung des Geldes" steht. Diese Blindheit wird derzeit zunehmend abgelegt (und darum geht es eigentlich in meinem ganzen Text).
In diesem Sinne endet die "Vorgeschichte der Menschheit" (Engels) auch nicht mit dem Kapitalismus, sondern mit dessen Aufstreben. Der Bifurkationspunkt im Korngrößendilemma liegt am Beginn des Kapitalismus. Das ist wichtig zu sehen, wenn man nach Anküpfungspunkten zu verschiedenen Diskursen über essentiell globale Phänomene wie der Nachhaltigkeitsdebatte, Poppers "offener Gesellschaft" (die als Idee bekanntlich bis zu Plato zurück verfolgt werden kann) oder dem Noosphären-Ansatz von Wernadski und Teilhard de Jardin sucht. Oder noch weiter greifenden Analysen wie "Die Menschwerdung der Affenartigen" von Klix und Lanius. Die übrigens alle in vollkommen anderen Zeithorizonten denken als die Kap-Soz-Debatte.
Die Dynamik der Wissenssphäre ist ein solcher Berührungspunkt zwischen diesen Diskursen, an dem sich derzeit viele Sachen offensichtlich praktisch fest machen.

(13.1.2.1.1.1) 08.11.2004, 22:27, Stefan Merten: "Selbstentfaltung ist ein lokales Phänomen, die meisten infrastrukturellen Fragen sind aber mit einem lokalen Kalkül nicht zu fassen." Nun, dem kann ich nicht zustimmen. Warum sollte Selbstentfaltung ein lokales Phänomen sein? Ich finde Greenpeace als Ozonloch-MaintainerInnen ein zwar plakatives Beispiel, aber es zeigt in die richtige Richtung. Was ist an so einer Form der Selbstentfaltung "lokal"? Oder auch: Was ist eigentlich genau am Hacken am Linux-Kernel lokal? Wenn der Code später von Millionen Menschen verwendet wird, kann ich da schwerlich was entdecken.

(13.1.2.1.1.1.1) 09.11.2004, 18:26, Hans-Gert Gräbe: Zitat aus der Oekonux-FAQ: "... Selbstentfaltung ist Spaß haben UND die der eigenen Individualität gemäßen Entwicklungsmöglichkeiten voll ausschöpfen." (sorry, war die einzige wirkliche "Definition", die ich auf die Schnelle gefunden habe). Dass dabei Code entsteht, der auch "später von Millionen Menschen verwendet wird", wird hier in keiner Weise reflektiert, ist also Ergebnis genauso "blinder" Kräfte wie der des Marktes. Aber genau die Reflexion der Dynamik kooperativer Effekte ist m.E. angesagt. Aber vielleicht müssen wir hier erst mal abgleichen, worüber wir überhaupt reden, wenn das Wort "Selbstentfaltung" fällt. Das ox-FAQ bleibt da sehr unbestimmt.

(13.1.2.1.1.2) 08.11.2004, 22:27, Stefan Merten: Deinen grundsätzlichen Ausführungen zu Zwängen stimme ich zu, aber ich finde es dennoch verkürzt: "Insofern sehe ich keinen Widerspruch darin, dass die Orientierung auf das bewusste Wahrnehmen der Interessen anderer zunächst als Zwang daherkommt und später - reflektiert - in die (handlungsleitende) Erkenntnis "Die Selbstentfaltung aller ist die Vorbedingung für die Selbstentfaltung der Einzelnen" (+) mündet." Dieser Satz setzt einfach die falschen Prämissen. Warum sollte denn eigentlich "die Orientierung auf das bewusste Wahrnehmen der Interessen anderer zunächst als Zwang" daherkommen? Das will mir einfach nicht einleuchten. Beschriebe dieser Satz die Realität, so wären wir alle über das erste Lebensjahr wohl kaum hinaus gekommen, weil nur mit Empathie das Überleben überhaupt möglich ist. Wichtig ist "lediglich", dass sich diese Orientierung auch auf die Interessen / Selbstentfaltung anderer mit den eigenen Interessen / Selbstentfaltung organisch verbindet. Wenn also der Einbau neuer Features in ein Stück Freie Software, die von NutzerInnen gewünscht wurden, zum eigenen Ziel wird. Ich sehe nicht, warum Zwang da unabdingbar ist.

(13.1.2.1.1.2.1) 09.11.2004, 18:40, Hans-Gert Gräbe: An dem Thema bin ich gerade auch mit Birgit Niemann in ihrem Projekt gesellschaft dran. Hier muss wohl genauer hingeschaut werden. Zunächst sehe ich eine Differenz zwischen dem Alltagsverhalten und dem Verhalten, aus dem heraus ich meine Stellung in der Gesellschaft definiere. Letzteres wird für vorkapitalistische Zeiten meist mit dem Subsistenzbegriff in Zusammenhang gebracht, d.h. (in hohem Grade) Eigenversorgung. Hier beginnt mit dem Kapitalismus (und der weiter fortschreitenden Arbeitsteilung - kausal natürlich anders herum) eine substanzielle Umkehr und diese primäre Orientierung auf Fremdversorgung bedeutet m.E., dass Bedürfnisse anderer in vollkommen neuen Dimensionen wahrgenommen werden müssen. Dazu zwingt der Markt zunächst (die ersten 200..300 Jahre). Darauf will ich hinaus. Es geht also nicht um das Überhaupt.

(13.2) Zwecksetzung 2, 20.08.2004, 16:26, Stefan Meretz: Wenn du von "Korngrößen" im Sinne von Zwecksetzungsinstanzen sprichst, so ist das irreführend: Die Entscheidungsinstanzen setzen keine Zwecke, sondern sie führen bereits gesetzte Zwecke aus, die allerdings nur abstrakt sind. Sie entscheiden nicht das "was" (es ist gesetzt: der (Mehr-)Wert), sondern nur das "wie" (ob mit Plastikbesteck oder Giftgas). Schon diese Schreibweise macht deutlich: "was" und "wie" sind verdreht. Diese Verdrehung drehst du klammheimlich zurück, in dem du behauptest, die dinglichen Artefakte repräsentierten eine Zwecksetzung. Dem ist nicht so: sie sind nur Füllung einer bereits erfolgten entfremdeten Zwecksetzung.

(13.2.1) 23.08.2004, 13:47, Hans-Gert Gräbe: Ich gehe davon aus, dass alle heutigen realen Prozesse aufgeladen sind mit Aspekten beider Perspektiven, der Tauschwert- und der Gebrauchswertperspektive. Aus der Tauschwertperspektive hast du natürlich recht. Aber was sich nicht tauschen lässt, das kann auch nicht verwertet werden. Also spielt das "was" durchaus auch für die Verwertung eine gewisse Rolle. Die von dir thematisierte "Verdrehung" ist Ausdruck der Dominanz der Geldmacht über die Wissensmacht. Mein Anliegen ist es, zunächst einmal das "Schlachtfeld" selbst zu analysieren.

(13.2.2) 23.08.2004, 13:49, Hans-Gert Gräbe: "Entscheidungsinstanzen setzen keine Zwecke ...": Wie nennst du es, wenn Menschen (und allg. gesellschaftliche Strukturen) aus einer komplex entstandenen Motivation heraus handeln? Anders als das Verfolgen von Zwecken? Zwecksetzen ist mit Abwägen und Handeln mit Entscheiden verbunden, oder? Und zweiteres setzt (im Normalfall, bei genügend wirkungsreichen Entscheidungen) ersteres voraus.

(13.2.3) 23.08.2004, 13:50, Hans-Gert Gräbe: Beim Korngrößendilemma geht es mir nicht um Entscheidungsinstanzen, sondern um die Reichweite der "Macht der Agentien", die bei jeder Entscheidung in Bewegung gesetzt werden, also die kausale Wirkreichweite von Entscheidungen auf die Interessen und Lebensumstände Dritter. Und wie weit die entscheidende Instanz überhaupt in der Lage ist, rein sachlich noch so etwas wie Verantwortung für die Entscheidung zu übernehmen. Letzteres hat etwas mit Abwägen und das mit Wissen zu tun.
In vorkapitalistischen Zeiten war beides wohl linear gekoppelt: Entscheidungen zu komplexen Problemen wurden in Führungszirkeln getroffen, die in der Lage waren (mehr schlecht als recht und immer schlechter als rechter), das zu einer verantwortungsvollen Entscheidungsfindung erforderliche Wissen zu konsultieren und zu bündeln. Und deren Machtposition (wenigstens auf längere Zeit) zu einem guten Teil davon abhing, wie weit die getroffenen Entscheidungen die intendierten Effekte auch wirklich hervorriefen.
Mit Marktwirtschaft als zentralem gesellschaftlichem Regulationsmuster ändert sich das. Übergang von der Kathedralen-Methode zur Basar-Methode. Jeder macht, was er will und für richtig hält (in groben Rahmen) und heraus kommt trotzdem keine Kakophonie. Im Gegenteil gibt es deutliche Synchronisationseffekte auf der Was-, der dinglichen Seite.
Auf dem klassischen Basar spielt Geld auch keine unwichtige Rolle. Allerdings gibt es dort wohl noch andere Regulative eher kooperativer Natur, die den Basar dann transparent machen. Das versuche ich hier für so was wie Markt generell auszuloten.

(13.2.3.1) von Stefan Merten (25.8.2004), 26.08.2004, 15:38, Hans-Gert Gräbe: "Letzteres [nämlich in der Lage sein rein sachlich Verantwortung für eine (weitreichende) Entscheidung zu übernehmen] hat etwas mit Abwägen und das mit Wissen zu tun." Es hat vor allem mit Kommunikation zu tun! Das Entwicklungsmodell Freier Software ist nicht deswegen erfolgreich, weil dort besonders weise Menschen agieren, sondern weil es ein permanentes Palaver über Gut und Böse, Richtig und Falsch gibt. Das ist eine Stärke dieses Produktivkraftmodells, die der Kapitalismus mit seinen institutionalisierten Produktivinstanzen (aka Firmen) nur schwer und wegen der Konkurrenz grundsätzlich nur begrenzt adaptieren kann.
Kommunikation - und Transparenz - angesichts des Internet hilft auch aus deinem Zentralproblem heraus. Durch das Internet ist das Potential für eine solche Kommunikation nämlich faktisch da. Praktisch wird es (nicht nur) in der Freien Software verwendet.
Davon abgesehen halte ich nicht viel davon, über Modelle zu spekulieren, die wir wohl kaum wirklich kennen. Ich kann mich jedenfalls weder in den Bau einer Kathedrale noch in das Leben auf einem Basar wirklich hinein versetzen. Davon abgesehen, dass es besser informierte Stimmen gibt, die sagen, dass das Kathedralen-Basar-Bild genau falsch herum ist.

(13.2.3.1.1) 27.08.2004, 09:08, Hans-Gert Gräbe: Was hast du für einen Wissensbegriff? Ist nicht "ein permanentes Palaver über Gut und Böse, Richtig und Falsch", ich setze fort: für mich nützlich und für dich nützlich - kurz, Kommunikation - die grundlegende Bewegungsform der Wissenssphäre? Was ist ein "weiser Mensch"? Und schreibe ich in diesem Text nicht die ganze Zeit fast nur von "Kommunikation und Transparenz"? Die Front kann ich nicht nachvollziehen.
Kathedrale und Basar: Es ist eine in der Szene gängige Metapher, die bei genauem Hinsehen wahrscheinlich wirklich auf dem Kopf steht. Setze hierarchische vs. kooperative Strukturiertheit, dann hast du das, was ich meine.

(13.3) Zwecksetzung 3, 20.08.2004, 16:48, Stefan Meretz: Nun wirst u.U. einwenden, dass "trotz" dominanter Verwertungslogik sich auf der dinglich-operativen Ebene eine "Eigenlogik" behaupten kann. Ja, das meine ich auch. Aber du blendest schnell diese unhintergehbare Verwertungslogik aus. Das ist nach meiner Ausffassung "zu einfach".

(13.4) Das Korngrößendilemma, 09.09.2004, 09:56, Hans-Gert Gräbe: Hier ist in meiner Argumentation ein zentrales Thema wohl noch nicht ausreichend untersetzt. Ich will es mit anderen Begriffen noch einmal versuchen: Es geht um Wirkmächtigkeit und Entscheidungsmächtigkeit.
Meine These: Während in allen vorkapitalistischen Gesellschaften beide Mächtigkeiten etwa proportional zueinander wachsen (und insbesondere Entscheidungen von gesellschaftlicher Tragweite, d.h. Wirkmächtigkeit, im Kreise von Clanführern und ähnlichen Vertretern des "ersten Stands", d.h. entsprechender Entscheidungsmächtigkeit, effektiv getroffen werden, ändert sich das mit dem Kapitalismus. Die Entscheidungsmächtigkeit wird deutlich zurückgestutzt (bis hin zu C. Spehrs "entfremdeten Herrschaftsformen im demokratischen Zeitalter") während die Wirkmächtigkeit der Handlungen weiter zunimmt (was nicht zuletzt individuellen Terror in den heute zu beobachtenden Ausmaßen erst möglich macht).
Einer solchen Schere werden nur Formen kooperativer Intelligenz etwas entgegenzusetzen haben. Intelligenzformen, die zunächst unreflektiert, äußerlich, in scheinbar entfremdeter Form daherkommen (ich habe hier den Markt als eine solche Form beschrieben).
In dem Zusammenhang ist es interessant, Marx' Kritik am Hegelschen Staatsbegriff noch einmal aufzurollen, wie ich aus einem Hegel-Seminar jüngst für mich mitgenommen habe: Hegels stark konstruktivistischer Zugang geht zentral von einem objektivierbaren Vernunftbegriff aus, der seine Quelle genau im Zusammenfallen von Wirk- und Entscheidungsmächtigkeit hat. Der (alte vorkapitalistische) Zustand der Gesellschaft hat also unmittelbare Auswirkung auch auf die Art der Theoriebildung. Marx' Ansatz, den "Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen" ist im Kern die Kritik dieses objektivierbaren Vernunftbegriffs. Stattdessen möge man von den "wirklichen Verhältnissen" ausgehen, vom lokalen Handeln der Menschen als des praktischen Ausgangspunktes ihrer (durch ihre individuelle Entscheidungsmächtigkeit nicht mehr voll in den Griff zu bekommenden) Wirkmächtigkeit. Kooperative Phänomene, so wäre an der Stelle Marx wohl zu verstehen, können nur durch Analyse der lokalen Bewegungsgleichungen verstanden werden.
Vielleicht ist es hier an der Zeit, nach These (Hegel) und Antithese (Marx) zu einer Synthese zu kommen, um die koevolvierende Dynamik von "Partialinteressen" und "Allgemeininteressen" (im Holzkampschen Sinne) besser zu verstehen und damit auch den Unterschied zwischen "Bourgeois" und "Citoyen" etwa im Open-Source-Bereich genauer zu fassen.

(13.4.1) 01.11.2004, 16:01, Hans-Gert Gräbe: Birgit Niemann machte mich darauf aufmerksam, dass die Aussagen über die Dynamik von Mächtigkeiten höchstens in einem durchschnittlichen Sinn zutreffen können. In dem Sinne meine ich sie hier aber auch nur.

(13.5) 13.10.2004, 13:11, Hans-Gert Gräbe:
Stefan Merten fragt per email (10.10.2004) an: Ich habe nicht verstanden, was hier ein Korn sein soll. Kannst du mal ein paar Beispiele angeben?
Meine Antwort: Das ist hier recht knapp und auch bei meinem Vortrag in KL etwas außen vor geblieben, aber relativ wichtig. Alles was du tust hat Auswirkungen auf andere. Ich rede damit nicht von einem "alles ist mit allem verbunden", sondern möchte mich auf genügend intensive Auswirkungen beschränken. Das "Kaffee-Beispiel", das Wolf in dem Zusammenhang gern bringt, illustriert diese Interdependenz sehr gut. Charakteristisch ist, dass diese Auswirkungen 1) für andere wesentlich, 2) vermittelt und 3) von dir höchstens in einer allgemeinen Form intendiert, jedoch nicht auf das konkrete Individuum bezogen gewollt sind (weil du die Nutzer deines Tuns meist ja auch gar nicht kennst). Die Macht der Agentien, welche du in Bewegung setzt, hat also eine deutlich größere Reichweite als der Bereich, in dem du selbst Zwecke setzen, d.h. planvoll und selbstbestimmt agieren kannst.
Für gesellschaftlich herausgehobene Personen, Clanführer usw., war das teilweise anders, da der Radius ihrer Zwecksetzungsvollmacht deutlich weiter reichte als der eines "normalen" Menschen. Was der Chef sagt, das wird gemacht. Über diese Institution (möglicherweise oligarchisch aufgebohrt - der Elitenansatz ist ein Relikt dieses Denkens) wurde lange der gesellschaftsweite Entscheidungsbedarf abgewickelt. Planwirtschaft war ein Rückfall in diesen Ansatz und ist deshalb an den heutigen Herausforderungen noch eher als die kap. Warenwirtschaft gescheitert.
Dieses Problem, nämlich in diesem klassischen Ansatz für gesamtgesellschaftlich relevante Entscheidungen über eine Struktur verfügen zu müssen, die in der Reichweite ihrer Entscheidungsmächtigkeit mit der Reichweite der Wirkmächtigkeit einer vernetzten Macht der Agentien mithalten kann, bezeichne ich als Korngrößendilemma. Das geht seit wenigstens 300..500 Jahren nicht mehr und Markt ist eine sehr radikale Antwort. Das ist m.E. auch die entscheidende zivilisatorische Errungenschaft von Marktwirtschaft. Heute brauchen wir aber mehr.

(13.6) 24.10.2004, 20:23, Hans-Gert Gräbe: Ich möchte noch einen weiteren Aspekt anschneiden, der mit meiner hier eingenommenen Perspektive aufscheint: Kapitalismus ist in diesem Sinne die erste Form menschlicher Vergesellschaftung, welche mit Unmündigkeit in größerem Maße bricht und damit eigentlich die erste Rohform einer freien oder offenen (Popper) Gesellschaft. Bitte keinen Aufschrei, sondern weiterlesen, denn so eine Positionsbestimmung verliert Entfremdung und Kommandostrukturen nicht aus dem Auge, sondern identifiziert sie als heute noch virulente Ausläufer einer eigentlich bereits vergangenen Epoche. Ich will diesen Gedanken in mehrere Teile zerlegen, damit er besser kommentierbar ist.

(13.6.1) 24.10.2004, 20:24, Hans-Gert Gräbe: Alle vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen beruhen auf kommandobasierten Zwecksetzungsmechanismen. Für den unmittelbaren Produzenten kommen diese Zwecke als äußerliche daher (vielleicht muss man hier noch genauer hinschauen und das auf Zwecke beschränken, deren Umsetzung ein gewisses Mindestmaß an Kooperation erfordert). Diese Mechanismen haben sich mindestens über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende (!) tief in die menschliche Psyche eingegraben mit wenigstens den folgenden Effekten: hohe Bedeutung von Autorität, monokausaler Zweckrationalismus (als Reflex monozentraler Herrschaftsstrukturen), Wahrnahme komplexer sozialer Phänomene als äußerlich und damit der Hang zu deren naturrechtlicher Reflexion.

(13.6.1.1) 28.10.2004, 22:37, Stefan Merten: Auch hier denke ich, dass du fundamentale Fehler machst. Was soll denn ein kommandobasierter Zwecksetzungsmechanismus sein? Ich bin inzwischen fest davon überzeugt, dass solche Fragen überhaupt nur vernünftig nur als Teil des OHA-Komplexes betrachtet werden können und in diesem ist es mit "kommandobasiert" halt nicht mehr so einfach.

(13.6.1.1.1) 01.11.2004, 15:54, Hans-Gert Gräbe: "... ist es mit 'kommandobasiert' halt nicht mehr so einfach". Genau das ist der Kern des Korngrößendilemmas. Habe ich das so unklar formuliert?
Das heißt aber auch, dass Mechanismen lange funktioniert haben, die heute nicht mehr bzw. wenigstens nur noch anachronistisch funktionieren. Die Mechanismen möchte ich gern genauer benennen, bevor ich mich in die Benennung von Differenzen begebe. Spehr hat hier mit der Beschreibung des "vordemokratischen Zeitalters" in seinem Alien-Buch gut vorgelegt.

(13.6.1.2) 28.10.2004, 22:37, Stefan Merten: OHA-Systeme sind m.E. vor allem dazu da, bestimmte Zwecke in einem Kollektiv zu erfüllen. Wenn du von kommandobasiert sprichst, dann meinst du vermutlich Entfremdungsprozesse vom Zweck des OHA-Systems. Die kann es aber in jeder Gesellschaftsformation geben. Immanent widersprüchliche Interessenlagen im gleichen OHA-System wie sie im Arbeit-/Kapital-Verhältnis eingebaut sind, sind natürlich besonders heikel.

(13.6.1.2.1) 01.11.2004, 16:05, Hans-Gert Gräbe: Besonders in Zeiten, wo es längst nicht mehr darum geht, wie lange gearbeitet wird, sondern vor allem, was. In einer Zeit, wo die abstrakte Wertform als Maß des "wie lange" zunehmend ein Anachronismus wird, weil sie daran hindert, über die wirklichen Probleme auch nur zu sprechen. Diese Verschiebungen versuche ich mit meiner These vom Dominanzwechsel der Leitsozialisation in den Blick zu bekommen.

(13.6.1.3) 01.11.2004, 15:49, Hans-Gert Gräbe: Mit den OHA-System(en?) scheine ich was verpasst zu haben. OHA = Ordnung, Herrschaft, Anarchie? Leider bin ich bei einem - zugegeben oberflächlichen - Scan von ox auch nicht viel schlauer geworden als dass es sich um ein seit längerem präsentes Thema aus der Spehrschen "Ecke" zu handeln scheint. Wie gesagt, ich lese dort aus Zeitgründen nicht mit. Hast du mal einen Pointer, damit ich mich komprimiert informieren kann?
Ansonsten geht es wohl um dasselbe Thema, nämlich wie kooperative Effekte gestern, heute und morgen (hoffentlich anders) in die Welt gesetzt werden. Statt "Zwecksetzungsmechanismen" kannst du gern "Entscheidungsstrukturen" setzen. Meine Begriffs-Schöpfung kommt aus der Ecke "zweckmäßige Arbeit" und möchte neben der Frage, wie das Bild in den Kopf des Baumeisters kommt, auch der Frage nachspüren, wer den Zweck gesetzt hat, dass gerade ein solches Haus auch gebaut werden soll (da der Baumeister bei Marx ja "nur" zweckgeleitet arbeitet).
Wer also dem Baumeister das Kommando gegeben hat. Ist ja schließlich das pure Gegenteil von "freiem Unternehmertum". Und ob es in vorkapitalistischen Zeiten auch schon so was gegeben hat und wie verbreitet das (wenigstens für das Erzielen kooperativer Effekte) war.

(13.6.2) 24.10.2004, 20:25, Hans-Gert Gräbe: Kapitalismus bricht mit dieser Tradition. Wie oben beschrieben einerseits radikal (freies Unternehmertum), andererseits halbherzig, denn es wird das alte (und wenigstens auf psychischer Ebene wohlfeile) Kommandoverhältnis auf der letzten der möglichen Stufen reproduziert, dem Verhältnis zwischen dem "freien" Unternehmer und den von ihm ausgebeuteten Arbeitskräften. Das mag auch Gründe im Stand der Produktivkräfte haben, zeigt aber, dass gegenüber vorkapitalistischen Verhältnissen nur noch ein kleiner Schritt zu einer wirklich freien Gesellschaft erforderlich ist: Diese letzte Bastion autoritativer Kommandostrukturen ist zu schleifen. Moderne Produktionsorganisationsformen sind da bereits fleißig am Werk ("macht, was ihr wollt, aber seid profitabel", wertförmige Organisation innerbetrieblicher Abläufe).

(13.6.2.1) 28.10.2004, 22:38, Stefan Merten: Dein ganzer Impetus ist typisch links: Wir setzen die Freiheit durch, die bürgerliche Gesellschaft von ihrer Anlage her verspricht. Ich halte das für absolut out-dated. Es geht einfach nicht darum, die Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft durchzusetzen, sondern sie auf / in höherer Stufenleiter aufzulösen.

(13.6.3) 24.10.2004, 20:26, Hans-Gert Gräbe: Nun kommen natürlich alle Diskussionen zu Entfremdung, automatischer Exekution des Wertmechanismus etc. ins Spiel, die einer solchen Argumentation entgegenhalten: Selbst wenn (nur) diese Bastion geschleift ist, kommst du nicht aus dem Teufelskreis der Wertverwertung heraus. Das bliebe weiter zu diskutieren, denn hier liegen zwei so fundamental verschiedene Prinzipien im Clinch, dass sich kurzschlüssige Argumentationen verbieten, weil sie sich immer wieder befragen lassen müssen, ob bzw. in welchen wohlfeilen Argumentationsmustern sie sich verfangen haben. Hier muss die Tradition kritischer Theorie mit dem erforderlichen Tiefgang aufgenommen werden.

(13.6.4) 24.10.2004, 20:27, Hans-Gert Gräbe: Die kritische Theorie der 20er und 30er (und wohl auch der 50er und 60er) hat ihre Wurzeln im Versuch, die hier aufgerissene Problematik theoretisch zu verstehen. Die starke psychoanalytische Komponente ist kein Zufall.

(13.6.5) 28.10.2004, 22:37, Stefan Merten: M.E. machst du hier den fundamentalen Fehler, historische Prozesse und vergangene Gesellschaftsformen mit deiner heutigen Messlatte misst. Mündigkeit ist m.E. nicht ein absoluter Wert, genauso wenig wie freie / offene Gesellschaften. Das sind sie alle nur in unserem, durch diese freie / offene Gesellschaft geprägten Wertesystem. Für uns sind sie wichtig - für einen mittelalterlichen Menschen sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Graus. Nicht zuletzt weil sie psychische Anforderungen stellen, die sie gar nicht bringt.

(14) Dieser Schritt vom WIR zum ICH, zu inhaltlicher Selbstbestimmung, welche auf dem Markt als (noch blindem) Netzwerk und Kommunikationsmedium solcher lokaler Zwecksetzungsvollmachten ihre Sozialisierung erfährt, zu einer solchen extrem zukunftsträchtigen Lösung des bisherigen Korngrößendilemmas, ist allerdings mit einem Pfedefuß behaftet: Das Sozialisierungsmedium Markt ist aus sich heraus, die radikale Konsequenz der immer unzulänglicheren Beachtung dinglicher Logiken in den bis dahin wirkenden Entscheidungsstruturen ziehend, nun gar nicht mehr in der Lage, dingliche Logiken zu transportieren. Es wird der lokalen Intelligenz der Zweck setzenden Markteinheiten überlassen, dies hinter dem Rücken des Marktes zu verhandeln, wozu über die Jahrhunderte eine ausgefeilte Verhandlungsstruktur, der gesamte gesellschaftliche Überbau, entwickelt wurde.

(15) Diese Medaille hat allerdings zwei Seiten, und Marx betrachtet zu Recht vor allem die andere: Die Entfremdung der Produzenten von ihren Produktionsbedingungen, denn es ist in erster Linie nicht die Verhandlungsmacht dinglicher Logiken, welche die heutige gesellschaftliche Dynamik erzeugt, sondern die "blinde tautologische Selbstbewegungsstruktur des Geldes" (Kurz, [7, S. 290]), die entfremdete abstrakte Wertform, auf welche alle dingliche Logik durch diesen Markt reduziert wird. Lokal sieht alles gut aus, aber das große Koordinatensystem stimmt (noch) nicht.

(15.1) 20.08.2004, 16:54, Stefan Meretz: Hier ist das Beispiel für das "Ausblenden": Natürlich ist dir klar, dass die Wertlogik von allem konkret-dinglichen absieht. Aber du machst sie zu etwas Sekundärem, zu etwas eigentlich Überflüssigen, zu einem Wurmfortsatz. Das ist das "alte" Schema vom guten Gebrauchswert, der nur seine schlechte Hülle des Tauschwerts verlieren müsse. Eben das funktioniert nicht, da "Lokales" und "Großes" nicht voneinander trennbar sind, sondern das "Große" das "Lokale" durchdringt. Das "Ding" ist nicht "unschuldig", lokal sieht es in aller Regel gar nicht gut aus (nimm aktuell den Übergang zum Forschungsklonen).

(15.1.1) 23.08.2004, 14:26, Hans-Gert Gräbe: Lokal sieht auch das Forschungsklonen gut aus, denn es hilft den Involvierten, (innerhalb des perversen globalen Koordinatensystems) ihre akademischen Karrieren zu befördern. Ich will hier aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten und frage, ob die lokalen Bewegungsgleichungen selbst pervers sind oder nur die Lösungen, die sich bei perversen Randbedingungen einstellen. Oder mit Kurz: Ich sehe wie er hier die "kommunistische Vernetzung auf der Sachebene".

(16) Die Beachtung dinglicher Logiken setzt das Wissen um dieselben voraus, so dass es an der Zeit ist, im hier vorgetragenen Argumentationsfaden auch Aspekte des Wissens und der Reproduktion der gesellschaftlichen Wissensbasis einzuflechten. Wissensproduktion erfolgte auch unter kapitalistischen Bedingungen bisher zum überwiegenden Teil "hinter dem Rücken des Marktes", in einer speziell alimentierten und einem eigenen ausgefeilten Regelwerk folgenden Sphäre der Gesellschaft -- der Wissenschaftssphäre. Die Ökonomisierung wissenschaftlicher Ergebnisse ist ein ganz eigenes Problem, denn wie schon Marx feststellte:

Wie mit den Naturkräften verhält es sich mit der Wissenschaft. Einmal entdeckt, kostet das Gesetz über die Abweichung der Magnetnadel im Wirkungskreis eines elektrischen Stroms oder über Erzeugung von Magnetismus im Eisen, um das ein elektrischer Strom kreist, keinen Deut. [8, S. 407]
und weiter in der Fußnote
Die Wissenschaft kostet den Kapitalisten überhaupt "nichts", was ihn durchaus nicht daran hindert, sie zu exploitieren. Die "fremde" Wissenschaft wird dem Kapital einverleibt wie "fremde" Arbeit. "Kapitalistische" Aneignung und "persönliche" Aneignung, sei es von Wissenschaft, sei es von materiellem Reichtum, sind aber ganz und gar disparate Dinge. ...
An den wenigen Stellen, an denen sich ökonomische und Wissenschaftssphäre überlappten, waren spezielle Sicherungsvorkehrungen wie etwa das rechtliche Instrument der Patente einzubauen, um die notwendigen Interessenabwägungen zu operationalisieren, welche weder die Wissenschaft noch die Ökonomie je allein aus ihrem inneren Regelwerk heraus in der Lage waren zu behandeln.

(17) Entgegen all dieser historischen Erfahrung, die eher zur Vorsicht mahnt, wird im Rahmen neoliberaler Politikansätze vehement versucht, marktwirtschaftliche Regulationsmechanismen in die Wissenssphäre hineinzutragen. Welche Auswirkungen haben solche Regluationsmechanismen in einer ihnen scheinbar unangemessenen Umgebung? Dazu ist es lehrreich, die Reproduktionsanforderungen von produktiver Arbeit, für welche ja die Marktmechanismen "gemacht wurden", und von Wissen gegenüberzustellen. Ich hatte bereits an anderer Stelle [3] eine Gemeinsamkeit ausgeführt: Dass beide ihren aktiven Träger im individuellen Bereich haben, die volle Wirkung sich aber erst im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang entfaltet, so dass es Sozialisierungsprozesse sowohl von produktiver Arbeit als auch von Wissen gibt. Ebenda hatte ich dann weiter ausgeführt, dass marktwirtschaftlich geprägte Vergesellschaftungsformen produktiver Arbeit und Formen der Vergesellschaftung von Wissen unterschiedlichen inneren Logiken folgen. Ihre normative und zugleich gesellschaftskonstituierende Wirkung geht von völlig unterschiedlichen Prämissen aus.

  1. (18)

  2. Der klassische Produktmarkt ist zwar gesellschaftlich vermittelt, reduziert sich aber letztlich auf ein -- zudem sehr individuelles -- 1-1-Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, das zusätzlich von einem Wechsel dinglicher Eigentumsrechte im Rahmen des Verkaufsvorgangs begleitet wird.

    Dagegen kann man am eigenen Wissen und an Informationen viele andere partizipieren lassen, ohne dass dieses sich auch nur im mindesten verbrauchen würde. Wissen ist damit in der Lage, sich zu verbreiten und (in einem gesellschaftsrelevanten Sinne) zu "vermehren".

    (19)

  3. In einem klassischen Verkaufsvorgang haben, wie Marx nicht müde wird zu betonen und wie oben noch einmal herausgearbeitet wurde, Verkäufer und Käufer klare Vorstellungen von der Nützlichkeit des auszutauschenden Produkts. Mehr noch, für das Funktionieren marktwirtschaftlicher Mechanismen ist es wesentlich, dass diese Vorstellung nicht erst zum Zeitpunkt des Austausches, sondern bereits vor der Produktion der Ware selbst im Kopf des Produzenten existiert. Produktive Arbeit ist in diesem Sinne zweckgerichtete Arbeit und als solche planbar.

    Derartige A-priori-Vorstellungen gibt es für die meisten "geistigen" Produkte nicht. Im Gegenteil, es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass der Nutzen wissenschaftlicher Arbeit erst im Nachhinein zu beurteilen ist und sich ein solcher Nutzen oft in kausal und auch zeitlich überraschender Form auf eine im Voraus nicht transparente Weise manifestiert und damit in dieser Form weder vorherseh-, geschweige denn planbar ist. Mehr noch, eine Beschränkung der Betrachtung auf in diesem Planbarkeitssinne "nützliches" Wissen blendet die für gesellschaftlichen Fortschritt entscheidenden, ja vielleicht alle "interessanten" Wissensformen aus.

    (20)

  4. Eng damit verbunden ist der Umstand, dass die Vergesellschaftung und Reindividualisierung, die beiden Phasen der Sozialisation, die bei einem auf dem klassischen Markt ausgetauschten materiellen Produkt unmittelbar und inhärent miteinander verzahnt sind und der Übergabe eines Staffelstabs gleichen, bei den meisten geistigen Produkten nicht nur zeitlich, sondern auch kausal weit auseinanderfallen können.

(21) Während der Markt also mit den Kategorien Eigentum und Ware eine gesellschaftlich vermittelte Individualität erzeugt, ist Wissen in diesem Sinne eine individuell vermittelte Gesellschaftlichkeit. Als solche ist es, im Gegensatz zu Waren, auch in Teilen nicht vernünftig privatisierbar, ohne seine Reproduktionsfähigkeit existenziell in Frage zu stellen.

(22) Wissen ist in diesem Sinne zugleich Teil einer Infrastruktur, in welche produktive Aktivitäten eingebettet sind. Ohne Existenz dieses Substrats würden die einzelnen produktiven Aktivitäten schlicht vertrocknen oder noch eine Weile vor sich hin laufen und dann zum Erliegen kommen. Es ist deshalb nur zu verständlich, dass infrastrukturelle Fragen heute eine deutliche Aufwertung als Fokus von Managementaktivitäten erfahren haben. Schlagworte aus dem betriebswirtschaftlichen Kontext wie Geschäftsprozessmodellierung, Qualitätsmanagement, CRM, B2B, SCM usw. belegen dies.

(23) Da wir festgestellt hatten, dass marktwirtschaftliche Regulationsmechanismen für diesen Bereich -- vorsichtig gesagt -- wenig geeignet sind, also eine alleinige Orientierung an einem wie auch immer berechneten Return on Invest zu sehr zweifelhaften Ergebnissen führt, wollen wir uns in der weiteren Argumentation vom Geldmaß im engeren Sinne lösen und die allgemeinere Frage stellen, wie man in einer solchen Umgebung in eine vielleicht primär nicht geldwerte, aber wenigstens vorteilhafte Position kommt.

(24) Hier sind zwei grundlegend verschiedene Herangehensweisen zu beobachten. Die eine gruppiert sich um den Ansatz des Informationsvorteils: Ich bin im Vorteil, wenn ich über möglichst viele Informationen anderer verfügen kann, selbst aber so wenig wie möglich Informationen preisgebe. In diesem Kontext hat Handel mit Informationen einen Sinn und Konzepte wie geistiges Eigentum, Copyright, DRM und so weiter ergeben sich auf natürliche Weise. Allerdings zeigt diese unvoreingenommene Formulierung des Prinzips schon dessen hochgradige Asymmetrie, so dass Unternehmen, welche einer solchen Vorteilsstrategie folgen, kaum Partner auf Augenhöhe finden werden, und mit jedem solchen Partner auf Augenhöhe sofort ein Ringen um Dominanz einsetzen wird. Unternehmen mit einem solchen Vorteilsbegriff sind gezwungen, "sich zu vernetzen, ohne sich zu vernetzen", wie Wolf Göhring [2] deren Dilemma treffend auf den Punkt gebracht hat. Subdominante Unternehmen befinden sich in einem ständigen Abwehrkampf, bis sie begriffen haben, dass es in einem infrastrukturell abgrenzbaren Marktsegment nur einen Marktführer geben kann, der dann aber auch einen entscheidenden Teil der Verantwortung für die Reproduktion der gemeinsamen Infrastruktur "am Hals" hat. Ein Prinzip, das zu Marktführerschaft, in der Softwarebranche zu monolithischen Systemen und zu einer Kathedralenstrutur im Sinne von Eric Raymonds berühmtem Aufsatz [11] führt. Es ist die Wiedergeburt "realsozialistischer" Strukturen im Kleinen und eine für kapitalistische Verhältnisse auf den ersten Blick sehr attraktive Lösung. Sehr attraktiv allerdings nur in einem statischen Kontext: Einmal eine Erfindung machen und dann Geld scheffeln bis zum Abwinken. Den Traum haben schon viele geträumt, nicht zuletzt in der Boom-Welle der New Economy, aber noch kaum jemand realisiert; er liegt auch dem Verständnis von Software als Produkt zu Grunde. Dieser Traum ist allerdings wohl auch eine der zentralen Ursachen für den ungeheuren Druck, mit dem heute versucht wird, das Konzept mobilen geistigen Eigentums umfassend gesellschaftsfähig zu machen.

(25) Dieses Vorteilsprinzip hat einen weiteren entscheidenden Haken: es hilft nicht bei der Lösung des "Korngrößendilemmas", denn es skaliert genauso schlecht wie das vorkapitalistische und das realsozialistische Gesellschaftsmodell, da die Größe des "dicksten Korns" immer in der Nähe der Größe des Gesamtsystems bleibt.

(26) Das andere Vorteilsprinzip ist das des Kompetenzvorteils. In einer Infrastruktur von allgemein freizügig zur Verfügung stehenden Wissensbausteinen ist das Unternehmen im Vorteil, welches diese Bausteine besonders gut für spezielle Anforderungen zu praktisch relevanten Lösungen zu kombinieren vermag. Diesen Vorteil erreicht ein Unternehmen, wenn es besonders eng mit dieser Infrastruktur verbunden ist und eine Vielzahl von Wurzeln ausgeprägt hat, mit denen es dort verankert ist. Eine fette Frucht auf einem dünnen Stengelchen wird sich da kaum nachhaltig ernten lassen. Mit Blick auf das Korngrößendilemma skaliert ein solches Vorteilssystem perfekt und erlaubt es auch, spezialisierte Teilkompetenzen in einem übergreifenden Netzwerk auszubilden, welche mit ähnlich großen, anders spezialisierten Teilkompetenzen auf Augenhöhe kooperieren können ohne sich in dauernde Ringkämpfe begeben zu müssen.

(26.1) zur Theorie des Kompetenzvorteils..., 11.06.2004, 15:55, René Hartmann: Rein Ideologisch betrachtet kann ich mich Deiner Argumentation zu beinahe 100% anschließen. Doch wie alle Theorien, die nach abstrakten Ideologien verfasst werden, hat auch Deine eine kleine aber explosive Archillisferse, über die auch der von Dir viel zitierte Marx bereits gestolpert ist. Die Gesellschaft ist in Ihrer Vielzahl und Vielfalt an Individuen nicht als homogene vernünftige Masse zu begreifen, sondern als Anhäufung Zahlreicher Klein- und Kleinstgesellschaften mit den unterschiedlichsten Werte- und Bildungsstandards. Viele dieser Klein- und Kleinstgesellschaften verfolgen Ziele und vertreten Werte, die Dir und mir als zutiefts unvernünftig, manche gar selbstzerstörerisch erscheinen mögen, was aber nichts an Ihrer Existenz ändert. Ein System das sich durch einzelne \"schwarze Schafe\" aushebeln lässt ist auf lange Sicht nicht tragfähig. Vorallem da die Zahl der Nachamer nach kurzer Zeit exponentiell, zum sinkenden individuellen Scham- und Schuldempfinden wächst. Ein schönes Beispiel hierfür ist die \"allgemeine gesellschaftliche Ächtung\" von Steuerhinterziehern (\"Da schau Peter, der machts richtig!\"). Ein einziger unartiger Unternehmer, der einen einzigen moralisch Schwachen genialen Wissenschaftler (Erfinder, Entdecker, Entwickler) und dessen genialen Wissensbaustein vor Veröffentlichung einkauft, bringt in Dein dynamisches System bereits eine Unwucht hinein, die nicht mehr auszugleichen ist. Dennoch finde ich es wichtig idealisierte Systeme zu publizieren, zu fordern und vor allem zu diskutieren, weil sie eines ganz sicher vermögen: Sie eröffnen neue Sichtweisen auf die ein und die selbe zu behandelde Problematik und tragen somit mit Ihren Thesen zur Lösungsmenge bei.

(26.1.1) Re: zur Theorie des Kompetenzvorteils..., 14.06.2004, 09:32, Hans-Gert Gräbe: Ich stimme dir zu, dass die Motivationen, sich so (oder anders) zu verhalten, sehr vielfältig sein können. Andere als eine solche, von dir als "abstrakt ideologisch" bezeichnete, Argumentationslinie zum selben Thema findest du in anderen MTB-Projekten in diesem Thread. Mir ist hier der Vorteilsbegriff wichtig, weil er die Anschlussfähigkeit an ökonomische Diskurse herstellt, ohne deren Fixierung aufs Geld zu übernehmen. So bekommt man die "Anhäufung zahlreicher Klein- und Kleinstgesellschaften mit den unterschiedlichsten Werte- und Bildungsstandards" (eben die von mir angesprochenen vielfältigen dinglichen Logiken) auch in einer marktwirtschaftlich geprägten Argumentation in den Blick.
Die Geschichte mit den schwarzen Schafen hat schon G.Hardin 1968 in seiner "Tragedy of the Commons" beschrieben. Und ich frage ja gerade, warum Leute wie Soros oder Firmen wie IBM nicht unerhebliche Geldsummen in diesen Bereich investieren, obwohl sie eigentlich mit diesem Effekt rechnen müssten. So einfach wie du es hier darstellst scheint die Materie also nicht zu sein.

(26.1.1.1) Korrektur, 14.06.2004, 15:42, René Hartmann: Sollte bei Dir der Eindruck entstanden sein, dass ich mir der Komplexität der Materie nicht bewusst bin, hat mein Kommentar das Gegenteil von dem Gewünschten bewirkt. Eigentlich wollte ich zu bedenken geben, dass aufgrund der Komplexität der "vielfältigen dinglichen Logiken", die Materie, ohne deren direkte Berücksichtigung als Grundsatz in einer der Hauptthesen, nicht ergebnisorientiert bearbeitbar ist.
Ohne Absicherung gegen den Missbrauch des von Dir formulierten Systems ist es schlussendlich nicht praktikabel. Zu der von Dir gestellten Frage warum Soros und Firmen wie IBM vom heute vertretenen ökonomischen Standpunkt aus scheinbar unsinnige Investitionen tätigen jeweils ein Antwortversuch:
Soros ist ein siebzigjähriger Multimilliardär. Eine recht passende Kurzbiographie findest Du z.B. hier: http://boerse.ard.de/content.jsp?go=sw0&key=dokument_53524 Ich möchte mich hier vor allem auf eine Aussage berufen: "Doch was macht man mit sieben Milliarden Dollar, wenn man über 70 ist? Man versucht, die Welt zu verändern." Die Beweggründe für Sein soziales Engagement vermag ich nicht zu beurteilen, das ist auch nicht wichtig. Vielleicht versucht er so einen guten Nachruf zu kriegen, oder er will der Welt wirklich ein wenig von dem zurückgeben was er (nicht immer ganz sauber) bekommen hat. Egal, es ist die subjektive Entscheidung eines sehr reichen, alten Mannes. Im eigentlichen nichts anderes als Berlusconi in Italien. Nur das der nicht so alt ist und wirtschaftspolitisch in einer anderen Ecke steht.
Warum IBM in Linux investiert, hast Du schwarz auf weiss in Deinem Zitat aus der heise Meldung stehen: "Schon jetzt seien 1500 IBM-Programmierer damit beschäftigt, Business-Software nach Linux zu portieren.(...)Es gibt Einschätzungen, dass Linux an Windows NT vorbeiziehen und eine höhere Verbreitung finden wird." Es sieht so aus als versucht IBM sich aufgrund der öffentlich zur Verfügung gestellten Wissensbausteine (Linux) einen Kompetenzvorteil zu verschaffen. Das Problem ist aber, das IBM nicht mit Microsoft, oder Sun auf dem Betriebssystem Sektor konkurriert, sondern auf dem Application Sektor. IBM vereinnahmt also typisch kapitalistisch kostenloses Know-How; und wenn sich die Vorhersage bewahrheitet, dass "Linux an Windows vorbei zieht", dann ist, in anbetracht des Wettbewerbsvorteils von IBM dann, auch ohne Probleme ein Return-on-investment von einer Milliarde durchaus realistisch. Schließlich ist der Application Markt weltweit einige 100Mrd. Euro wert.

(26.1.1.1.1) 23.08.2004, 14:47, Hans-Gert Gräbe: Ich habe nach wie vor Probleme damit, wenn du das, was ich hier aufgeschrieben habe, als (ideologisches) "System" bezeichnest, von dem ich meinen würde (so verstehe ich dich), dass man ihm nur zu folgen bräuchte und alles würde besser. Es ist nur der Versuch, einen Standpunkt zu finden, von dem aus die entscheidenden Elemente der heutigen Dynamik einigermaßen deutlich sichtbar sind, also ein sehr beschränkter und rein analytischer Anspruch. Und weit jenseits von irgend welchen Fragen von Praktikabiliät.
Da Soros trotz seiner 7 Mrd. ein denkender Mensch ist und nicht (nur) im Kasino und an der Börse zockt, freut es mich natürlich, wenn er dabei zu ähnlichen Einschätzungen wie ich kommt und sich dann ganz praktisch beim Thema IPR auf die "falsche Seite der Barrikade" und gegen die Mehrheit seiner Börsenkollegen stellt. Und dezidiert so was wie die BOAI unterstützt.
Die Rechnungen von IBM liegen auf der Hand und ich gehe mal davon aus, dass sie auch weitgehend aufgehen werden. Die Auswirkungen auf die hier thematisierte Frage des hegemonialen Ringens zwischen Geld- und Wissensmacht sind in diesen Rechnungen aber kein Posten.

(27) Einzige Bedingung für ein solches Vorteilsmodell ist die Existenz, Pflege und Reproduktion eines freizügig nutzbaren Pools von Wissensbausteinen. An dieser Reproduktion müssen sich alle Nutzer mit vergleichbarem Aufwand beteiligen oder -- genauer -- über diese Frage muss fair und ergebnisorientiert verhandelt werden können. Die Bedingungen dafür sind gut, denn einerseits enthält eine gemeinsame Wissensinfrastruktur eine Kommunikationsinfrastruktur als konstituierenden Bestandteil, und andererseits ziehen alle beteiligten Seiten aus dieser Form von Kooperation Vorteil und werden deshalb deren Scheitern nur unter außergewöhnlichen Bedingungen riskieren. Die Parallelen zu Holzkamps berühmter Argumentation zum Verhältnis von Partialinteressen und Allgemeininteresse in [5] sind augenfällig.

(27.1) 20.08.2004, 17:07, Stefan Meretz: Hier ist - wie ich oben befürchtet habe - die umgreifende und alles durchdringende von jeder Sinnlichkeit abstrahierende Verwertungslogik nun vollends verschwunden. Dabei ist deine Überlegung des Kompetenzvorteils überzeugend - aber NUR unter Bedingungen der Verwertungsfreiheit, also Bedingungen, wie sie nun in ihren Resten im Wissenschaftsssystem gerade aufgegeben werden. "Existenz, Pflege und Reproduktion eines freizügig nutzbaren Pools von Wissensbausteinen" ist also nicht die "einzige Bedingung", Wertfreiheit ist die unumgänglich weitere, ich meine sogar, primäre Bedingung (im Sinne von: notwendig, aber nicht hinreichend).

(27.1.1) 23.08.2004, 15:03, Hans-Gert Gräbe: Keineswegs. Auf der Oekonux-Konferenz in Wien hatte es genügend Beispiele von Firmen, die mit freier Software Geld machen. Und zwar im Dienstleistungsgeschäft, in dem sie ihre Kompetenz und Kenntnis anbieten, auf der Basis von Linux angepasste IT-Lösungen zu stricken und auch zu warten. Und das ginge überhaupt nicht ohne diesen Pool von Wissens- (hier Software-)Bausteinen und es funktioniert auch nicht, wenn dieser Pool seine Dynamik verliert. Reproduktion der Infrastruktur als essentielle Voraussetzung der Reproduktion der eigenen Geschäftsgrundlage. Noch dazu kooperativ wesentlich günstiger als jede(r) für sich. "Jeder nach seinen Fähigkeiten", nicht mehr - aber auch nicht weniger (siehe die Diskussion in Wien mit Georg Pleger). Ist dir das nicht deutlich genug als Illustration der damals sicher visionären Argumentation von Klaus Holzkamp? Siehe auch (30)

(27.1.1.1) von Stefan Merten (25.8.2004), 26.08.2004, 15:39, Hans-Gert Gräbe: "Auf der Oekonux-Konferenz in Wien hatte es genügend Beispiele von Firmen, die mit freier Software Geld machen." Mir wäre es lieb, wenn wir mit dieser Redeweise mal aufhören könnten. Es suggeriert, dass diese Firmen "mit Freier Software" so Geld machen, wie es VW mit dem Verkauf von Autos tut. Das ist aber Unfug - oder gibt es auch nur ein Gegenbeispiel? Um bei dem Vergleich zu bleiben: Was diese Firmen tun ist als Reparatur- und Wartungswerkstätte aufzutreten bzw. (Einfach Freie) Einzelanfertigungen herzustellen. Selbst SuSE/Novell verdient nicht "mit Freier Software" Geld in dem Sinne, in dem VW - oder auch M$ mit proprietärer Software - das tun. Sie verkaufen vielmehr bestimmte Dienstleistungen. Das auch deutlich in der Sprechweise zum Ausdruck zu bringen - z.B.: Verdienen Geld mit Services rund um Freie Software - fände ich einen klärenden Beitrag zur Debatte.

(27.1.1.1.1) 27.08.2004, 09:12, Hans-Gert Gräbe: Da gebe ich dir Recht. Wir sollten vielleicht "auf der Basis freier Software" oder noch präziser "in der Infrastruktur freier Software" sagen und "Geschäftsmodelle entwickeln" statt "Geld machen".

(28) Das System "Vorteil durch Kompetenzvorsprung" skaliert im Gegensatz zum Ansatz "Informationsvorteil" sehr gut. Sein einziger Nachteil: es ist ein dynamisches Vorteilskonzept. Ein Vorsprung heute ist keine Gewähr für den Vorsprung morgen. Dieser Nachteil ist allerdings zugleich ein Vorteil. Dinosaurier bringen diese Flexibilität nicht auf. Es gibt eine (für jedes System spezifische) optimale Größe, jenseits welcher weiteres Wachstum in wachsende Inflexibilität umschlägt. "Vernünftiges" Wachstum endet nach einer Initialisierungsphase bei einer systemimmanenten optimalen Korngröße, so dass sich die "gleiche Augenhöhe" mit einem gewissen Reifegrad des Systems praktisch von selbst eingestellt hat.

(29) Auf die Softwarebranche heruntergebrochen landen wir bei modernen komponententechnologischen Ansätzen, dem Verständnis von Software als Prozess und Eric Raymonds "Basar". Grundlegendes konstituierendes Element ist eine von den Beteiligten ständig zu reproduzierende Infrastruktur aus hochwertigen Softwarebausteinen von allgemeinem Interesse, wie sie heute etwa auf http://SourceForge.org verfügbar ist, und wo es auch keinen Grund gibt, Quellen geheim zu halten. Die Parallelen zu weiterführenden Ansätzen wie http://www.DesignForge.org oder http://www.Open-Craft.org, welche auf der 3. Oekonux-Konferenz [10] vorgestellt wurden, sind offensichtlich und einer gesonderten Betrachtung wert, die einer anderen Publikation vorbehalten bleiben soll.

(30) Statt dessen möchte ich einige weitere Überlegungen zur Dynamik eines solchen kooperativen Netzwerks kompetenter Akteure entwickeln. Ich hatte bereits begündet, dass dieses aus dem Ansatz des Kompetenzvorteils abgeleitete Modell über verschiedene Korngrößen perfekt skaliert und damit als Struktur auch auf größere gesellschaftlichen Zusammenhänge übertragen werden kann. Wie verhält es sich zum Marktkonzept? In den obigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass sich dieser Abgleich von Kompetenzen und damit dinglicher Logiken schon immer hinter dem Rücken des Marktes abgespielt hat. In diesem Sinne ist es kein neues Phänomen. In der entstehenden Kompetenzinfrastruktur, dieser Kommunikationsinfrastruktur dinglicher Logiken, kann dieser Abgleich allerdings viel zuverlässiger erfolgen als je zuvor und "der Markt wird transparent". Wird er damit obsolet? Nach meinem Verständnis nein, denn er verliert die Funktion des großen Koordinatensystems (und hat diese Funktion in den letzten Jahrzehnten schon zunehmend verloren, wie die zuerst vom IBM-Betriebsratsvorsitzenden Wilfried Glißmann thematisierte, inzwischen weit verbreitete Devise "Macht, was ihr wollt, aber seid profitabel" belegt, siehe etwa [1]), nicht aber die Funktion des Aufwandsabgleichs innerhalb gelingender "Marktkontakte". Diese Funktion -- das zeigen viele Beispiele umfassender Systeme gelingender Kooperation -- wird in der einen oder anderen Form bleiben. Allerdings wird diese Aufwandsanalyse ihres entfremdeten Charakters und wohl auch der Geldform entkleidet sein, denn innerhalb des allgemeinen Kommunikationsprozesses kann man sich auch über die Formalien der Aufwandsanalyse viel präziser einigen als dies durch einen Rückzug auf die Geldform als allein selig machendes Prinzip möglich ist. Diese Aufwandsanalyse bildet das zu sammelnde Material, um bei Bedarf auch einmal über Gerechtigkeit zu reden und könnte Teil eines allgemeinen Qualitätssicherungsprozesses sein, in dem sowieso eine Vielzahl von Metriken eine Rolle spielen und über welchen sich die dinglichen Logiken individueller menschlicher Aktivitäten viel genauer sozialisieren ließen als dies mit heute üblichen Instrumentarien möglich ist.

(31) Es ist generell interessant, die Dynamik solcher kooperativer Strukturen mit den normativen Argumenten, die ich in [3] mit dem Übergang von einer Waren- zu einer Wissensgesellschaft verbunden habe, zu vergleichen. Neben der bereits beschriebenen Tendenz zur optimalen Korngröße kann man nach der Dynamik von Konkurrenz im marktwirtschaftlichen Sinne in einer solchen Umgebung fragen. Konkurrenz setzt voraus, dass zwei "Körner" auf sich überlappenden Geschäftsfeldern tätig sind, so dass auf natürliche Weise eine (gesellschaftlich sinnvolle) Verdrängung des weniger effizienten Akteurs eintritt. Durch die sehr hohe Dimensionalität des Raumes dinglicher Logiken ist der Effekt dieser Verdrängung aber ein anderer als der heute zu beobachtende Effekt räumlicher Verdrängung: Der Verdrängte hat viel mehr Ausweichdimensionen zur Auswahl als in einem System, welches nur auf die blinde Geldmacht gründet, und kann (und muss!) sich eine neue, seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende "sinnvolle" Tätigkeit suchen und dabei sein Kompetenzprofil entsprechend weiterentwickeln und schärfen. Nach kurzer Zeit wird es keine überlappenden Geschäftsfelder mehr geben -- und sie werden dann auch nicht mehr Geschäfts- sondern Kompetenzfelder heißen. Die einer solchen Struktur inhärenten Austarierungsmechanismen führen also nicht nur dazu, dass etwa gleich und optimal große "Körner" entstehen, sondern dass diese auch in der Gesamtheit ihrer Kompetenzen optimal aufgestellt sind. Dynamik gewinnt diese kompetenzbasierte Struktur vor allem durch den Eintritt junger Menschen und den Rückzug alter, also aus der Lebensdynamik der intellektuellen Leistungsfähigkeit der einzelnen Individuen selbst.

(31.1) 13.10.2004, 13:17, Hans-Gert Gräbe:
Stefan Merten (10.10.2004) merkt per email an: Verdrängung? Warum sollte überhaupt verdrängt werden? Der Raum ist ja nicht durch knappes Geld begrenzt.
meine Antwort: Ich gehe dabei von einem Minimalitätsprinzip aus, das m.E. der Vergesellschaftung individueller Arbeit auch jenseits des Kapitalismus eigen sein wird, weil Verschwendung etwas ist, das sich die Natur auch anderswo nur dann leistet, wenn ein neuer Raum explorativ besetzt werden soll bzw. muss. In diesem Sinn werden sich immer Mechanismen herausbilden, die bewirken, dass gesellschaftlich erforderliche Arbeit, wenigstens in den Kernbereichen, so verteilt wird, dass der gesellschaftliche Aufwand dafür in der Summe minimal ist. Von einigen Details abgesehen bedeutet das, dass derjenige die Arbeit macht, der das am besten kann. In dem Sinne Verdrängung, wobei ich mir durchaus einen intensiveren Wettbewerb von Konzepten um die beste Lösung als heute vorstellen kann, einschließlich der Lösung der "Brötchenfrage" dafür.
Stefan Merten weiter: ... muss da noch verdrängt werden? Könnte es nicht sein, dass anstatt Verdrängung die Menschen von selbst zu dem gehen, was gesellschaftlich sinnvoll ist?
meine Antwort: Klar. "Nach kurzer Zeit wird es keine überlappenden Geschäftsfelder mehr geben -- und sie werden dann auch nicht mehr Geschäfts- sondern Kompetenzfelder heißen." Dabei wird sicher noch viel mehr vom Kopf auf die Füße gestellt, denn es werden jahrtausende alte Denktraditionen zu brechen sein. Wenn der Zustand erreicht ist, dann wirst du selbst sehr schnell aus einem Bereich, der dir nur Frust bereitet (weil andere dauernd besser sind als du), rausgehen. Heute wirst du dich mit aller Macht dagegen wehren, weil jenseits deines heutigen Frusts im ungeliebten Beruf mit Alg-II nur noch größerer Frust droht.
Der mawi-Text ist bewusst auch terminologisch so gehalten, dass an heute gängige Argumentationsmuster angeknüpft wird, insbesondere mit dem Vorteilsbegriff.

(32) Kommen wir auf den Titel dieses Aufsatzes zurück, der auf Matthias Käthers Bemerkung am Ende seines Aufsatzes [6] zurückgeht: "Denn, um noch einmal den klugen Bacon zu zitieren: Wissen ist Macht." Ich möchte in diesem Sinne zum Abschluss einen Blick auf die heutige gesellschaftliche Dynamik werfen, um die Chancen beider Ansätze der "Vorteilsnahme" zu prospektieren und eine Standortbestimmung im Hier und Heute vorzunehmen.

(33) Der "kluge Satz von Bacon" erlaubt eine gewisse Spannbreite von Interpretationen, welche ich zunächst verdeutlichen möchte, um die Gesamtdimension in den Blick zu bekommen. Beim Wort "Macht" etwa gibt es eine subtile semantische Differenz zwischen dem Englischen und dem Deutschen: Die nahe liegende Übersetzung ist "power", doch der Gruß der Sternenkrieger [13], in deutscher Übersetzung "Die Macht sei mit dir", lautet im Original "may the force be with you", und "force" wurde hier nicht als "Kraft", sondern als "Macht" übersetzt. Der Unterschied ist ähnlich wie zwischen potenzieller und kinetischer Energie. Diese Force-Macht ist gemeint, wenn im Rahmen der marxistischen Theorie behauptet wird, dass die Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse bestimmen (siehe etwa [8, S. 192 ff.]), und auch Matthias Käthers Verweis ist wohl nicht anders zu interpretieren. Christoph Spehr spannt in seinem "Alien-Buch" [12] einen ganzen Begriffsfächer auf, der über Kraft, Macht (in beiden Bedeutungen) bis zu Herrschaft und Zivilisation reicht, und den ich den folgenden Ausführungen als Bezugssystem verwenden möchte. In der heutigen komplizierten Gemengelage von Kräften und Interessen macht Spehr zwei große (in seinem Sinne) zivilisatorische Pole aus, die er mit "Alienismus" und "Maquis" bezeichnet. Diesen beiden Polen kann man ziemlich genau die oben beschriebenen zwei Arten von Vorteilsnahme zuordnen, so dass sich aus der hier eingenommenen Perspektive die Spehrsche Zustandsbeschreibung wie folgt paraphrasieren lässt: Kompetenz ist eine Gesellschaft strukturierende Macht und steht heute im Wettstreit und zunehmend im Widerspruch zur Gesellschaft strukturierenden Macht des Geldes. Geldmacht ist Alienismus, denn sie ist Definitionsmacht. Sie passt perfekt zum Ansatz "Informationsvorteil", denn dieser funktioniert nur, wenn man "die Regeln bestimmen" kann. Kompetenzmacht ist Maquis, denn sie ist Gestaltungsmacht und zentral konstituierendes Element des Kompetenzvorteilsmodells ist das "Leben in fairen Regeln".

(34) Die heutige Zeit ist aufgeladen mit den widerstreitenden Perspektiven dieser beiden Sozialisierungsformen. Die ursprünglich progressive Regulationsmacht des Marktes (der abstrakten Wertform des Geldes) versagt immer mehr und gerät zunehmend in Widerspruch zu den funktionalen Erfordernissen der Wissensgesellschaft (der Reproduktion der Vielzahl der sich in individuellen Kompetenzen brechenden dinglichen Logiken). Die alienistische Zivilisation droht, mit ihren Rückzugsgefechten die gesamte Menschheit mit in den Abgrund zu reißen. Spehr beschreibt die maquisianische Zivilisation als eine Zivilisation im Verteidigungszustand, als Zivilisation, die noch nichts ist für Zivilisten. Das scheint sich derzeit zu ändern. In diesem Sinne: "May the force be with you."

(35)

Referenzen und Fußnoten

[1]
Martina Böhm, "Tut, was ihr wollt, aber seid profitabel!", Arbeiten ohne Ende -- neue Managemantformen verändern die Arbeitswelt, In: HBV-Forum 11/1999, siehe http://home.nikocity.de/schmengler/presse/arbeit_ohne_ende.htm
[2]
Wolf Göhring, Mitten in einer Revolution?, Die gesellschaftliche Bedeutung der IT als besonderer Produktivkraft, FIfF-Kommunikation, März 2004. Siehe http://www.ais.fraunhofer.de/~goehring/revolution.pdf
[3]
Hans-Gert Gräbe, Von der Waren- zur Wissensgesellschaft, Beitrag auf der 1. Oekonux-Konferenz "Die freie Gesellschaft erfinden", 28. - 30.4.2001 Dortmund. Siehe http://erste.oekonux-konferenz.de/dokumentation/texte/graebe.html
[4]
Quelle: heise online 12.12.2000, http://www.heise.de/newsticker/meldung/13845
[5]
Klaus Holzkamp, Individuum und Organisation, Veröffentlicht als »Werkstattpapier« in: Probleme kritisch-psychologisch fundierter therapeutischer Arbeit, Forum Kritische Psychologie 7 208-225, Argument Sonderband 59, Argument-Verlag, 1980, Siehe auch http://www.kritische-psychologie.de/texte/kh1980a.html
[6]
Matthias Käther, Über Marxens Rezeptionsmethode, Utopie kreativ 162 293-300, 2004
[7]
Robert Kurz, Der Kollaps der Modernisierung, Reclam Verlag, Leipzig, 1994
[8]
Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin, 1971
[9]
Quelle: http://www.soros.org/openaccess/g/commitment.shtml
[10]
Reichtum durch Copyleft -- Kreativität im digitalen Zeitalter, 3. Oekonux-Konferenz, Wien 20.-23. Mai 2004, siehe http://www.oekonux-konferenz.de
[11]
Eric S. Raymond, The Cathedral and the Bazaar, Musings on Linux and Open Source by an Accidental Revolutionary, O'Reilly, 1999, Paperback Edition February 2001
[12]
Christoph Spehr, Die Aliens sind unter uns!, Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter, Siedler Taschenbücher 75548, Goldmann Verlag, München, 1999
[13]
Star Wars, USA 1976. Regie: George Lucas

Valid HTML 4.01 Transitional