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Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 10.05.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Die Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft denken

(1) Im folgenden will ich den Versuch unternehmen, einen kategorialen Rahmen aufzuspannen, um die These von der Freien Software [1] als Keimform einer qualitativ neuen Weise der Vergesellschaftung diskutieren zu können. Im zweiten Schritt versuche ich mich der Frage zu nähern, wie eine Überwindung des Kapitalismus als Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft denkbar werden kann - ohne in Spekulationismus zu verfallen. Die naheliegende Frage »Was kommt nach dem Kapitalismus« ist mit dem Verweis auf eine Gesellschaftsform, etwa dem »Kommunismus« als klassenlose Gesellschaft, keineswegs beantwortet. Auf der anderen Seite tendieren viele Konkretionsversuche dazu, Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft nur abstrakt zu negieren oder gar fortzuschreiben. Hier soll es in Abhebung dazu darum gehen, Rahmenbestimmungen zu entwickeln, die sowohl »das Neue« wie die »Keimformen« des Neuen im Alten denkbar machen.

I. Zur Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform

(2) Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Annahme, dass Menschen im umfassenden Sinne ihre Lebensbedingungen produzieren, denen sie gleichzeitig unterworfen sind (vgl. Holzkamp 1983). Theoretische Anstrengungen des traditionellen Marxismus wie wertkritischer Ansätze [2] beschäftigen sich mit der Dialektik von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung. Dabei ist die Gefahr der Vereinseitigungen groß: zu finden etwa im Technikdeterminismus, der die Seite der technischen Bedingungen verabsolutiert oder im Subjektivismus, der mit der isolierten Frage des »richtigen Bewußtseins« die subjektive Verfügung als Akt des bloßen Wollens von den Bedingungen abtrennt.

(3) Auf gesellschaftstheoretischer Ebene wird das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung klassisch als Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen, als Inhalts- und Formseite der historischen Produktion menschlich- gesellschaftlichen Lebens abgebildet. Ich will begründen, warum ich diese kategoriale Fassung für nicht (mehr) angemessen halte und eine Modifikation vorschlagen.

Produktivkraftentwicklung

(4) Die »Produktivkraft der Arbeit« sei durch »mannigfache Umstände bestimmt« erklärt Marx. Verstreut über seine Arbeiten entdeckt er immer wieder neue Umstände, die die Produktivkraft der Arbeit beeinflussen: Naturbedingungen, technische Entwicklungen, die Kooperation der Arbeitenden, die Qualifikation, die Organisation der Arbeit etc. Demgegenüber liegt ein enthistorisierter, ontologisierter und verdinglichter Begriff vor, wenn man Produktivkraftentwicklung auf Technikentwicklung reduziert. Selbst für den Kapitalismus, in dem die Entwicklung der technischen Mittel das zentrale Moment zur Steigerung der Produktivkraft der Arbeit und damit der Produktivität ist, ist eine solche Bestimmung nicht ausreichend. Bei der logisch-historischen Rekonstruktion der Produktivkraftentwicklung wird deutlich, dass der Mensch bei der Produktion seiner Lebensbedingungen sich stets geschaffener Mittel bedient, um seinen Stoffwechsel mit der (äußeren) Natur zu betreiben und zu organisieren. Produktivkraftentwicklung fasst also den historischen Aspekt des mittelschaffenden und -nutzenden, mit der äußeren Natur stoffwechselnden Menschen - oder kurz: das Verhältnis von Mensch, Mittel und Natur. In diesem Verhältnis war bzw. ist je ein Moment bestimmend, und zwar in Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Form, die den jeweiligen qualitativen Stand der Produktivkraftentwicklung widerspiegelt.

(5) Wenn die Überlegung zutrifft, dass in der Dialektik von Inhalt und Form der Produktion des gesellschaftlichen Lebens der Primat auf der Inhaltsseite, der Produktivkraftentwicklung, liegt, dann ist eine Historisierung der menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung über die Formseite, den Produktionsverhältnissen, inadäquat. Das bedeutet nicht, jegliche Möglichkeit der Historisierung zu verneinen, sondern es ist konsequent von inhaltlichen Seite, von einem Begriff der Produktivkraftentwicklung als logisch- historischem Verhältnisbegriff auszugehen. Ein Problem des traditionellen Marxismus ist, dass er - wider besseren Wissens - diese Verkehrung immer wieder betreibt. Statt die Formseite zu begrifflich verselbstständigen, ist sie als dialektische Widerspiegelung der Produktivkraftentwicklung zu begreifen, was die Wechselwirkung mit und Überformung der Produktivkraftentwicklung durch die gesellschaftliche Form einschließt.

(6) Nimmt man das vereinfachte Dreiecksverhältnis von Mensch, Mittel und (äußerer) Natur, dann wird klar, dass es unterschiedliche Gesellschaftsformen in einer Epoche der Produktivkraftentwicklung geben kann bzw. es wäre überraschend, wenn es nicht so wäre. So gibt es mannigfache gesellschaftliche Formen in der Periode der Produktivkraftentwicklung, in der der Naturaspekt bestimmendes Moment war. »Bestimmendes Moment« bedeutet nicht, dass nicht auch die jeweils beiden anderen Aspekte des Verhältnisses entwickelt wurden - teilweise wurden sie gar in dramatischer Weise umgeformt. Dies geschah jedoch stets nur als Mitentwicklung, als abhängige Größe von der bestimmenden Entwicklungsdynamik. So gab es in den agrarischen Gesellschaften bedeutende Werkzeugentwicklungen, jedoch gleichsam nur als »Abfallprodukt« der Bearbeitung des Bodens. Eine eigenständige, eigendynamische Mittelentwicklung war in den jeweiligen historischen Formen nicht möglich (vgl. Zunftbeschränkungen etc.). In warenproduzierenden Gesellschaften ist die eigenlogische Entfaltung des Mittelaspekts der Produktivkraftentwicklung bestimmend. Doch gab es genau in dieser Phase die bedeutendsten Umwälzungen in der Landwirtschaft oder bei der Gewinnung von Bodenschätzen, die jedoch erst auf Grundlage der Entwicklung der industriellen Produktion und der Naturwissenschaften möglich wurden.

(7) Angenommen, die analytische Reduktion der Vielfalt realer Entwicklungen über die hier vorgelegte Kategorie der Produktivkraftentwicklung als Verhältnisbegriff vermag die Entwicklungslogik in ihren wesentlichen Momenten abzubilden, dann ist die prospektive, spannende Frage nun, ob in der (Selbst-)Entfaltung des Menschen als drittem Aspekt das bestimmende Moment zukünftiger Produktivkraftentwicklung liegt. Diese These vertrete ich und in der Freien Software sehe ich eine Keimform dieser Entwicklung. Dazu später mehr - an dieser Stelle steht zunächst die begriffliche Rekonstruktion der Formseite der gesellschaftlich- historischen Entwicklung an, also mit dem, was traditionell Produktionsverhältnisse genannt wird.

Produktionsverhältnisse?

(8) Über eine Kette von Vereinfachungen werden Produktionsverhältnisse meist auf Eigentumsverhältnisse reduziert [3]. Die Frage, wer über das (produktive) Eigentum verfügt, scheint die Kernfrage linker Theorie und Praxis zu sein. Mit der Verfügung über produktive Mittel ist jedoch keineswegs »willentlich« freigestellt, wofür die Mittel eingesetzt werden. So können in warenproduzierenden Gesellschaften die produktiven Mittel eben nur innerhalb der Warenform eingesetzt werden, weil sie nur darin ihre Funktion als produktive Mittel wahrnehmen. Das Denken in Eigentumsverhältnissen legt eine Personalisierung nahe. Obwohl Marx klarstellt, dass für ihn der »Kapitalist« nur »personifiziertes Kapital«, nur der die Verwertung von Wert organisierende Funktionär ist, nahm die klassische Arbeiterbewegung an, dass sie, wenn sie erst über das produktive Eigentum verfügt, aus der Funktion aussteigen oder ihr mindestens voluntaristisch subjektiven Sinn, etwa die Befriedigung eigener Bedürfnisse, zuweisen könne. So war es nicht verwunderlich, dass hier gesellschaftliche Verhältnisse nach dem Muster unmittelbarer Interaktion, bloßer Verständigung über Wollen und Sinn gedacht wurden, obwohl doch »eigentlich« klar war, dass die abstrakte warenproduzierende Eigenlogik nicht »personal« aufgehoben werden kann. Die Rede vom »historischen Subjekt« war leider nur allzu oft wörtlich gemeint, waren die Funktionäre der Partei der Arbeiterklasse in den realsozialistischen Ländern doch auch nur Funktionäre der staatlich organisierten Wertverwertung. [4]

Vergesellschaftungsform!

(9) Kann man sich begrifflich der gesellschaftlichen Form nähern ohne sie auf Eigentumsverfügung zu reduzieren, ohne aber gleichzeitig - das wäre die andere Vereinseitigung - die Eigentums- als Verfügungsfrage zu ignorieren? Die gesellschaftliche Produktion muss individuell im Medium der gesellschaftlichen Strukturen organisiert und durchgeführt werden. Dieses »Medium« konstituiert sich in warenproduzierenden Gesellschaften aus all jenen funktionalen Elementen, die der sich selbst reproduzierende, »automatische« wie »tautologische« Wertverwertungsprozess [5] je historisch spezifisch erfordert: Märkte unterschiedlicher Regulationsformen, Staaten unterschiedlicher Repressionsdichten, Eigentumsformen unterschiedlicher juristischer Gestalt, Gedankenformen unterschiedlicher Verblendung usw. Anders formuliert: Die warenförmige Vergesellschaftung wird bestimmt von ihrem funktionalen dynamischen Kern, der Verwertung von Wert auf stets erweiterter Stufenleiter. Diese auf den Aspekt »Eigentum« zu reduzieren, würde gleichsam einen juristischen Ausdruck eines viel grundlegenderen und fein gestaffelten Prozesses einsam herausheben. Dieser Vereinseitigung entkommt man nur, wenn man die Vergesellschaftungsform eben als solche komplett in den Begriff nimmt. Das Basis- Überbau-Schema ist damit allerdings hinfällig.

(10) So global dieser Begriff erscheint, so ermöglicht er dennoch die Unterscheidung qualitativ unterschiedlicher Formen der Vergesellschaftung, wenn man sie als Widerspiegelung der Produktivkraftentwicklung begreift. Die Vergesellschaftungsform fasst die Herstellung der vielfältigen Vermittlungen von Individuum und Gesellschaft als Ausdruck des jeweiligen Standes der Produktivkraftentwicklung. Für die vormodernen naturalbasierten Gesellschaften kann dieser Vermittlungsmodus als »herrschaftsförmig personal-konkret« charakterisiert werden. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Regulations-, Vermittlungs- und Verteilungsformen durch personale Herrschaft von Menschen über Menschen bestimmt waren. Es war gewissermaßen ein historisches Missverständnis, als die Arbeiterbewegung sich primär als Kraft gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen ansah - waren es doch bloß die gleichwohl teilweise hartnäckigen Rudimente personaler Verfügung über andere Menschen, die in die moderne Gesellschaft »subjektloser Herrschaft« [6] hineinragten.

(11) Geradezu im Gegensatz zur personal-konkret vermittelten Vergesellschaftung ist die Vergesellschaftungsform in warenproduzierenden Gesellschaften als »abstrakt-entfremdet« zu kennzeichnen. Aus dem totalitären Charakter der abstrakt-entfremdeten Vergesellschaftung jedoch eine romantische Rückschau abzuleiten, ist fehl am Platze: Es wurde eben »nur« eine personale Herrschaftsform durch eine abstrakte »ersetzt«, und das mit aller Gewalt. Das Besondere der abstrakt-entfremdeten Herrschaftsformen ist, dass sie nicht bloß individuell erduldet, sondern - weil mit der eigenen Reproduktion unmittelbar verkoppelt - stets aktiv reproduziert werden muss. Durch die damit notwendige Verinnerlichung gewinnt sie, trotz allen handgreiflichen Elends, auch ihre besondere Stabilität.

(11.1) Das Besondere ist, dass sie stets aktiv reproduziert werden muss, 30.05.2002, 18:36, Swen Osterkamp: Wieso ist das etwas Besonderes an abstrakt-entfremdeter Herrschaft ? Im tagtäglichen Umgang zwischen Fronherr und Leibeigenem z.B. musste doch auch das Herrschaftsverhältnis reproduziert werden.

(11.1.1) Re: Das Besondere ist, dass sie stets aktiv reproduziert werden muss, 12.06.2002, 13:07, Benni Bärmann: Der Unterschied liegt wohl darin, dass im Fall der personalen Herrschaft man im wesentlichen sein eigenes Herrschaftsverhältnis reproduziert und vielleicht noch das in der Hierarchie unter einem angesiedelter. Im abstrakten Herrschaftsverhältnis reproduziert man aber mit jedem Akt des Kaufens oder Verkaufens, mit jedem Tausch immer die gesamte Warenform.

Ich denke jedoch, dass es auch so etwas zu Zeiten der personalen Herrschaft gab, nur war es da eben nicht die Warenform, sondern die Religion, die reproduziert wurde. Mit jedem Akt der Unterordnung unter den Herrn reproduzierte man das Prinzip göttlich abgeleiteter Herrschaft und somit Gottes Herrschaft über die Menschen. Zumindestens gilt das möglicherweise fürs europäische Mittelalter. In der Antike sah das vielleicht schon wieder ganz anders aus. Generell hab ich Probleme damit, die gesamte vormoderne Geschichte über einen Kamm zu scheren.

(12) Totalitärer Charakter bedeutet jedoch nicht, dass jegliches Handeln vollständig determiniert ist. Die Totalität des einen »Prinzips«, der Vergesellschaftung über den Wert, drückt sich aus in der Tendenz der restlosen warenförmigen Zurichtung der gesamten Gesellschaft. Doch geht auch sie gleichzeitig nie auf, denn das wäre das logische »Ende« jeglicher warenförmiger Bewegung. Nichts und niemand zwingt die Individuen, die nahegelegten Formen auch zu nutzen, die universelle Möglichkeitsbeziehung des Menschen zur Welt ist unhintergehbar. Aber »nahegelegt« bedeutet im sinnlich-unmittelbaren Sinne »haut-nahegelegt«: ein Entzug aus den allgegenwärtigen Vermittlungsformen warenförmiger Vergesellschaftung ist kaum machbar, da eben auch die individuelle Reproduktion in diesen Formen verläuft und sie damit reproduziert.

(13) Bleibt prospektiv zu überlegen, welches das globale Charakteristikum einer postwarenförmigen Vergesellschaftung sein könne. Mir scheint es auf der Hand zu liegen: Die individuelle Selbstentfaltung ist nur denkbar und praktisch möglich in herrschaftsfreien gesellschaftlichen Vermittlungsformen. Ist personale und wertförmig-vermittelte abstrakte Herrschaft ausgeschlossen, dann bleibt als Vermittlungsmodus die herrschaftsfreie personal-konkrete Vermittlung denk- und machbar. Selbstentfaltung in herrschaftsfreier personal-konkreter Vermittlung bedeutet also, dass je meine individuelle Entfaltung die Voraussetzung für die Entfaltung aller ist. Sie trifft sich exakt mit dem entsprechenden bekannten Marxschen Satz - dies jedoch nicht als abstrakter moralischer Leitsatz, sondern aus dem dargestellten Begründungszusammenhang entwickelt.

(13.1) Muss es wirklich herrschaftsfrei und personal-konkret sein ?, 30.05.2002, 18:55, Swen Osterkamp: Herrschaftsfreiheit als Voraussetzung für individuelle Selbstentfaltung, ok. Aber personal-konkrete Vermittlung folgt nicht aus dem Gesagten! Die ist nur eine von mehreren denkbaren Formen der Vermittlung. Die Freie Software mit Partizipation und Distribution der Produkte via Internet ist m.E. abstrakt und personal-konkret in Einem: "potentiell personal-konkret".

Keimform

(14) Bevor nun die Freie Software als Keimform für eben diesen globalen Übergang von der warenförmigen, abstrakt-entfremdeten zur herrschaftsfreien, personal-konkret vermittelten Produktivkraftentwicklung diskutiert werden soll, muss klarer werden, was überhaupt mit »Keimform« gemeint sein kann.

(15) Keimformen eines Neuen entwickeln sich immer schon im Alten. Sie werden stärker, werden zu einer nicht mehr zu übersehenden Funktion im alten System, übernehmen dann die bestimmende Rolle und transformieren schließlich das alte Gesamtsystem in ein Neues, in dem sich alles nun nach der neuen dominanten Funktion ausrichtet. Dieser beschriebene Prozessablauf ist typisch für dialektische Entwicklungsprozesse [7]. In allgemeiner Form kann man fünf Stufen für qualitative Entwicklungssprünge so beschreiben (Holzkamp 1983):
Stufe 1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten Gesamtprozesses (»Krisen«)
Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozess bestimmenden Funktion (erster Qualitätssprung)
Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der neuen bestimmenden Entwicklungsdimension

(16) Damit ist klar, was eine Keimform nicht ist: Sie ist nicht schon das Neue selbst, sozusagen im Kleinformat. Sie ist auch nicht eine Art kondensiertes Neues, das alle Potenzen schon enthält und nur noch wachsen muss (weswegen die bloße Rede vom »Keim« irreführend ist). Keimformen sind frühe Erscheinungen eines sich im Alten herausbildenden prinzipiell mit dem bestehenden System unverträglichen neuen Prinzips, das als solches notwendig nur in Sonderräumen existieren kann (Stufe 1). Nur unter den Bedingungen einer sich ändernden systemischen Umgebung, einer Krise des alten dominanten Prinzips der Systemerhaltung (Stufe 2), können sie eine neue Funktionalität erlangen und aus den Nischen heraustreten (Stufe 3). Altes und neues Prinzip gehen hier in einen offenen Schlagabtausch über. Ob das Neue sich durchsetzt, ist ungewiss. Nur wenn sich das neue Prinzip als real überlegen ausbilden kann, kann es das alte Prinzip als Kern der Systemerhaltung ablösen. Ist dieser Schritt vollzogen und gibt es systemisch keine Möglichkeit der Rückentwicklung mehr, dann ist der Dominanzwechsel vollzogen (Schritt 4). Im Zug der Durchsetzung erfolgt im zunehmenden Maße ein Umbau der Systemstruktur auf die Logik des neuen Entwicklungsprinzip hin. Durchsetzung und Systemumbau etablieren sich als wechselseitige, sich gegenseitig stabilisierende Prozesse (Stufe 5) - bis zu neuen Keimformen und Systemkrisen auf dem erreichten neuen Entwicklungsniveau.

(16.1) Eine Keimform ist nicht das Neue im Kleinformat ?, 30.05.2002, 19:02, Swen Osterkamp: Damit wird der Keimformbegriff sehr schwammig, nicht nur irreführend. Dieses "Hintertürchen" ist auch gar nicht nötig. Dass sich eine Keimform ihr Profil schärft auf Stufe 2, im offenen Schlagabtausch mit dem Alten (Stufe 3) sich verändert, wird man ihr sowieso zugestehen.

(17) Dialektische Entwicklungsprozesse lassen sich vollständig stets nur rückwirkend verstehen und als Fünfschritt rekonstruieren (etwa die Durchsetzung des Kapitalismus). Prospektiv sind mit dem Fünfschritt aber den Blick schärfende Verallgemeinerungen gegeben, um Entwicklungstendenzen frühzeitig als richtungsbestimmend zu registrieren. Auch damit kann man falsch liegen, denn Keimformen können auch zunichte gemacht werden - erst in Praxis erweist sich eine Theorie als haltbar oder nicht. Genau das gilt es permanent zu prüfen.

(18) Von Keimformen abzuheben sind solche Entwicklungsansätze, die auf neuem Systemniveau zwar zur vollen Entfaltung kommen können, aber auf altem Niveau durchaus funktional integrierbar sind und somit den Funktionswechsel blockieren. In diesem Sinne ist die Kritik an der Keimform-Hypothese in Bezug auf die Freie Software (etwa Fuchs 2001 oder Nuss/Heinrich 2002) bedeutsam, denn die Frage, ob es sich bei Entwicklungen um noch im Alten funktionalisierbare Ansätze oder um genuin nichtfunktionalisierbare Keimformen handelt, ist praxisrelevant. Darin liegt (auch) die erkenntnisleitende Funktion des Keimform-Begriffes.

(18.1) 30.05.2002, 19:13, Swen Osterkamp: Die Frage der Funktionalisierbarkeit wird vielleicht erst spät entschieden. Sollte man es wirklich vom Erfolg abhängig machen, ob etwas eine Keimform ist oder nur ein ("Reformierungs")ansatz ? Oder nicht eher von dem Selbstverständnis der Keimformvertreter in Praxis und Theorie?

(18.1.1) 12.06.2002, 13:15, Benni Bärmann: Genau! Bei einem Vortrag zu Oekonux sagte mal einer der Zuhörer, dass es vielleicht wichtiger sei darauf zu gucken, ob man _will_ das etwas eine Keimform wird als darauf, ob es eine ist. Wenn es die spezifische Möglichkeitsbeziehung gibt, bedeutet das ja eben gerade, dass wir hier und heute dabei mitreden, was eine Keimform wird und was nicht. Keimform macht IMHO als rein deskriptiver Begriff keinen Sinn. Keimform wäre dann nicht nur in erster Linie ein erkenntnisleitender, sondern genauso auch ein handlungsleitender Begriff.

Zusammenfassung I

(19) Was traditionsmarxistisch als Produktivkraft-Produktionsverhältnis-Dialektik diskutiert wurde, habe ich vorstehend in wertkritischer Perspektive als Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform versucht zu rekonstruieren. Diese Fassung ermöglicht folgende theoretische Zugriffe (m.E. in Überwindung bisheriger Beschränkungen):

(20) Kursorisch ergeben sich damit folgende Resultate. Die Geschichte der Produktivkraftentwicklung kann in drei große Epochen eingeteilt werden, in denen jeweils ein Aspekt des Mensch-Mittel- Natur-Verhältnisses bestimmend ist und denen jeweils bestimmte Vergesellschaftungsformen entsprechen. Die naturale Epoche der agrarischen Gesellschaften war durch (sehr unterschiedliche) personal-konkrete Vermittlungs- und Herrschaftsformen gekennzeichnet. Die warenproduzierende Mittelepoche der industriellen Gesellschaften ist durch abstrakt-entfremdete Vergesellschaftungsformen bestimmt. Als Aufhebungsperspektive lässt sich die unbeschränkte Selbstentfaltung des Menschen, die nur die Entfaltung aller sein kann, denken, die die abstrakte Vergesellschaftung durch personal-konkrete herrschaftsfreie gesellschaftliche Vermittlungsformen aufhebt [8]. Ansätze dieser Entwicklungstendenz sind in vielfältiger Weise - noch in der Warenform und jenseits dessen - heute sichtbar.

Freie Software

(21) Handelt es sich bei der Freien Software um einen bloßen »Ansatz« (im o.g. begrenzten Sinne) oder eine Keimform des Neuen? Folgende Aspekte sprechen für den Keimformcharakter:

(22) Folgende Aspekte sprechen gegen den Keimformcharakter:

(23) Hieraus ergeben sich viele Fragen, die auch intensiv im Oekonux-Projekt diskutiert werden. Dabei geht es nicht darum, wer »Recht« hat, sondern sowohl Kritikerinnen wie Unterstützerinnen der Keimform-Hypothese ringen um eine gemeinsames Begreifen der realen Prozesse. Alles andere wird die Praxis zeigen. So ist mit den hier vorgelegten Kategorien und Kriterien noch in keiner Weise beantwortet, wie denn eine gesellschaftliche Vermittlung der Produktion und Reproduktion konkret aussehen kann - also die Frage danach, was denn »personal-konkrete herrschaftsfreie Vergesellschaftung« bedeuten kann. Darum soll es im folgenden zweiten Teil gehen.

II: Zur Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft

Vermitteltheit und Unmittelbarkeit

(25) Bei kritischen Marxistinnen rückt der Abschnitt über den »Fetisch« aus dem Marxschen »Kapital« zunehmend wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Offensichtlich hat das »Wertgesetz« noch wesentliche andere Folgen, als dass es nur den Verwertungskreislauf regelt. Es konstituiert als apersonaler, sachlicher Mechanismus eine bestimmte Form der Sozialität. Soziale Verbindungen erscheinen und sind durch die »Bewegung von Sachen« geregelte Verbindungen zwischen den Menschen: Sozialität in dinglicher Form. Mit der Kritik von Verdinglichung und Entfremdung kann man nun leicht über das Ziel hinausschießen. In der abstrakten Negation der entfremdeten Vergesellschaftung als »Vermittlung hinter unserem Rücken« (durch die »invisible hand« des Marktes) und der Entgegensetzung einer Form der »Unmittelbarkeit«, in der die Dinge »direkt geregelt« werden und alles »vernünftig abgesprochen« werden kann, weil alles »unmittelbar offenliegt« etc., liegt eine fehlende oder eine mindestens unklare Vorstellung von der gesellschaftlichen Natur des Menschen. Aber wer will schon gerne seine/ihre Angelegenheiten hinter dem Rücken regelt wissen?

(26) »Ich« - kann ich ohne zögern antworten, denn Vergesellschaftung bedeutet immer, dass sich der gesellschaftliche Zusammenhang und meine Einbettung darin auch ohne mein Zutun herstellt [10]. Die Frage ist, auf welche Weise sich der Zusammenhang herstellt, ob, wie in der warenproduzierenden Gesellschaft, über »Arbeit« [11] und »Wert« oder ob über die freie Entfaltung des Einzelnen in der freien Assoziation. Freie Entfaltung des Einzelnen in der freien Assoziation bedeutet mitnichten, dass alle gesellschaftlichen Angelegenheiten unmittelbar zugänglich wären. Wie aber sieht eine Vergesellschaftung aus, die einerseits weder entfremdet über den »Wert« noch über eine scheinhafte Unmittelbarkeit geregelt wird? Führt eine Aufhebung der »automatischen Wertvergesellschaftung« nicht notwendig zu personalen Formen »unmittelbarer Regulation«? Nein, sie führt zu einer anderen »automatischen Form«, in deren Zentrum jedoch nicht der »Wert«, sondern der sich entfaltende Mensch steht. Die Vergesellschaftungsdynamik ist dann nicht mehr Resultat eines abstrakten, verselbstständigten Prinzips »dritter Person«, sondern eines konkreten personalen Prinzips »erster Person«, nämlich der Bedürfnisse der individuellen, gesellschaftlichen Menschen.

(26.1) 12.06.2002, 13:22, Benni Bärmann: Das wäre dann genau sowas, was Sven oben zugleich abstrakt und konkret genannt hat, oder? Also abstrakt-potentiell-konkret.

Vergesellschaftung als Vermittlung von Individuum und Gesellschaft und der Gesellschaft mit sich selbst

(27) Um Vergesellschaftung als Vermittlung begreifen zu können, ist es notwendig, sich noch einmal den Begriff der »Gesellschaft« klarzumachen. Die Gesellschaft bildet eine eigenständige systemische Ebene, sie ist eine qualitativ besondere Widerspiegelungsform materieller Realität. Auf der menschlich-gesellschaftlichen Ebene gibt es zwei Perspektiven, die zu unterscheiden sind: die des Individuums und die der Gesellschaft. Den Zusammenhang habe ich in einem anderen Aufsatz (Meretz 2001) wie folgt skizziert:

(28) Der Mensch ist also zugleich Natur-, Gesellschafts- und individuelles Wesen. Sich »zu vergesellschaften« hat mithin zwei Dimensionen: zum Einen das individuelle Hineinwachsen in die Gesellschaft, also das individuelle Entfalten der menschlichen Potenz zur gesellschaftlichen Teilhabe, und zweitens das tagtägliche Sich-Bewegen »in« den gesellschaftlichen Infrastrukturen, also die wie auch immer begrenzte Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess. Dieser individualtheoretische Begriff der Vergesellschaftung ist abzuheben vom gleichlautenden gesellschaftstheoretischen Begriff, der die Bewegungslogik der (Re-) Produktion des Lebens auf der Systemebene der Gesamtgesellschaft in den Blick nimmt, also die gesellschaftlich-durchschnittliche Beteiligung »des Menschen« daran. Es ist von eminenter Bedeutung, ob ich den je einzelnen konkreten Menschen oder den - als Exemplar nicht existenten - »durchschnittlichen Menschen« theoretisch fixiere. Was ich gesellschaftstheoretisch als faktischen »konditionalen Zusammenhang« konstatieren kann - etwa: die herrschende Ideologie wird von den Menschen (re-) produziert - ist individualtheoretisch nur als »optionaler Zusammenhang« formulierbar: Es ist möglich, sich zur herrschenden Ideologie kritisch ins Verhältnis zu setzen und sie (mindestens partiell) zu unterlaufen.

(29) Analog zu den zwei Begriffen der Vergesellschaftung [13] lässt sich nun der Begriff der Vermittlung spezifizieren: die individuelle Vergesellschaftung als gesamtgesellschaftlich vermittelte Lebenstätigkeit kann man differenzieren in die individualbiographische Entfaltung und die alltägliche Teilhabe am Vermittlungsprozess; die »gesellschaftliche Vergesellschaftung« kann man fassen als Reproduktion der Gesellschaft als System, als Vermittlung der Gesellschaft mit sich selbst.

(30) Die Frage ist also nicht ob, sondern auf welche Weise sich die Vermittlung konstituiert. Die warenproduzierende Gesellschaft ist um den dynamischen Kern der »Verwertung von Wert« aufgebaut, synthetisiert durch dichtes Netz von politischen, juristischen und ideologischen Infrastrukturen und »objektiven Denkformen« (Marx). Auch für die vormodernen Gesellschaften lässt sich eine allgemeine Skizze formulieren: Der dynamische Kern besteht in der Herrschaft über personal abhängige Menschen. Auch hier sorgt ein Netz politisch-ideologischer Infrastrukturen und »objektiver Denkformen« (insbesondere religiöser) für die gesamtgesellschaftliche Synthese und Kohärenz. Marx hat überzeugend herausgearbeitet, dass die gesellschaftliche Synthese über den »Wert« den Menschen als abstrakt-entfremdete »Bewegung von Sachen« entgegentritt, dass die Synthese also wie ein Fremdes, quasi-natürliches Äußeres erscheint und ist [14]. Das ist der Kern des Fetischismus. In Analogie dazu trat den »vormodernen« Menschen die gesellschaftliche Synthese als die entgegen, die sie ist: als personal-konkrete, herrschaftsförmige »Bewegung von Personen«. Der Unterschied besteht darin, dass der Fetischismus sich in der abstrakt-entfremdeten Bewegung apersonal konstituiert, während die personal-konkrete Herrschaft den Fetisch sozusagen »personal herstellt« und zum Zwecke der Herrschaft nutzt. Zugespitzt: Während der Fetisch in der modernen Gesellschaft die Menschen kontrolliert, kontrollieren die Herrschenden in den vormodernen Gesellschaften den Fetisch, weil und indem sie »Teil« des Fetischs sind. Damit ist eine Geschichtsschreibung als »Geschichte von Fetischverhältnissen« (Wertkritik) auf der Erscheinungsebene so richtig wie die der »Geschichte von Klassenkämpfen« (Traditionsmarxismus) - beide werden jedoch der gesellschaftlichen Dynamik unterschiedlicher Qualität in der Geschichte nicht gerecht.

(30.1) 12.06.2002, 13:29, Benni Bärmann: Ich kann nicht erkennen inwiefern ein vormoderner Mensch den Fetisch Religion mehr kontrolliert hätte, als wir heute den Fetisch Ware.

(30.1.1) 30.12.2002, 11:25, Stefan Meretz: Den Unterschied sehe ich darin, dass in vormodernen Gesellschaften die "Wirkungen" der Fetische unmittelbar von den Handlungen der Menschen abhingen. Die Menschen konstituierten ihre Fetische, denen sie sich unterwarfen, aktiv und waren insofern auch nicht von ihnen getrennt. Die Fetische waren damit völlig von ihren Erzeugern abhängig und hatten keine Art von "Eigenleben". Der Warenfetisch hingegen hat dieses "Eigenleben", das durch die Warenbewegung hinter dem Rücken der Leute erzeugt wird. Hier ist es eben genau ungekehrt: Der Fetisch konstituiert die gesellschaftlichen Beziehungen.

(30.1.1.1) 04.01.2003, 12:18, Stefan Merten: Ich glaube, ich habe verstanden was du meinst, bin aber anderer Ansicht. Ich würde meinen, dass religiös orientierte Vergesellschaftungsformen durchaus auch Elemente von Eigenleben hatten wie es der Kapitalismus hat. Beispiel fällt mir allerdings jetzt gerade keins ein :-( .

(30.1.2) 30.12.2002, 11:32, Stefan Meretz: Vielleicht ist "Kontrolle" das falsche Wort. Es hört sich so nach der Möglichkeit von "Ausstieg" an oder "bewußter Gestaltung" - mit einem modernen Begriff von "Bewusstheit". Das meine ich nicht. Aber an der ungeheuren Vielfalt der Fetischformen, den vielen religiösen Regeln und Praktiken - darunter ja auch sehr "gemütliche" und nicht nur blutrünstige - erkennt man das höhere Maß an "Kontrolle". Der Warenfetisch hingegen macht im urbürgerlichen Sinne alle "gleich".

(30.1.2.1) 04.01.2003, 12:20, Stefan Merten: Vergleichst du hier nicht die falschen Ebenen miteinander? Ich meine die Wertvergesellschaftung bringt auf der Phänomenebene auch eine "ungeheure Vielfalt von Fetischformen" hervor, den vielen individuellen Lebensstilen, Geschäftsmodellen etc. Diese sind m.E. aber genauso durch das Eigenleben des Warenfetischs bestimmt, wie es die religiösen durch religiöse Fetische waren.

(30.1.3) 30.12.2002, 14:02, Stefan Meretz: Dazu habe ich noch ein passendes Zitat von Marx gefunden (Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 537): "Die religiöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet des Bewußtseins des menschlichen Innern vor, aber die ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens - ihre Aufhebung umfaßt daher beide Seiten."

Versuch des Denkens einer Vergesellschaftungsdynamik jenseits der Wertform

(31) Denken wir auf dieser Abstraktionsebene über den Kapitalismus hinaus, dann können wir allgemein sagen, dass die Alternative zur fetischistischen Vermittlung, zur Vergesellschaftung über ein Drittes, durch eine abstrakt-entfremdete »Bewegung von Sachen« (Marx), die Vermittlung »erster Person« durch die Menschen selbst ist. So allgemein, so unstrittig (vermutlich). Wie können wir diese Vermittlung konkretisieren?

(31.1) Vermittlung "erster Person" unstrittig ?, 30.05.2002, 19:19, Swen Osterkamp: "Bewegung von Information" siehst Du wohl eher als eine Unterform der "Bewegung von Sachen" und nicht als ein mögliches Nachfolgeprinzip in Fortschreibung der Abstraktionstendenz von Personen zu Sachen

(32) Zunächst ist negativ festzuhalten, dass gesellschaftliche Vermittlung eine Konzeption der unmittelbaren Regulation der gesellschaftlichen Angelegenheiten logisch ausschließt. Eine Frage könnte jedoch sein, ob sich die gesellschaftliche Vermittlung gleichsam »emergent« aus der Sphäre der unmittelbaren Interaktionen bzw. personalen Kooperationen der Menschen »ergibt«. Auch diese Sichtweise ist inadäquat, denn sie würde die »Gesellschaft« quasi neben das »unmittelbare Tun« stellen. Zwischen beidem gäbe es keinen echten Zusammenhang mehr, die gesellschaftliche Emergenz müsste sich gewissermaßen »zufällig« herstellen. Das ist aber nicht der Fall. Wir können die Frage also so formulieren: Wie stellt sich eine gesellschaftliche Emergenz notwendig her?

(33) Auf die warenproduzierende Gesellschaft geschaut, wissen wir, dass es dort der »Wert« bzw. die »Verwertungslogik« ist, die den Kern der Vergesellschaftungsdynamik markiert. Zur Emergenz kommt es »hinter unserem Rücken« durch die »unsichtbare Hand« des Marktes. Da Emergenz stets ein »hinter unserem Rücken« im Sinne eines »nicht unmittelbar herstellbar« bedeutet, ist die Frage, ob es eine andere »Instanz«, ein anderes »Prinzip« geben könne, das die Emergenz bewirkt, also die Vermittlung herstellt. Der Einspruch gegen diese Frage lautet prompt: Wird dabei nicht bloß ein fetischistisches Prinzip durch ein anderes ersetzt? Soll nicht gerade die Emergenz jenseits der menschlichen Bedürfnisse, unabhängig von uns, endlich aufhören? - Ja! Dieser scheinbare Widerspruch löst sich dann auf, wenn es die menschlichen Bedürfnisse, also die Menschen selbst sind, die diese Emergenz herstellen: Dies jedoch nicht als fiktive »Summe unmittelbarer Interaktionen«, sondern als individuelle Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess.

(34) Teilhaben am gesellschaftlichen Prozess tun die Menschen auch heute schon, jedoch, wie mehrfach festgestellt, vermittelt und zugerichtet durch das »dritte Prinzip« der Wertabstraktion. Es geht also darum, das »Prinzip vom Standpunkt dritter Person« (den Fetisch) durch gesellschaftliches Prinzip vom »Standpunkt erster Person« aufzuheben. Dieses gesellschaftliche Prinzip verkörpert die »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Marx/Engels 1948, 482). Diese »freie Entwicklung« oder »Selbstentfaltung«, wie es im Oekonux-Projekt genannt wird, ist dabei nicht denkbar als Entwicklung des isolierten Einzelnen, auch nicht als Summe unmittelbarer Interaktion und Kooperation jenseits gesellschaftlicher Vermittlung, sondern nur als unbeschränkte individuelle Teilhabe am Prozess der Vermittlung der kollektiven Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens [15].

(34.1) 12.06.2002, 13:38, Benni Bärmann: Moderne, Liberalismus und Kapitalismus haben doch den "Standpunkt erster Person" erst erfunden. Die gehen darin soweit, dass Ausgangspunkt jeder Erkenntnis das ungesellschaftliche Individuum ist (Robinson, Monade). Wenn Selbstentfaltung ein Standpunkt erster Person ist, dann nur einer der ersten Person plural. Wir statt ich. Doch auch das trifft es ganz und garnicht, weil wir immer Identifikation bedeutet, die jedoch bei Selbstentfaltung nicht vorhanden sein muss - oder nicht in dem Masse. Tatsächlich bietet zumindestens die deutsche Sprache dafür nichts an, oder? Das deutet sich ja auch in den Texten zur kritischen Psychologie an, wo immer von "je ich" die Rede ist, also sozusagen eine vierte grammatikalische Person eingeführt wird!

(35) Die Unterschiede von »unmittelbarer Interaktion und Kooperation« und »Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess« sind Perspektive und Reichweite. Während die unmittelbare Kooperation stets begrenzt ist auf das »operative Tun« in »personaler Reichweite«, bedeutet Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess ein Handeln in »überindividueller Reichweite« vermittelt in und durch gesellschaftliche Infrastrukturen. Habe ich mit meinen Handlungen am gesellschaftlich-kooperativen Prozess teil, dann gehe ich notwendig solche kooperativen Beziehungen zu Anderen ein, in denen meine Teilhabe möglich wird. Diese Beziehungen können sehr vielfältig sein, doch stets nutze und (re-) produziere ich gesellschaftliche Infrastrukturen, die ich für meine Teilhabe brauche. Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess und Nutzung, Herstellung und Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Infrastrukturen sind ein Prozess. Es kann sogar eine besondere Form der Teilhabe sein, nichts anderes zu tun, als Infrastrukturen herzustellen, die anderen die Teilhabe ermöglicht. Wenn Teilhabe und (Re-) Produktion der Teilhabe-Infrastrukturen der gleiche Prozess sind, dann stellt sich damit notwendig das her, was ich vorher »gesellschaftliche Emergenz« bzw. »gesellschaftliche Vergesellschaftung« genannt habe.

Die Vertrauensfrage

(36) Die Stabilität des gesellschaftlichen Prozesses und meine Eingebundenheit darin ist Voraussetzung für das Eingehen angstfreier und befriedigender unmittelbarer Kooperationen und Interaktionen. Um es an einem negativen Beispiel zu veranschaulichen: Wenn die gesellschaftliche (Re-) Produktion »zusammenbricht«, dann ist auch trotz eines vollen Kühlschranks ein angstfreies und befriedigendes Kochen und Essen unter Freunden schwer möglich. Allgemeiner formuliert: Das Vertrauen in die Stabilität und Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Prozesses, der sich von meinen unmittelbaren Beitrag unabhängig vollzieht, ist Voraussetzung für ein individuell angstfreies und befriedigendes Leben. Die unmittelbaren Interaktionen und Kooperationen der Menschen brauchen stabile gesellschaftliche Infrastrukturen, also das Vertrauen darin, dass die Teilhabeformen auch eine wirkliche Teilhabe erlauben. Das »Perverse« des Kapitalismus ist nicht nur, dass Teilhabe nur in entfremdeter Form möglich ist, sondern dass Millionen selbst noch von dieser entfremdeten Form der Teilhabe ausgeschlossen sind - und sich in der Regel »unmittelbar« wünschen, wieder in die Form der entfremdeten Teilhabe zu gelangen.

(37) Wie muss also ein gesellschaftlicher Prozess beschaffen sein, dass je ich Vertrauen darin haben kann? Auch hier hilft wieder ein kurzer Rückblick. Der Kapitalismus erzeugte dieses Vertrauen in einer kurzen »Sonderperiode« seiner Entwicklung, nämlich der fordistischen Boomphase nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier hatte die Wertvergesellschaftung jene Stabilität, die Vorsorge für alle möglich zu machen schien. Doch der »Vertrauensbruch« folgte auf dem Fuße. Seit Mitte der Siebziger Jahre wurde fühlbar, dass sich diese Vergesellschaftungsform gegen die Bedürfnisse der Menschen verselbstständigte. Inzwischen wissen oder ahnen eigentlich alle, dass die frühere Qualität des Vertrauens in die allgemeine Vorsorge nicht wiederkehrt. Die fehlende Option einer anderen Art der Vergesellschaftung lässt jedoch genauso (fast) alle an der alten Form festhalten. Besser diese als gar keine - deswegen sind »einfache Negationen« ziemlich unattraktiv.

(38) Die Alternative ist eine Vergesellschaftungsform, in der das Vertrauensnetz durch das Handeln der Menschen erzeugt wird. Das »Prinzip dritter Person«, die Entfremdung in der Wertvergesellschaftung, ist ersetzt durch das »Prinzip erster Person«, die Selbstentfaltung. Ist dem »Prinzip dritter Person« eigen, dass je ich mich nur auf Kosten Anderer durchsetzen kann, so erfordert das »Prinzip erster Person« je meine Entfaltung als Voraussetzung für die Entfaltung aller und vice versa. Die Heraushebung »des Menschen« ist also keine idealistische Anrufung eines »guten Kerns« oder die Forderung nach einer »neuen Ethik«, sondern die (hier notwendig theoretische) Begründung dafür, dass es keines »externen Dritten« bedarf, der Menschen dazu führt, ihre Gesellschaftlichkeit auch zu realisieren.

Zusammenfassung II

(39) Zusammen mit den in Abschnitt I entwickelten Bestimmungen zur Dialektik von Produktivkraftentwicklung und Vergesellschaftungsform kann nun festgehalten werden:

Selbstentfaltung: Entfaltung des Menschen »an-und-für-sich«

(40) In meiner Sicht liegt es auf der Hand, dass ein »Prinzip erster Person« nicht auf dem Weg der Stärkung des »Prinzips dritter Person« erreicht werden kann. Die Bewegung zur Emanzipation der Menschen selbst muss in ihren eigenen Formen emanzipatorisch sein. Es geht nicht um Eroberung, sondern Zersetzung von Macht und Herrschaft als Regulationsformen gesellschaftlicher Prozesse. Wie stets in der Geschichte entscheidet sich die Durchsetzungsfähigkeit einer neuen Weise der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens daran, ob sie in umfassender Weise »besser« ist als die alte Form. In widersprüchlicher Weise zeichnet sich heute ab, dass die Vorstellung der »Entfaltung der Hauptproduktivkraft Mensch an-und-für-sich« kein idealistisches Konzept, sondern real ablaufender Prozess der Produktivkraftentwicklung ist.

(40.1) Besser?, 13.06.2002, 09:16, Benni Bärmann: Die Forderung, dass eine neue Produktionsweise immer "besser" sein muss, teile ich nicht. Daraus würde sich direkt ableiten, dass es so etwas wie ein historisches Prinzip gibt, dass alles immer besser werden muss. Das halte ich für genauso absurd wie die Vorstellung, dass früher alles gut war. Tatsächlich sind neue Produktionsweisen vor allem anders. Natürlich muss es Bereiche geben in denen sie in irgendeinem Sinne "besser" sind, da sonst der Übergang nicht stattfinden kann. Ebenso kann es aber auch Bereiche geben, in denen die alte Produktionsweise "besser" war. Bestes Beispiel ist doch der Kapitalismus. Es gibt einiges, was vorher "besser" war und einiges, was hinterher besser war. Schliesslich kann "besser" immer auch alles mögliche Bedeuten, je nach der Bewertungsskala, die man anlegt.

(41) In der Form der Warenproduktion der antagonistische Widerspruch von Selbstentfaltung und Selbstverwertung nicht auflösbar. Er verweist jedoch auf die Möglichkeit einer neuen Form der Vergesellschaftung. Es bedurfte der Praxis der Freien Software, diese Potenz erkennen zu können. Erst hier konnte sich unter besonderen Bedingungen eine im Kern nichtwarenförmige Produktionsweise herausbilden, deren Kern das »Prinzip erster Person«, die Selbstentfaltung, die Entfaltung des Menschen »an-und-für-sich« ist - ansatzweise wenigstens. Damit soll die Freie Softwarebewegung nicht als »historisches Subjekt« stilisiert werden, es soll auch nicht anderen Bewegungen ein möglicher »Keimformcharakter« abgesprochen werden. Sie hat dennoch einiges Nachdenken auch in traditionellen Bewegungen ausgelöst, hat alte Gewissheiten in Frage gestellt, hat neue Perspektiven für das Denken und Handeln eröffnet - ganz einfach so, unideologisch, praktisch.

Anmerkungen

(42) [1] Der Begriff »Freie Software« meint hier v.a. Bewegung und besondere Produktionsweise. Wenn explizit die freie Software gemeint ist, verwende ich die Kleinschreibung. Zu Darstellung von Geschichte und Wesen der Freien Software verweise ich auf Meretz (2000) und Meretz/Schlemm (2001).

(43) [2] Mit »Traditionsmarxismus« bezeichne ich all jene Strömungen, in denen das Marxsche »Klassenkonzept« und die »Mehrwertkritik« zentrale Theorieelemente bilden; mit »Wertkritik« dagegen solche sich kritisch vom Traditionsmarxismus abhebenden Strömungen, die den traditionellen »Klassismus« ablehnen und der Analyse der »Wertform« eine zentrale Bedeutung geben. Die Anführungsstriche lasse ich im folgenden weg.

(44) [3] »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.« (Marx 1859, 9) Drei typische Verkürzungen (nicht nur) des Traditionsmarxismus finden hier in Marx ihren Zeugen: die Reduktion der Produktionsverhältnisse auf die Eigentumsfrage, die Verdinglichung der Produktivkräfte, der Revolutions-Automatismus aus dem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

(45) [4] Interessanterweise entspann sich an dieser Stelle des Vortrags eine Diskussion darüber, ob denn Warenform und Wertgesetz im Realsozialismus existierten oder nicht. Klingt es so verrückt, dass man das aus heutiger Perspektive nur schwer wahrhaben möchte? Ich empfehle einen Blick in DDR- Standardwerke, so etwa zur »Politischen Ökonomie des Sozialismus«. - Der Unterschied zum Kapitalismus schrumpft damit jedoch auf den von Gorbatschowisten erhobenen Vorwurf zusammen, dass im Realsozialismus »voluntaristisch« gegen das Wertgesetz verstoßen wurde. Sie hatten recht: Dieser »Defekt« wurde mit der Wende schließlich behoben.

(46) [5] Automatisch? - Der Wert »geht beständig aus der einen Form in die andre über, ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren, und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt« (Marx 1890, 168f). Tautologisch? - »Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist ... Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung.« (ebd. 167)

(47) [6] Der Begriff der »subjektlosen Herrschaft« bildet gewissermaßen die Kehrseite des Begriffs des »automatischen Subjekts« von Marx, für den »Kapitalist« eine objektive Funktion ist: »Der objektive Inhalt jener Zirkulation - die Verwertung des Werts - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital« (Marx 1890, 167f). Dies bedeutet nicht, dass es nicht Personen wären, die Herrschaft ausüben. Diese jedoch als »Herrschende« personal anzugreifen, mystifiziert und verharmlost den wirklichen funktionalen Zusammenhang der »subjektlosen Herrschaft« und bietet insbesondere mit der Polemik gegen die »Spekulanten« eine ideologische Überschneidung zum Antisemitismus.

(48) [7] Sofern Entwicklungsprozesse stets nur als »Selbstbewegung in Widersprüchen« aufgefasst werden, ist das zusätzliche Adjektiv »dialektisch« hier überflüssig. Ich habe es zur Verdeutlichung jedoch hinzugefügt.

(49) [8] Ziehe ich die frühere Bestimmung heran, wonach die abstrakte warenförmige Eigenlogik nicht »personal« (als Klassensubjekt) aufgehoben werden könne und gehe ich vom Übergang abstrakt- entfremdeten zur herrschaftsfreien, personal-konkret vermittelten Produktivkraftentwicklung aus - habe ich mir dann nicht einen logischen Widerspruch eingebrockt? Mir kommt es darauf an, dass »Aufhebung« kein voluntaristischer Akt ist. Besonders festes Wünschen und Wollen hilft nichts. Entscheidend ist vielmehr die Eigenlogik der historischen Entwicklung begrifflich zu rekonstruieren, um in dieser Entwicklungslogik eingreifend die »richtigen« Schritte zu tun. »Richtig« ist dabei das, was jenseits der alten Logik liegt, was also dazu beiträgt, zunächst »außerhalb« initiale Stellen anderer Logik - Keimformen - zu etablieren.

(50) [9] Das Projekt Oekonux (»Ökonomie & GNU/Linux«) entstand im Sommer 1999 und beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie die Prinzipien Freier Software gesellschaftlich verallgemeinerbar sind, vgl. die Website www.oekonux.de. Vom 28. bis 30.4.2001 fand in Dortmund die erste Oekonux-Konferenz statt, dokumentiert unter erste.oekonux-konferenz.de. Die zweite Konferenz ist geplant für den 1. bis 3.11.2002 in Berlin, vgl. www.oekonux-konferenz.de.

(51) [10] Diese ontische Qualität menschlicher Vergesellschaftung wurde von der »Kritischen Psychologie« (vgl. Holzkamp 1983) herausgearbeitet, die damit explizit den psychoanalytisch fundierten Ansätzen der »Kritischen Theorie« widerspricht, die von einen im Kern »antigesellschaftlichen Triebmodell« ausgehen.

(52) [11] In wertkritischer Perspektive ist die verselbstständigte Realabstraktion (vgl. Fußnote 14) der »Arbeit« ein historisches Produkt (im Gegensatz zum allgemeinen Stoffwechsel mit der Natur), welche als (männlich konnotierte) Sondersphäre der »Produktion« unter Abspaltung der (weiblich konnotierten) Sphäre der »Reproduktion« erst mit der warenproduzierenden Gesellschaft entstand. Damit wird die traditionsmarxistische Universalisierung des Arbeitsbegriffs als unzulässige Ontologisierung kritisiert.

(53) [12] Stefan Meretz, Der wilde Dschungel der Kooperation, erscheint 2002 in einem Sammelband mit Texten zur »Theorie der Freien Kooperation« von Christoph Spehr, online: www.opentheory.org/dschungel/text.phtml.

(54) [13] Es gibt mindestens noch einen dritten Begriff der Vergesellschaftung, der in den Siebziger Jahren eine zentrale »linke« Forderung verkörperte: die »Vergesellschaftung« von Konzernen, Banken etc. Diese war jedoch faktisch nur als Überführung in staatliches Eigentum denkbar. Das spiegelt wiederum die fehlende Erkenntnis darüber wider, dass der Staat eine historische Form der Vergesellschaftung (neben anderen) darstellt und nicht die Form der Gesellschaft schlechthin ist.

(55) [14] Dafür wird der Begriff der »Realabstraktion« (nach Sohn-Rethel) verwendet: Es handelt sich bei der durch die Wertabstraktion konstituierten Dynamik um die real wirksame Form der Vergesellschaftung.

(56) [15] Um Missverständnissen vorzubeugen: Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens bezieht sich keineswegs nur auf das Herstellen der stofflichen Lebensmittel, sondern bezieht sich umfassend auf die Schaffung aller materiellen und immateriellen Mittel und Infrastrukturen (Kultur, Denkformen, Kommunikationsmittel etc.), die zur Bedürfnisbefriedigung »gebraucht« werden. Die individuelle Teilhabe hieran bedeutet also nicht notwendig, dass je ich an materieller Produktion beteiligt bin, ggf. auch nicht, dass je ich an »Produktion« überhaupt beteiligt bin, sondern vor dem Hintergrund der Aufhebung des Unterschieds zwischen »Produktion« und »Konsumtion« ist auch »Nutzung« i.e.S. Teil und individueller Beitrag zur Entfaltung von Kultur und Lebensweise. In Umkehrung des Bebelschen Diktums »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht Essen« könnte man formulieren: »Wer sich in Kultur des kulinarischen Genusses entfaltet, soll nicht auch noch 'arbeiten'«.

Literatur:

(57) Fuchs, C. (2001), Die IdiotInnen des Kapitals: »Freie« Softwareproduktion - Antizipation des Postkapitalismus?, in: Streifzüge 1/2001, online: http://stud4.tuwien.ac.at/~e9426503/infogestechn/fsw.html.
Holzkamp, K. (1993), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M.: Campus.
Kurz, R. (1997), Antiökonomie und Antipolitik. Zur Reformulierung der sozialen Emanzipation nach dem Ende des »Marxismus«, Krisis 19, Bad Honnef: Horlemann, online: www.opentheory.org/keimformen/text.phtml.
Marx, K. (1859), Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, Berlin: Dietz.
Marx, K. (1890), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 4. von F. Engels herausgegebene Auflage, in: MEW Bd. 23, Berlin: Dietz.
Marx, K., Engels, F. (1848), Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, Berlin: Dietz.
Meretz, S. (2000), Linux & Co. Freie Software - Ideen für eine andere Gesellschaft, Neu-Ulm: AG SPAK, online: www.kritische-informatik.de/fsrevo.htm.
Meretz, S. (2001), Der wilde Dschungel der Kooperation, online: www.opentheory.org/dschungel/text.phtml.
Meretz, S., Schlemm, A. (2001), Die Freie Gesellschaft als Selbstentfaltungs-Netzwerk, in: Marx.Blätter 2-01, online: www.opentheory.org/freie-gesellschaft/text.phtml.
Nuss, S., Heinrich, M. (2001), Freie Software und Kapitalismus, in: Streifzüge 1/2002, Langfassung online: userpage.fu-berlin.de/~nussini/oekonux.htm.


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