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Über einige Schwierigkeiten, Marx zu verenglischen (Autor: Wolf Göhring)
Maintainer: Werner Imhof, Version 2, 09.02.2002
Projekt-Typ:
Status: Archiv
(1) Bei dem Versuch, zwei Texte, in denen ich mich auf Marx und Engels beziehe, ins Englische zu übertragen, bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen. Der erste Text ist "The productive information society - a basis for sustainability" (http://ais.gmd.de/~goehring/ProdInfSocSust7-01.pdf), der zweite "E-commerce - Und was kommt danach? Eine Perspektive für die Informationsgesellschaft" (http://www.gmd.de/publications/report/0113/Text.pdf). Die Schwierigkeit tritt bei den Wörtern "Ware" und "aufheben" und ganz besonders bei dem Satzstück "die Warenproduktion aufheben" auf. Das soll erläutert werden.
(1.1) Re: Die Schwierigkeit, Marx zu verenglischen [1], 09.02.2002, 19:19, Hanna Behrend: Seit jeher, in allen englischen Ausgaben von Marx Werken, heißt Ware commodity. Für aufheben bietet sich to abolish an. To abolish commodity production würde von jedem Englischsprechenden verstanden werden.
(1.1.1) Re: Die Schwierigkeit, Marx zu verenglischen [1], 12.02.2002, 11:33, Wolf Göhring: Gewiß wird "to abolish commodity production" von jedem englisch sprechenden verstanden. Aber versteht er darunter das, was "die warenproduktion aufheben" bedeutet? Das ist nämlich die frage, denn es geht nicht um's bloße "abschaffen" oder sogar "vernichten" der warenproduktion, beides sinngehalte von "to abolish". Ansonsten siehe absatz 4.
(2) Der Begriff der Ware ist wesentlich für das Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise, aus der man durch Aufheben der Warenproduktion herauszufinden hätte. Was aber denken sich englischsprachige LeserInnen, wenn ihnen eine windschiefe Übersetzung geboten wird? Werden sie die Analysen von Marx ernst nehmen können, wenn sie durch sprachliche Ungenauigkeiten verfälscht wiedergegeben werden?
(3) Wie ist "Ware" zu übersetzen? Mit "commodity", mit "merchandise", oder mit - "ware"? Oder mal so und mal so?
(3.1) 09.02.2002, 19:23, Hanna Behrend: Commodity ist der politökonomische Begriff. Merchandise ist das konkrete Produkt industrieller Fertigung. Ware kommt nur in Verbingung mit anderen Wörtern earthenware (Steingut), warehouse (Lagerhaus), software vor.
(3.1.1) 12.02.2002, 18:55, Wolf Göhring: "Commodity" wurde schon vor Marx von Adam Smith 1776 im "wealth of nations" - "wohlstand der nationen" verwendet. Dies buch war kein plädoyer für den sozialismus, sondern für den kapitalismus, der den wohlstand so richtig hervorbringen würde. Für Adam Smith dürfte es wichtig gewesen sein, ein wort für die auszutauschenden dinge verwenden zu können, das zunächst auf deren nützlichkeit, auf deren wohlstand schaffende eigenschaft und nicht wie "ware" auf den umständlichen, mit eigentumswechsel verbundenen austausch verwies.
Wenn man heute ein "aufheben der warenproduktion" verenglischen will, dann muss man zusehen, ob die heutige schule der "politischen ökonomie" (Der begriff kommt bereits bei Adam Smith im "book IV" des "wealth of nations" vor, welches "systems of political economy" betitelt ist) passende wörter und begriffe bereit hält oder nicht. Passend heißt auch, daß ein leser an der imbißbude nicht schon deshalb das blatt sinken läßt, weil die verwendeten wörter zu solchen begriffen gebogen werden, die dem ihm geläufigen sinn zuwider sind. Mir scheint, daß "commodity" bei dieser auf uns zu kommenden "aufhebung der warenproduktion" nicht das treffende wort für "ware" ist, sondern "merchandise" (französisch: marchandise) eher angebracht ist, weil es auf den "markt" (wohl gleicher wortstamm) und damit auf den austausch verweist.
(4) Soweit ich sehen konnte, haben Marx und Engels, wo sie englisch schrieben, "commodity" für "Ware" verwendet. In der ersten, von Engels bevorworteten englischen Ausgabe von "Kapital I" wird durchweg "commodity" verwendet, wo im Deutschen "Ware" steht. Adam Smith verwendet im "Wealth of Nations" (1776) ebenfalls dort "commodity", wo man deutsch und schnell "Ware" schreiben würde. Im englischen Alltagsgebrauch scheint das, was einen hinter den Schaufensterscheiben anlächelt, heute stets "commodity" zu heißen. "Ware" also alternativlos mit "commodity" übersetzen?
(5) Das Globalwörterbuch "Deutsch-Englisch" (Pons Collins, 2. neub. Auflage, Klett Verlag, Stuttgart, Dresden 1993) zeigt:
(6) Ware f-, -n product; (einzelne ~) article; (als Sammelbegriff) goods pl, merchandise. ~n pl goods pl; (zum Verkauf auch) merchandise sing, wares pl (esp old, hum). "esp old, hum" meint "besonders alt, humorig".
(7) "Ware" mit "wares" zu übersetzen, hätte vor 500 Jahren gut sein können, heute ist's wohl nur spaßig. Aber, "commodity" kommt bei Pons/Collins für Ware gar nicht vor! Umgekehrt findet man in der englisch-deutschen Version:
(8) commodity n Ware f; (agricultural) Erzeugnis nt. basic or staple commodities (natural) Grundstoffe pl; (St Ex) Rohstoffe pl; (manufactured) Bedarfsgüter pl; (foodstuffs) Grundnahrungsmittel pl; ~ market Rohstoffmarkt m; ~ exchange (St Ex) Warenbörse f. "St Ex" steht für "stock exchange" oder "Börse".
(9) Nun ist, wer wußte es besser als Marx und Engels, Ware eine historische Kategorie. Welche Geschichte haben die beiden Wörter "Ware" und "commodity"? Zeigt sich darin auch etwas von der historischen Entwicklung der Kategorie "Ware" samt ihrem Doppelcharakter von Gebrauchswert und Tauschwert? [2]
(10) Ich fange mit "commodity" an. Das Wort dürfte französischen Ursprungs sein und in der Zeit Wilhelm des Eroberers auf die britische Insel gekommen sein wie so viele der englischen Wörter mit französischem Ursprung. "Commodité" ist eine Bequemlichkeit, gute Gelegenheit, eine Gemächlichkeit (M. A. Thibaut: Vollständiges Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache. 45. Auflage. Westermann, La Hachette. Braunschweig, Paris 1864). In moderneren Wörterbüchern ähnlich. Das erinnert an das deutsche Wort, daß etwas kommod, also passend, gut, angenehm sei. Ein "Vollständigstes englisch-deutsches und deutsch-englisches Handwörterbuch" (Friedrich Köhler bei Philipp Reclam, Leipzig 1865, 3. Aufl.) legt ebenfalls die Nähe zwischen "commodity" und "commodité" nahe: Commodity s. Bequemlichkeit f. Vortheil m. Sh.; Waare f. "Sh." meint, daß Shakespeare commodity im Sinne von Vorteil gebrauchte. Die zitierten Wörterbucheinträge deuten darauf hin, daß "commodity" zunächst mal "ein Ding (ist), das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt", womit sich Marx (Das Kapital, Bd. 1, Marx-Engels-Werke MEW Bd. 23, S. 49) ganz ähnlich dem Eintrag in "The Oxford English Dictionary" (Letter C, p687. Corr. re-issue, reprint 1970, Clarendon Press, Oxford) äußert: "a thing of use or advantage to mankind", oder im Plural: "useful products, material advantages, elements of wealth".
(11) "Der natürliche worth jedes Dinges besteht in seiner Eignung, die notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen oder den Annehmlichkeiten des menschlichen Lebens zu dienen." So zitiert Marx in eigener Übersetzung den John Locke (ibid., S.50, Fußnote). Die "Annehmlichkeiten" heißen bei Locke "conveniences". Marx verweist in dieser Fußnote noch darauf, daß im 17. Jahrhundert im Englischen "'Worth' für Gebrauchswert und 'Value' für Tauschwert" benutzt wird, "ganz im Geist einer Sprache, die es liebt, die unmittelbare Sache germanisch und die reflektierte Sache romanisch auszudrücken." Marx vergaß hinzuzufügen, daß "value" wohl über das Französische ins Englische gelangte und seinen Ursprung im lateinischen "valere", deutsch: gelten, hat, womit die Entwicklung des Tauschwerts zum Geld im Wort "value" schon drin steckt, vielleicht deshalb, weil die Römer bereits eine Entwicklung hinter sich hatten, die den Germanen noch bevorstand. Immerhin gab es bei den Römern schon Münzen, die im gesamten römischen Reich, so groß wie die europäische Union, aber nicht deckungsgleich mit dieser, Geltung besaßen!
(12) Deutsch "Ware" kann, wenn auch veraltet, mit englisch "ware" übersetzt werden. "The Oxford English Dictionary" und das "Deutsche Wörterbuch" (Jacob und Wilhelm Grimm, S. Hirzel Verlag, Leipzig 1922. Fot. mech. Nachdr., Deutscher Taschenbuchverlag, München 1984) liefern viele Hinweise zur Herkunft von Ware/ware, die hiernach als das gleiche Wort angesehen werden können. Ware scheint urspünglich etwas zu bezeichnen, das zusammen- oder angebunden ist, was sich im englischen "wire" - Draht - oder im deutschen verwirren, Wirrwarr noch indirekt erhalten hat. Bewahren, verwahren und "in Gewahrsam nehmen" haben auch diese Wurzel, ebenso "gewahr werden" und "Gewährleistung". Im Oxford Dictionary findet sich: "Ware (...) (substantive 3). ... Prob. the same word as ware (substantive 2) used in the conrete sense 'object of care'." Als englisches Verb tritt das wort in "to guard", veraltet "to ward" auf.
(13) Im Deutschen Wörterbuch heißt es: "II. bedeutung und gebrauch, 1) ware in der bedeutung 'handelsgut' ist eine gewisse menge einer beweglichen sache, mit der handel getrieben wird. sie heiszt so besonders bei kauf und verkauf, dann aber auch schon vorher während ihrer gewinnung oder herstellung, während der beförderung und während der aufbewahrung, besonders beim verkäufer."
(14) Ware steht nach dem Deutschen Wörterbuch im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit für "Kaufmannschatz" und "Pfennigswert".
(15) Diese Hinweise deuten an, daß mit "Ware" ursprünglich ein ganz anderer Begriff als mit "commodity" verbunden ist. Eine Ware ist etwas Gehütetes. Warum? Hat es Mühe und Schweiß, "toil and trouble" (Adam Smith) gekostet, es herzustellen, es sich zu verschaffen? Würde es im Regen verderben, weshalb es gut verpackt und verschnürt aufbewahrt wird? Wird es zusammengepackt vom Krämer über die Lande gefahren und feilgeboten? Könnte man im Gegenzug, im Tausch etwas dafür bekommen, was einem andere Mühe und Arbeit erspart? Müssen die sorgfältig verwahrten Sachen auch bewacht werden, damit sie nicht geraubt und gestohlen werden und man selbst am Ende trotz Mühe und Arbeit ohne etwas dastehen würde? [3]
(16) Die Wörterbücher sind keine Geschichtsbücher über ökonomische Kategorien. Die Wörterbücher geben den Gebrauch einzelner Wörter in einzelnen Sätzen wieder. Sinnzusammenhänge sind angedeutet, aber nicht im einzelnen ausgearbeitet. Trotzdem scheint deutlich zu werden, daß "Ware" etwas ganz anderes ausdrückt als "commodity". Während "commodity" den Gebrauchswert in den Vordergrund stellt, steht bei "Ware" das Festhalten, das Bewachen als ein eigenes Stück, als Eigentum, der Austausch, der geordnete Eigentumswechsel, das damit verbundene Gerangel im Vordergrund. "Ware" hebt auf Tauschwert ab. Übersetzt man "Ware" mit "commodity", so übersetzt man - sehr zugespitzt - Tauschwert mit Gebrauchswert! Genau besehen muß man im Deutschen, wo Ware steht, prüfen, ob an dieser Stelle der Tauschwert oder etwa doch der Gebrauchswert im Vordergrund steht oder ob der Zusammenhang dafür sorgt, daß eine Übersetzung mit "commodity" den Sinn nicht entstellen kann.
(17) Ein Beispiel dazu. Im "Kapital" bemerkt Marx, "wie sehr ein Teil der Ökonomen von dem der Warenwelt anklebenden Fetischismus ... getäuscht wird ..." (MEW 23, S. 97) Übersetzt findet sich in der von Engels noch durchgesehenen Ausgabe: "To what extent some economists are misled by the Fetishism inherent in commodities ..." (Marx-Engels Collected Works, vol. 35, p. 93. Lawrence & Wishart, London). "Anklebend" ist nicht "inherent" und "Warenwelt" nicht simpel "commodities". Aber schlimmer noch: Nach dieser Übersetzung wohnt den angenehmen, nützlichen Dingen des Lebens ein Fetischismus inne. Kein Wunder, daß Churchill 35-jährigen bescheinigte, sie hätten keinen Verstand, wenn sie noch immer dem Sozialismus anhingen.
(18) Mühsamer noch ist es, eine passende Übersetzung für "Warenproduktion aufheben" zu finden.
(19) Zunächst zu "aufheben". Man bräuchte nicht viel Aufhebens zu machen, wenn Hegel - ein Stuttgarter, wenn ich richtig im Bilde bin - "aufheben" nicht in der ganzen, im Süddeutschen gebräuchlichen Fülle benutzt hätte. Zunächst zum unmittelbaren, körperlich sichtbaren Gehalt von "aufheben": Man greift zu, hält fest, lupft hoch, paßt auf, daß nichts runterfällt und legt es schließlich mit etwas Vorsicht irgendwohin, denn man kann es nicht ewig halten. Das hat zwei Nebeneffekte: Der Untergrund, auf dem das Ding lag, wird von dessen Gewicht entlastet. Das Ding ist an andrer, oft höher gelegener Stelle für den weiteren Gebrauch verfügbar. "Sich ein Stück Brot aufheben", ist eine Redewendung, die solches ausdrückt. Oder die Geschichte von Jesus, der sich ein am Wege liegendes Hufeisen aufhob, um es im nächsten Ort gegen frische Kirschen einzutauschen.
(20) Diese drei Aspekte: entlasten, hochheben und weglegen des Wortes "aufheben" sind zunächst auch vorhanden, wenn es in einem übertragenen Sinn, beispielsweise in der Philosophie, gebraucht wird. Aber dann werden häufig ein oder zwei dieser Aspekte ausgeblendet: "Ein Verbot aufheben." Hier wird nur entlastet, das Verbot wird nicht an anderer Stelle "aufbewahrt". Einen Frondienst aufheben: Man kann ebenso gut sagen: einen Frondienst abschaffen. Aber "die Warenproduktion abschaffen" würde heißen, daß von der Ausgangslage nichts mehr da ist; die Produktion selbst könnte auch abgeschafft sein.
(21) "Die Warenproduktion aufheben" besagt unter den drei genannten Aspekten etwas anderes als "abschaffen". Es soll ja weiterhin vernünftiges Zeugs produziert werden. Vorhandene technische Verfahren werden nicht über Nacht durch gänzlich andere ersetzt. Auf die Kommunikation, die der Produktion und dem Austausch der Produkte zugrunde liegt, wird bei einer Aufhebung der Warenproduktion nicht verzichtet werden können. Wie sonst soll produziert werden können, soll eins zum andern kommen? In diesem Sinne wird bei einer aufgehobenen Warenproduktion auch etwas bewahrt, nicht genau in der alten Weise, sondern in bildhafter Entsprechung, das heißt abstrakt, "auf höherer Ebene".
(21.1) "aufheben", 12.02.2002, 11:27, Bertrand Klimmek: Die hegelschen (hegelsch? hegelianisch? Adorno sagt in seiner unnachahmlichen Weise hegelisch, so wie er auch marxisch sagt ...) dialektischen Begriffe sind nur mit einiger Gewalt in andere Sprachen zu übersetzen. Sicher gibt es Untersuchungen darüber, wie Marx mit unendlichen Mühen auf chinesisch übersetzt worden ist, was an dem maoistischen Begriff von Dialektik sicher nicht unschuldig geblieben sein dürfte. Angesichts dieser unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten hat sich sogar ein englischsprachiges marxistisches Magazin den Namen Aufheben gegeben (ich weiß nicht genau, welcher - politizistischen? - Spielart von Marxismus die Herausgeber huldigen, aber das kann man ja selbst herausfinden):
http://www.geocities.com/aufheben2/
(22) Das Englische scheint kein Wort zu haben, das direkt dem "Aufheben" entspricht. To pick up - aufpicken, to lift up - hochlupfen - geben nur den Anfang des Aufhebens wieder. To hold up - hochhalten - gibt nur das Ende eines "Aufhebens" wieder. Außerdem werden diese Wörter kaum in einem übertragenen Sinn gebraucht. Vielleicht sollte ein englischer oder amerikanischer Schriftsteller kühn "to up-keep" oder "to keep up" in die Sprache einführen und diesem Konstrukt das ganze Bedeutungsbündel von "aufheben" anhängen. Naheliegend wäre eine solche Konstruktion, denn "to keep" hat die gleiche Herkunft wie "heben", das im Süddeutschen auch festhalten bedeutet.
(23) Einem fremdsprachigen Übersetzer verbietet es sich, wortschöpfend in die fremde Sprache einzutreten. Er muß absuchen, was diese Sprache bietet. Er findet, daß "abschaffen" gerne mit "to abolish" ins Englische übersetzt wird. Wenn ein Gesetz aufgehoben wird, dann kann "to abolish" angebracht sein. Ebenso: den Sklavenhandel aufheben, to abolish slave-trade. Sollte man "to abolish" auch für "Warenproduktion aufheben" verwenden dürfen? Was bedeuten "to abolish" und "abolir" im Französischen ursprünglich? Entstammen diese dem lateinischen ab-olescere, "hinaus-wachsen" oder "ab-wachsen" "schrumpfen", "schwinden", wie im Oxford Dictionary (und im Webster) angedeutet? Wäre "ab-olescere" das Gegenteil von "ad-olescere", "erwachsen werden"? Oder würde "to abolish" dem griechischen "apo-ballein", "weg-werfen" entstammen? Auch ohne den genauen sprachwissenschaftlichen Hintergrund zu kennen, läßt sich ein Resümee ziehen.
(24) Würde man "Warenproduktion aufheben" mit "to abolish merchandise-production" übersetzen und hätte "to abolish" den erstern Sinn, so hätte man im Englischen "Über die Warenproduktion hinauswachsen" geschrieben, was dem Ausgangssatz nahe käme. Bei der zweiten Bedeutung im Sinne von "schrumpfen", "schwinden", "zum Verschwinden bringen" hätte man "die Warenproduktion zum Verschwinden bringen" geschrieben, was "Aufheben" nicht mehr wiedergeben würde. Schriebe man "to abolish commodity-production", so könnte dieses, wenn "to abolish" gleich "schwinden", so gelesen werden, was zynische Kritiker dem Sozialismus vorwerfen: Die Produktion irgendwelcher vernünftiger, nützlicher Dinge wird zum Stillstand gebracht.
(24.1) 09.02.2002, 18:25, Petra Haarmann: Aus meiner Erfahrung, und ich schlag mich damit ständig rum, kommt es u.a. darauf an, welches Vorwissen Du vom späteren Leser erwartest. Die Aufhebung im hegelschen Sinne, wird in der englischsprachigen Sekundärliteratur zu Hegel mit the emergence of something new which reconciles the previously opposing elements of ...% übersetzt. Wenn es darauf ankommt späteren Lesern die Begriffsverwendung zu erläutern, setze ich dies als Hinweis/Fußnote o.ä. bei der ersten Verwendung des Begriffs. Danach, und es kommt ja immer auf den Zusammenhang an, verwende ich, wie viele englischsprachige Autoren auch overcome% oder manchmal wenn die Konnotation "sprengen" mit übersetzt werden soll outgrow%. Aufhebung der proletarischen Arbeit aber z.B. ist durch abolish gut getroffen, da bei Verständnismöglichkeiten Sinn machen. Ist Dir eigentlich bei den hoch offiziellen Übersetzungen von Marxens Werken auch aufgefallen wie oft im Englischen exploitation verwandt wird, obwohl nach dem deutschen Sinnzusammenhang valorisation richtig wäre?
(24.1.1) 12.02.2002, 19:38, Wolf Göhring: Den hinweis auf "the emergence of ..." nehme ich gerne auf. Die fußnote ist sicher eine möglichkeit, aber überall dort, wo man dann ein klares wort brächte, muß sich der leser an die das wort umdefinierende fußnote erinnern. Das macht den an sich schon schwierigen stoff nicht verständlicher.
Ansonsten ist dialektik keine intellektuelle erfindung, sondern etwas, das unser leben durchdringt, auch das der englisch sprechenden. Deshalb will's mir nicht ganz in den kopf, daß sie das nicht auch an- und aussprechen können.
"Aufhebung der proletarischen arbeit": das war nicht ganz mein punkt, sondern "aufhebung der warenproduktion" und hier scheue ich vor "to abolish" zurück, wenn ich's mit "commodity production" verbinde.
(24.1.1.1) Aufhebung der Warenproduktion, 13.02.2002, 12:38, Stefan Meretz: Warum scheust du vor "to abolish commodity production" zurück? Das kann doch nur ein Problem für Leute werden, die Güter nur als Ware denken können, oder? Mir käme es aber gerade darauf an, zu betonen, dass es die Produktion von Gütern als Waren ist, die da verschwinden muss - sprich: die Warenform.
(24.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 14.02.2002, 12:27, Wolf Göhring: Wunderbar dein satz: "... die produktion von gütern als waren, die verschwinden muss". Aber, dieses übersetzt wäre: the production of goods as merchandises, which has to be abolished (oder: has to disappear, to vanish), was etwas anderes als "to abolish commodity production" wäre. Zumindest bleibt in "commodity production" die warenform der "commodity", der " nützlichen sache", völlig im nebel. Ein nebel, den die alten herren John Locke und Adam Smith möglicherweise auch zur propagierung der kapitalistischen produktionsweise verstreut haben, um die sämtlichen probleme, die die produktion der güter als waren nach sich zieht, elegant unter verweis auf eine "unsichtbare hand" umgehen zu können.
Wenn es um die schwierigste aufgabe geht, vor der die menschheit steht, nämlich um die aufhebung der warenproduktion, dann kann und darf man diese angelegenheit nicht locker flockig übersetzen, sondern man sich darüber im klaren werden, welches ganze, historisch und in der alltagspraxis gewachsene bündel an bedeutungen die verwendeten wörter in der fremden sprache tragen und worauf sie vorrangig hinweisen.
Ansonsten siehe das, was ich eingangs in absatz 24 und weiter oben in absatz 16 schrieb.
(24.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 16.02.2002, 00:17, Petra Haarmann: Ich habe mich beim ersten Mal ziemlich offensichtlich vor den Kernfragen gedrückt, ganz einfach, weil die "Aufhebung der Warengesellschaft" ja gewöhnlich nicht so kontextlos und ohne Vorlauf isoliert im Raume des Textes steht. Bei Durchsicht meiner "Erfindungen" zu diesem Ausdruck habe ich beispielsweise neulich "...fundamental transformation of the mode of social mediation and it related mode of production... Such mode would involve the famous "abolition of commodity production". Aber auch dies setzt voraus, daß der Leser zuvor zumindest 150 Zeilen lang Vorwissen und Lesart erworben hat wie z.B. "the commodity as the fundamental structuring principle of social practice and thought in modern capitalist society ...". Ich werde die Problematik, die mir auch seit langem bewußt ist, kurzfristig in englischsprachigen Listen (mit gelernten wenn auch leider traditionellen Marxisten), in denen ich Mitglied bin, ansprechen. Mal schauen, was dabei rauskommt. Dein Vorschlag mit "merchandise" hat - heute ausprobiert - durchaus Gegenliebe gefunden.
(24.1.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 16.02.2002, 12:24, Werner Imhof: Die ganze Suche nach dem richtigen Begriff erledigt sich, wenn man weiß, welche gesellschaftliche Praxis man eigentlich beschreiben bzw. aufheben möchte. Warenproduktion ist Produktion für den Austausch. Sobald die Produkte nicht mehr für den Austausch, sondern für den unmittelbaren - individuellen wie produktiven - Konsum hergestellt werden, verlieren sie auch ihren Warencharakter. So einfach ist das.
(24.1.1.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 17.02.2002, 02:11, Petra Haarmann: Ja klar, ist alles ganz prima, wenn Du Dein eigenes Essay schreibst. Diese Voraussetzung ist beim Übersetzen aber gerade nicht gegeben.
(24.1.1.1.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 17.02.2002, 09:36, Werner Imhof: Pardon, ich hatte angenommen, Ihr sorgt Euch auch um den richtigen Ausdruck eigener Gedanken.
(24.1.1.1.1.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 18.02.2002, 14:51, Wolf Göhring: siehe absatz 1.
Mal angenommen, ich hab's im deutschen richtig, wie wär's dann richtig im englischen? Darum geht's hier. Man kann natürlich das ganze im englischen ganz neu schreiben, unter vermeidung aller deutschen wörter, die im englischen keine geradlinige entsprechung haben. Aber das wär dann ein neuer aufsatz, und man müßte wissen, welche deutschen wörter sich nur umschreibend im englischen wiedergeben lassen, womit man wieder bei der überschrift dieses textes wäre. So ganz einfach ist es also nicht.
(24.1.1.1.1.1.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 20.02.2002, 17:19, Werner Imhof: Sorry, aber ich finde, Du weichst aus. Du reduzierst Dein Problem auf ein handwerkliches (gradlinige oder umschreibende Übersetzung), wo es doch offensichtlich ein inhaltliches ist, das Du nur auf einen fiktiven englischen Leser projizierst. Der Haken ist, daß Du es eben im Deutschen nicht richtig "hast", was die Aufhebung der Warenproduktion praktisch bedeuten würde. Das muß ich auch aus Deinem beharrlichen Schweigen auf meine Kritik an Deiner Vorstellung von einem "Austausch von Tätigkeiten anstelle von Produkten" schließen. Auch Stefans Frage und Kommentar hast Du bisher nicht beantwortet.
(24.1.1.1.1.1.1.1.1.1.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 21.02.2002, 11:28, Wolf Göhring: Also, wenn ich einen text übersetze, dann denke ich an wirkliche leser, nicht nur an fiktive; sonst könnte ich das übersetzen bleiben lassen.
Der haken ist, daß ich's im deutschen sehr wohl richtig habe, um dein wort aufzugreifen, und dies auch im englischen richtig und nicht verdreht wiedergeben will. Wie mühsam und wie wichtig diese suche ist, zeigt bereits dein mißverstehen deutscher sätze, was ganz natürlich ist, wenn man gemeinsam an etwas rumackert. Und da möchte ich im englischen nicht auch noch durch miserable übersetzung zusätzliche probleme hervorrufen.
Ansonsten ging's in diesem kleinen aufsatz überhaupt nicht um's WIE der aufhebung der warenproduktion, sondern darum, wie ein solcher satzzipfel, so er in einem deutschen text verwendet wurde, zu übersetzen wäre, was du der überschrift dieses textes und dem 1. absatz entnehmen kannst. Zur aufhebung der warenproduktion hab ich mich in "Wie kommen wir zu einer tasse kaffee? ..." geäußert.
Ach, und was mein schweigen anbetrifft: Jaja, du mein lieber freier rentner, der du dich des morgens mit einem fröhlichen lied auf den lippen in den park zum taubenfüttern begeben kannst, leider, leider bin ich noch freier lohnarbeiter, der seit neujahr auch einige überstunden geschoben hat. Aber, jetzt werde ich drohend, wenn ich die denn abfeiere, dann gibt's was. Wappne dich!
(24.1.1.1.1.1.1.2) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 18.02.2002, 17:57, Wolf Göhring: Werner, dann übersetz' das mal ganz einfach ins englische, ohne daß der englische text plötzlich doch was andres aussagt als dein obiges deutsch.
(24.1.1.1.1.1.1.2.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 20.02.2002, 17:08, Werner Imhof: Production of commodities means production of goods determined to be exchanged (for money). As soon as products are no longer made for exchange but for direct consumption, they lose their peculiarity of being commodities. Das mag zwar nicht das eleganteste Englisch sein - aber wo ist da ein Problem?
(24.1.1.1.1.1.1.2.1.1) Re: Aufhebung der Warenproduktion, 21.02.2002, 10:36, Wolf Göhring: In abschnitt 16 habe ich bereits das nötige zu dem problem geschrieben, zu dem es führen kann, wenn "ware" mit "commoditiy" übersetzt wird.
(25) Bleibt noch zu fragen: Welche Schwierigkeiten macht es, Marx in andere Sprachen zu übersetzen?
(26) [1] Friedrich Engels: Wie man Marx nicht übersetzen sollte. Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 21 , S. 229 - 237
(27) [2] Marx' Schwiegersohn Lafargue hat den Werdegang von Wörtern für "Gesetz" (Nomos) und "Gut" in der griechischen und römischen Antike untersucht. Nomos entstammt der "Ökonomie des Nehmens", als man nomadisierend mit seinen Herden über die Weiden - griechisch: nomos - strich. Die Wortwurzel "nem" ist im Griechischen wie im Deutschen die gleiche und in der indogermanischen Sprachfamilie verbreitet. Sie bezeichnet vermutlich zuerst das Sich-Bücken oder Sich-Beugen, wenn man Früchte einsammelt oder wenn Vieh Gras abweidet. Bei den Wörtern "Einvernehmen", "Benehmen" und "Benimm" hat sich im Deutschen eine ähnliche Änderung wie mit dem griechischen "nomos" von "Weide" zu "Sitte", "Gesetz" ergeben. Lafargues Schrift hat mich angeregt, bei einer Übersetzung auch auf die Entwicklung und die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes zu achten. Paul Lafargue: Vom Ursprung der Ideen. Eine Auswahl seiner Schriften von 1886 bis 1900, VEB Verlag der Kunst, Dresden, ca. 1970.
(28) [3] Ware heißt im Georgischen "sakoneli", in seine Bestandteile zerlegt: sa-kon-eli. "eli" ist eine Endung, die aus dem Ganzen ein Substantiv macht. "sa-kon" ist "etwas, das man haben kann", etwas "zum Haben", im saarländischen Dialekt wär' das "ebbes fa se han", "etwas für zum Haben", eine Konstruktion ganz ähnlich der georgischen. Ob nun "sa-kon" ethymologisch sogar die gleiche Wurzel wie "zum Haben" hat, sei dahingestellt. Das Deutsche Wörterbuch verrät, daß "haben" auch die Bedeutung von "festhalten" hat, daß "Habe" das ist, was man festhalten kann. Und damit ist man wieder bei "heben", "to keep", "capere" (lateinisch). "Kon" trägt die Bedeutung des Festhaltens ebenfalls. So würde "sakoneli" im Georgischen "Ware" um vieles besser wiedergeben als "commodity" im Englischen.