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Die Mensch-Werdung

Maintainer: Annette Schlemm, Version 1, 20.03.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Wir werden uns in den folgenden Kapiteln noch ausführlich damit beschäftigen, was das Psychische ganz allgemein ist, und wie es sich im Verlaufe der Evolution der Organismenarten mit entwickelte. Dabei entwickelte sich nach und nach alles, was jetzt gleichzeitig in unserer komplexen Psyche wirkt. Durch die historische Zurückschau können wir den Weg vom Einfacheren zum Komplexeren nachverfolgen. Zurückschau bedeutet jedoch, daß man bereits einen Standpunkt am Gegenwartspunkt hat, von dem aus wir zurückschauen. Dieser Standpunkt ist für uns durch das Erreichen des Mensch-Seins - und eines bestimmten Entwicklungsniveaus der Gesellschaft - gekennzeichnet.

(2) Was macht denn nun das Menschliche im Vergleich zu allen anderen Lebewesen aus? Es wird heute oft abgelehnt, im Menschen etwas allzu Herausgehobenes gegenüber der restlichen Natur zu sehen. Das wird als Überheblichkeit angesehen. Wir wissen heute, daß die meisten unserer Gene mit denen von Tieren übereinstimmen. Allerdings: Biotische Wesen werden - entgegen manchen Werbesprüchen der Gentechnik - in ihrer Natur nur zu einem geringen Teil von der Sequenz der Gene bestimmt. Wichtig sind darüber hinaus biochemische Prozesse in Zellen, die Funktionsweise der Organe und des ganzen Organismus und auch das Verhalten der jeweiligen Organismen. Aus gleichen Genen können diesbezüglich sehr unterschiedliche Wesenszüge der jeweiligen Arten und Organismen entstehen - sie helfen uns nur sehr bedingt bei der Bestimmung des Besonderen jeder Art oder Gattung.

(2.1) 05.04.2001, 17:11, Burkhard Stackelberg: Letztendlich sind die Gene aber die Voraussetzung fuer bestimmte Wesenszuege. Natuerlich entstehen die allermeisten Eigenschaften erst auf den hoeheren Ebenen, aber ob Katze oder Maus, die Gene machen's aus -- auch wenn die Katze oder die Maus ohne ihre jeweilige Umwelt (Nahrung, Waerme, Sinneswahrnehmung, Mitwesen) nicht sein koennten.

(2.2) 07.05.2001, 23:33, Birgit Niemann: Selbstverständlich kommt es auf die Gene an. Wie wäre es sonst zu erklären, das nur ein menschliches Genom auch einen Menschen kodieren kann. Aus einem Schimpansen-Genom kommt immer ein Schimpanse heraus, egal in welcher Umwelt sich das Genom realisiert. Niemals aber ein Mensch, obwohl sich doch beide Genome nur um 1,6 Prozent unterscheiden. Das macht deutlich, wie erheblich es auf die Gene ankommt. Biochemische Prozesse in den Zellen, Funktionsweisen von Organen und die gesamte zeitliche und räumliche Organisation der zum menschlichen Organismus assozierten Zellentätigkeiten werden zu jedem Zeitpunkt seiner individuellen Entwicklung von den Genen organisiert. Wer auch sonst könnte einen solchen komplizierten Prozess denn steuern. Wenn die Umwelt dabei eingreift, dann geht das nur über Moleküle (meist aus der Nahrung), die eben direkt oder vermittelt durch Kaskaden von Protein-Reaktionen auch Genaktivitäten beeinflussen können. Natürlich reicht es nicht aus, die Sequenz allein zu kennen. Einem Menschen, der z.B. der spanischen Sprache nicht mächtig ist, aber die lateinischen Buchstaben kennt, kann von einem spanischen Text auch die Sequenz bestimmen. Das nützt ihm aber gar nichts, wenn er die Bedeutung der Wörter und ihrer Verknüpfungen zu Sätzen nicht kennt. Ebenso ist es mit der Sequenz und der Bedeutung von Genen und der Regulation ihrer Aktivitäten.

(2.2.1) 09.05.2001, 23:18, Annette Schlemm: Okay, die Gene sind nicht unwichtig. Aber sie sind nicht das Bestimmende. Daß aus dem Wesen mit menschlichen Genen wirklich ein Mensch wird, dazu braucht er neben diesen Genen eben auch eine menschliche Umwelt, in die er hineingeboren wird und in der er sein Leben (re-)produziern wird.

(2.2.1.1) 11.05.2001, 21:45, Birgit Niemann: Das Genom bestimmt, welcher Organismus aus ihm entsteht. Ich habe es an anderer Stelle bereits erwähnt, im Zuge der Sprachexperimente, wurden Schimpansen in menschlicher Umgebung sozialisiert. Keiner aber wurde zum Menschen. Obwohl, und das ist ein sehr interessantes Faktum, diese Schimpansen sich selbst mit Menschen identifiziert haben. Zumindestens die, die gefragt wurden. Selbstverständlich hat keiner behauptet, dass genetische Information für die volle Ausreifung eines komplexen menschlichen Lebens allein hinreichend ist. Das erfährt bereits jedes Kleinkind, dass dem Geschwister das Spielzeug klaut ganz handfest am eigenen Leibe, sowie auch jeder Schüler, der fast Jahrzehnte über Schulbüchern schwitzt. Eine gesellschaftliche Umwelt, in der sie ihr Leben voneinander abhängig gemeinsam reproduzieren, haben ausserordentlich viele Organismen. Die Assoziation diskreter Lebewesen, die voneinander abhängig ihr Leben reproduzieren, ist eine der häufigsten Strategien im Leben, um Konkurrenzdruck erfolgreich zu meistern. Sie ist sozusagen ein "typisch biotischer" Prozess. Das wirklich Besondere am Menschen ist der ungewöhnlich große Anteil an reflektiertem Wissens in seinen organisierten Lebensprozessen. Das gibt es in dieser Größenordnung bei sonst keinem anderen. Dieses reflektierte Wissen erzeugt natürlich seine eigene Prozess-Qualität. Was Menschen auch tun, es wird einfach alles mit Geist überzogen. Das ergibt sich aber aus der Arbeitsweise des reflektierenden Gehirns und nicht aus der Tatsache. das Menschen asoziiert in ihrer Reproduktion voneinander abhängen. Natürlich ist die Reflektionsfähigkeit selbst ein Ergebnis von sozialen Beziehungen. Doch nicht von "typisch menschlichen" Assoziationen. Die wurden ja erst "typisch menschlich", nachdem es die Reflektionsfähigkeit bereits gab. Es kann manchmal ganz nützlich sein, ein bischen zu sortieren und sich dabei die innere Logik der Entstehung dessen, was was man versucht zu begreifen, auch klar zu machen.

(2.3) 22.02.2002, 17:03, Christian Apl: "Was macht denn nun das Menschliche im Vergleich zu allen anderen Lebewesen aus?" - Ich würde jetzt wirklich bald gerne wissen, wieso dieser Frage offenbar immer so eine riesige Bedeutung zugemessen wird. Was will mensch damit erfahren? Wieso will sie/er das immer wieder wissen? Was würde den Unterschied machen, wenn wir eine befriedigende Antwort auf diese Frage hätten? Ich halte das für eine Scheinfrage, die von den eigentlichen Anliegen weg führt. Ich glaube, es beginnt damit, dass mensch wissen will, was sie/er ist. Und sie/er beginnt die Beantwortung dieser Frage schon beinahe stur damit, zu ergründen was sie/er nicht ist. Es ist überhaupt ein merkwürdiges Unterfangen, Begriffe damit fasslich machen zu wollen, dass mensch ihre Grenzen beschreibt, sie definieren will. Hat mensch die Grenzen eines Dings, also resp. was das Ding nicht ist, hat sie/er noch keine Antwort auf die Frage, was es nun eigentlich wirklich ist. Ganz ähnlich auch hier - mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit verfangen sich die Diskussionen in einem immer schief laufenden Mensch-Tier-Vergleich. Wozu brauch ma des wirklich? würden wir hier in Wien sagen. Es geht immer um die Begriffsinhalte und weniger um ihre Grenzen. Es interessiert doch letztlich die Frage, was am Menschen erscheint uns besonders bedeutungsvoll, um zu einer Identität zu gelangen, bzw. eine Identität klar werden zu lassen. Aus lauter Nichtsen lässt sich nur schwierig eine Identität bauen. Kann es wirklich bedeutsam sein festzustellen, dass der Mensch ein Nicht-Tier ist? Eine Nicht-Rose duftet nicht wie eine Rose. Eine Rose hat mit ihrem Nicht-Geruch überhaupt nichts zu tun. Aussagen über den Nicht-Geruch lassen keine Rückschlüsse auf den Geruch zu. Es bringt uns keinen Schritt weiter, wenn wir tatsächlich wissen wollen, wie sie riecht.

(2.3.1) Wozu brauch ma des wirklich?, 03.03.2002, 23:43, Stefan Meretz: Wir brauchen es nicht, weil wir eine Identität brauchen. Und richtig, wir wissen nicht viel, wenn wir feststellen, dass der Mensch kein Tier ist (obwohl da auch welche gibt, die das behaupten). Die Frage ist deswegen so brennend wichtig, weil es um die Beantwortung der Frage geht, welche der beobachtbaren Verhaltensweisen solche sind, weil der Mensch eben so "ist", oder weil er sich unter diesen Bedingungen begründeterweise so verhält und damit die Bedingungen widerspiegelt. Davon hängt nämlich ab, was wir dem Menschen, was wir also uns zutrauen, was menschenmöglich ist. Und das ist für die Aufhebung des Kapitalismus eine wichtige Frage. Es geht also schon um die Frage, die menschliche Natur positiv zu bestimmen und nicht negativ.

(2.3.1.1) Re: Wozu brauch ma des wirklich?, 04.03.2002, 19:54, Christian Apl: Da stimme ich ja voll zu, dass es darum geht die menschliche "Natur" positiv zu bestimmen. Aber läuft die von Dir angedeutete Herangehensweise nicht letztlich auf die Frage hinaus, wieviel Freiheit sich der Mensch nehmen "darf"? Es schimmert irgendwie das Bedürfnis durch, endlich einmal "wissenschaftlich" zu belegen, dass sich die Menschen gegen kapitalistische Tendenzen wehren dürfen. Vertrauen und auch sich etwas zutrauen ist aber keine ableitbare Angelegenheit, sondern gerade im zwischenmenschlichen Bereich eine Sache der Entscheidung - ohne Netz, sprich ohne wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit. Das einzige, was einer solchen Entscheidung Halt geben kann, sind die Vereinbarungen die damit in Zusammenhang stehen.

(2.3.1.1.1) Re: Wozu brauch ma des wirklich?, 05.03.2002, 09:34, Stefan Meretz: Nein, es geht nicht um normatives Wunschdenken: es solle doch bitte so und so sein. Sondern es geht um die Entmystifizierung der - verkürzt formuliert - Behauptung, der homo oeconomicus entspreche der menschlichen Natur. Dies aber nicht deswegen, weil es mir nicht gefällt, sondern, weil es so nicht ist. Und das ist eine wissenschaftliche Fragestellung, um die ja z.B. hier gerungen wird. Interessant ist ja gerade, dass sich die bürgerlichen Ideologen einen Dreck um wissenschaftliche Positionen scheren, die ihnen nicht in den Kram passen. - Im übrigen geht es nicht um das "wehren dürfen", du hast da Recht, das ist eine Sache der Entscheidung. Die Kritische Psychologie macht keine normativen Aussagen, etwa: dies Verhalten ist gut, dieses ist schlecht. Ja, sie macht ja eigentlich gar keine Aussagen über konkrete Menschen, sondern gibt den Menschen Mittel in die Hand, ihre eigene Lage zu kapieren. Vgl. dazu http://www.opentheory.org/freiheit/text.phtml.

(2.4) Kein Gegensatz: Gene und Menschsein, 03.03.2002, 19:05, Stefan Meretz: In diesem Absatz benutzt du den metatheoretischen Begriff des "bestimmt seins" ohne ihn erklärt zu haben, und das macht einen Teil der Schwierigkeiten beim Verstehen dieses Absatzes aus. Es ist auch unklar, auf was sich das "bestimmt sein" bezieht: Individuum oder Art? Und: "bestimmt" bzgl. welcher Dimension? - So ist es IMHO klar, dass die jeweilige Art durch ihr Genom "bestimmt" ist bzgl. der Dimension "Ausgestaltung der Organismus-Umwelt-Beziehung". Wenn zur Art per Genom festgelegt das autarke Lernen gehört, dann kann es ein Individuum entwickeln, anderenfalls eben nicht. So lässt ja übrigens auch das oft diskutierte scheinbare Ausschliessungsverhältnis "Angeboren oder Erlernt" auflösen: Das Lernen der Form xy (es gibt verschiedene Formen) ist angeboren (also genetisch fixiert) oder eben nicht. Mit diesem Absatz versuchst du gegen diese merkwürdige Vermischung anzuschreiben: Legen die Gene die Wesenszüge fest oder nicht? - Die Antwort kann nur sein: individuell nein, artspezifisch ja. Dabei wird gleich auffällig, dass hier "Wesenszug" jeweils was sehr unterschiedliches meint: Einmal das individuelle Verhalten, und zum anderen das artspezifische "Verhaltens-Repertoire". Das solltest du "entmischen".

(2.5) 13.02.2003, 15:05, Ano Nym: hä

(3) Es gibt andere Unterscheidungsmerkmale: Früher wurde z.B. angenommen, daß nur Menschen ein Bewußtsein haben. Inzwischen hat man Tiere beobachtet, die vieles anscheinend viel "verstehen" und sich viel cleverer verhalten, als man bis dahin angenommen hatte. Im Prinzip weiß man auf diese Weise gar nicht, was Bewußtsein ist - die Kriterien dafür sind recht willkürlich.

(3.1) 07.05.2001, 23:44, Birgit Niemann: Ob man genau beschreiben kann, was ein Bewußtsein ist, ist eine Frage. Man kann aber auch fragen, wodurch ein Bewußtsein entsteht. Gehirne erkennen die Welt, indem sie Abbilder von realen Welteigenschaften virtuell nachbauen. Wenn ein Gehirn auf sich selbst zurückkoppelt, also sich selbst betrachtet, dann schafft es ein virtuelles Abbild von sich selbst. Dieses Abbild könnte als Ich erfahren werden. Damit dürfte das Ich-Bewußtsein das ursprünglichste Bewußtsein sein, dass es gibt. Ist es einmal vorhanden, können alle weiteren Abbilder und Handlungen dazu in Beziehung gesetzt werden. Das würde auch zu der Tatsache passen, dass bei einigen Primaten und neuerdings endlich auch bei Delfinen ein Ich-Bewußtsein nachgewiesen werden konnte. Unter diesen Umständen kommt es darauf an zu fragen, was ein Gehirn veranlassen kann, sich selbst zu betrachten.

(3.1.1) 09.05.2001, 23:19, Annette Schlemm: siehe mein Kommentar zu: http://www.opentheory.org/menschseinfrage/v0001.phtml#2.1

(3.1.2) Bewusstsein, 22.02.2002, 17:17, Christian Apl: Mensch könnte Bewusstsein als so eine Art Differenz zwischen Gedächtnis und Wahrnehmung sehen. Gerhard Roth meint: "Bewusstsein ist das Eigensignal des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensorisch, motorisch oder intern-kognitiv) und des Anlegens entsprechender neuer Nervennetze; es ist das charakteristische Merkmal, um diese Zustände von anderen unterscheiden zu können" (Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Suhrkamp 1997, eine übrigens sehr empfehlenswerte Lektüre, für alle die das Gehirn an sich interessiert). Er schreibt übrigens dem Gedächtnis die viel wichtiger Rolle als dem Bewußtsein zu.

(3.1.2.1) Re: Bewusstsein, 23.02.2002, 11:51, Birgit Niemann: "Er schreibt übrigens dem Gedächtnis die viel wichtiger Rolle als dem Bewußtsein zu." Das halte ich für eine interessante Auffassung. Sie führt mich wieder einmal zu einer typischen Henne-Ei-Frage: Kann es Bewußtsein ohne mentales Gedächtnis überhaupt geben und kann mentales Gedächtnis vorbewußt sein? Unbewußt kann Gedächtnis meiner Ansicht nach auf jeden Fall sein, denn sonst gäbe es kein Vergessen und keine Wiedererinnerung. Kann die Differenz zwischen Gedächtnis und Wahrnehmung auch als Differenz zwischen aktueller Wahrnehmung und gespeicherter Wahrnehmung verstanden werden? Wo kommt dann die Interpretation her, die ja mehr als eine einfache Differenz ist?

(3.1.2.1.1) Gedächtnis und Interpretation, 24.02.2002, 12:29, Christian Apl: Also m.E. kann auf alle Fälle die "Differenz zwischen Gedächtnis und Wahrnehmung auch als Differenz zwischen aktueller Wahrnehmung und gespeicherter Wahrnehmung" verstanden werden. Ja, und wo die Interpretation herkommt, scheint einmal eine hochergiebige Frage!
Ich arbeite seit geraumer Zeit mit einer Begriffsbestimmung, die in etwa so lautet: "Interpretieren ist das In-Beziehung-Setzen von mindestens zwei Begriffen". Interpretation setzt dann ein, wenn eine Differenz ausgemacht wird. Es ist der Prozess, der mit den erkannten Differenzen umgehen muss, der letztlich i.d.R. danach strebt, die Konflikte, Widersprüche, Differenzen aufzulösen bzw. plausibel zu machen. Interpretation ist so gesehen sicherlich mehr als die einfache Differenz. Die Differenz stellt vielmehr die Spannung dar, die die Interpretation lostritt. Ein eventuell auftretender Konflikt zwischen gespeicherter Wahrnehmung und aktueller Wahrnehmung zieht Aufmerksamkeit auf sich, verlangt nach einem interpretativen Akt...

(4) Es macht wohl nicht viel Sinn, ein Tier und einen Menschen nebeneinander in einen Käfig zu stecken und zu beobachten und daher erfahren zu wollen, was bei Menschen anders ist. Sie sehen anders aus. Aber daß man daran erkennen kann, wer Mensch und wer Tier ist, wußten wir ja vorher. Falls sie vorher bei Menschen aufgewachsen sind, werden die Menschen wohl sprechen. Aber macht nur die Sprachfähigkeit den Menschen? Stumme Erdenbürger sind auch Menschen!

(5) Das Bewußtsein als Unterscheidungsmerkmal zu nehmen hat so lange keinen Sinn, wie wir über seine willkürliche Definition nicht hinauskommen. Wir sehen einem Tier oder Menschen ja nicht an, ob es "bewußt" agiert, wenn sie im Käfig herumhantieren. Es könnte ja immerhin sein, daß das Tier nur nicht darüber sprechen kann. Und wenn "das Denken" die Menschlichkeit definieren würde - würden wir viele Menschen ausschließen, die von menschlichen Frauen zwar geboren, aber selbst nicht so weit entwicklungsfähig sind, in diesem Sinne zu denken (das sind jene, die dann "behindert" genannt werden, aber nichtsdestotrotz menschliche Wesen sind).

(5.1) 05.04.2001, 17:23, Burkhard Stackelberg: Sicherlich waere dann aber auch die Werkzeugherstellung (s.u.) in dem Sinne ein schwieriges Kriterium: Viele derjenigen, die "behindert" genannt werden, waeren dazu unfaehig. Offensichtlich laeuft die Begriffsdefinition des Menschen darauf hinaus, dass man als Menschen definiert, wer durch Geburt zu einer Population gehoert, in der gemeinhin bestimmte Merkmale (Sprache, vorausschauender Werkzeuggebrauch oder aehnliches) existieren oder existieren koennten.

(5.2) 08.05.2001, 00:00, Birgit Niemann: Natürlich sieht man einem Tier nicht an, ob es bewußt agiert. Das ist das Pech und gleichzeitig das Glück der Verhaltensbiologen. Sie sind so gezwungen, sich Tests auszudenken, mit denen man eindeutig und objektiv Verhalten aus Einsicht in die Situation vom Lernen am Erfolg oder einfacher Nachahmung abtrennen kann. Es sind besonders die Primatologen, häufig vergesellschaftet mit Kinderpsychologen, die die besten Ergebnisse liefern. Irgendwie ist das ja auch klar, denn wer sonst als die fleißigen Beobachter an den Grenzübergängen des Bewußtseins soll überhaupt gute Daten liefern.

(5.2.1) 09.05.2001, 23:19, Annette Schlemm: Aus der Sicht des Menschenbildes der Kritischen Psychologie, die das Wesen des Menschen in der Möglichkeit des bewussten-Verhaltens-zu, also der Distanz gegenüber den gegebenen Bedingungen, der Inanspruchnahme der Möglichkeit „so oder anders zu handeln“ ... sieht, würde ich ein „menschliches“ Verhalten nur dann konstatieren, wenn die Versuchsobjekte zu Subjekten werden und selbst entscheiden, ob sie sich den Bedingungen jedes möglichen Testversuchs überhaupt unterwerfen oder dies nicht tun. Die Leute im Big-Brother-Container haben diese Qualität auch noch, sie haben sich halt als Subjekte entschieden, sich den Bedingungen dort zu unterwerfen.... Daß sie diese Entscheidung treffen konnten und getroffen haben, unterscheidet ihre Situation immer noch von der aller Versuchsobjekte (auch jener die Menschen als Objekte betrachtenden Psychologieschulen bei allen ihrer Versuche und Tests).

(5.2.1.1) 14.05.2001, 19:21, Birgit Niemann: Bereits an anderer Stelle habe ich darauf hingewiesen, das Verhaltensexperimente mit Schimpansen nicht laufen, wenn die Schimpansen nicht einverstanden sind. Wenn sie keine Lust haben zeigen sie den Experimentatoren einfach die kalte Schulter und machen nicht mit. Das Kriterium der möglichen freien Entscheidung ist also in seiner Absolutheit nicht geeignet, um die besondere Natur des Menschen zu begründen. Anders ist das bei medizinischen Tests. Da ist kein Experimentator auf das Einverständnis eines Schimpansen angewiesen. Dafür werden Schimpansen häufig einfach in Isolations-Haft gehalten und in medizinischen Experimenten vernutzt. Das hat man auch schon mit Menschen gemacht, aber gegenwärtig kann sich das keiner mehr leisten.

(5.2.1.1.1) 22.02.2002, 17:33, Christian Apl: Da haben wir es wieder. Das Anliegen heisst doch hier: "die besondere Natur des Menschen zu begründen." Das unterstelt einmal, dass der Mensch eine "besondere Natur" hat - darumherum werden dann Begründungen gezimmert. Es ist nur die Frage wieso mensch das begründen will und gegenüber wem? Sich selbst gegenüber? Den anderen gegenüber? Mensch hat eine besondere Natur, weil sie/er Mensch ist. Ihre/seine Existenz muss ihr/ihm bedeutungsvoll sein, sonst würde sie/er außer sich stehen und gar nichts mit sich zu tun haben. Wir können immer nur von unserem Menschsein ausgehen, deswegen muss es Bedeutung für uns haben, etwas Besonderes für uns sein. Was wollte mensch da noch mehr begründen? Was wäre sonst noch legitim?

(5.2.1.1.1.1) Die besondere Natur des Menschen, 23.02.2002, 12:00, Birgit Niemann: Das unterstellt einmal, dass der Mensch eine "besondere Natur" hat - darumherum werden dann Begründungen gezimmert." Dies deutlich werden zu lassen, darum ging es mir gerade durch das "in Fragestellen" der versuchten Begründungen. Denn mich interessiert viel weniger "die besondere Natur des Menschen" als die Frage, was hat sich wie und warum während der Menschwerdung zum bereits Vorhandenen hinzuentwickelt und wie und warum wurde daraus die konkrete Gesellschaft, mit der wir uns heute herumschlagen müssen, weil wir uns in ihr vor allem anderem verwerten müssen, sofern wir keine fette Erbschaft gemacht haben. Die gedachte Vorraussetzung von "Einzigartigkeit" welcher Art auch immer stört dabei nur, weil sie bei der systematischen Suche nach Antworten und Verständnis eher hinderlich ist.

(5.2.1.1.1.1.1) Re: Die besondere Natur des Menschen, 24.02.2002, 12:56, Christian Apl: Geht es Dir nur darum, die Geschichte der Gesellschaft nachzuzeichnen, das Sein der Gesellschaft rein historisch zu begründen oder geht es Dir darüber hinaus auch darum, die Gesellschaft so umzuformen, dass wir uns in ihr nicht "vor allem anderem verwerten müssen"?
Im ersten Fall kann mensch durchaus versuchen und muss dies in vielen Fällen auch tun, die "Einzigartigkeiten" außer Acht zu lassen. Im zweiten Fall schaut das aus meiner Perspektive wesentlich heikler aus. Natürlich "stört" die "Einzigartigkeit", natürlich ist sie "hinderlich" bei der Systematisierung. Aber sie nur deswegen außer Acht lassen zu wollen, ist m.E. unzulässig verkürzend. Das ist doch gerade der Grund, warum wir uns mit dieser Gesellschaft herumschlagen müssen, weil sie uns eben auf Systematisierbares, sprich: Verwertbares reduziert.

Die Historische Methode

(6) Hören wir auf mit diesen vergeblichen Versuchen und überlegen uns eine andere Methode zur Unterscheidung von Tier und Mensch (ein Vergleich mit Pflanzen oder Pilzen macht wohl eh wenig Sinn). Wenn wir voraussetzen, daß sich Menschen in Verlaufe der Evolution aus tierischen Vorfahren entwickelt haben, gibt es irgendeine Stelle im Stammbaum, wo die letzten Vorfahren als Tiere zu kennzeichnen sind und die nächsten Generationen dann Menschen waren. Genaugenommen ist dies keine punktförmige " Stelle" , sondern ein zeitlich langandauernder Prozeß im sogenannten " Tier-Mensch-Übergangsfeld".

(7) Hier haben wir es aber fast noch schwerer, genau zu sehen, wodurch sich die ersten Menschen von den letzten Vor-Menschen unterscheiden. Es gibt diese Vormenschen ja nicht mehr. Die Schimpansen und Bonobos als unsere engsten Verwandten sind ja nicht die Vorfahren der Menschen, sondern eher ihre Geschwister. Wir sind auf archäologische Funde angewiesen. Ihre Datierung ist inzwischen gut möglich. Wenn man sich die Knochen aus verschiedenen Zeiten ansieht, kann man auch gut die Entwicklung verfolgen. Berühmt wurde " Lucie" , eine Sammlung von Knochen, der man ansieht, daß dieses Wesen bereits aufrecht lief. " Lucie" lebte vor ca. 3,5 Millionen Jahren. Neuerdings gibt es einen analogen afrikanischen Fund, der sogar 4 bis 6 Millionen Jahre alt sein soll. Der aufrechte Gang ist ein häufig verwendetes Unterscheidungsmerkmal in einer solchen historischen Betrachtung, weil er auch das einzigste Merkmal ist, das aus den Knochen ablesbar ist. Ein anderes Merkmal bezieht sich auch auf archäologische Werkzeugfunde. Solche Dinge wie Faustkeile, Speerspitzen oder ähnliches stellt und stellte kein Tier auf der Erde her. Die ersten Funde stammen auch aus einer Zeit von vor ca. 1,6 Millionen Jahren. Aha, " Menschen" gab es also seit ca. 1,6 Millionen Jahren... oder? Dies ist die derzeitige Standardmeinung.

(7.1) 08.05.2001, 00:10, Birgit Niemann: Zeit ist seit Einstein etwas sehr Relatives. Das gilt besonders in der Evolution. Eine Art akkumuliert Veränderungen nur, wenn sie durch die Umwelt dazu gezwungen wird. In konstanten Umwelten bleiben Arten hunderte Millionen von Jahren gleich. Wir nennen sie dann "lebende Fossilien". Wenn wir Bonobos, Schimpansen und Menschen betrachten, dann sehen wir nicht nur Geschwister. Wir sehen Geschwister, von denen zwei, Bonobos und Schimpansen, den gemeinsamen Eltern noch viel ähnlicher sind als wir. Besonders trifft das für den Bonobo zu. Erstens lebt er noch in der ursprünglichen Umwelt und zweitens lief Lucy nicht so aufrecht wie wir. In der Tat ist Lucy von allen drei Schwesternarten dem Bonobo-Skelett am ähnlichsten. Wenn wir damit vorsichtig umgehen, dann können wir sehr wohl von Schimpansen und Bonobos eine Menge über unsere Vorfahren lernen. Der aufrechte Gang ist wahrlich nicht das Einzige, was sich an Knochen ablesen läßt. Außerdem ist der aufrechte Gang nicht unbedingt das wesentliche Merkmal für Menschen. Er wurde in der Evolution von den verschiedensten Arten entwickeln. Ein Australopithecine mit aufrechtem Gang und 450 ccm Gehirn wie ein Schimpanse, erzählt uns vor allem, dass in der Savanne weitere Strecken zu laufen waren und wenig über neue menschliche Fähigkeiten.

(7.2) 22.02.2002, 17:46, Christian Apl: War würde mensch wohl antworten, wenn ein kleines Kind die Frage stellen würde (wenn es das überhaupt täte): "Du Papi, was ist ein Mensch?" - Ich glaube nicht, dass es befriedigt wäre, wenn wir ihm erklären, was Mensch im Unterschied zum Tier wäre (Kinder können sehr quälend fragen und Fragen stellen :-). Mensch müsste einmal ausprobieren, wenn sie/er antwortet: "Du bist ein Mensch" oder noch besser: "Ich bin ein Mensch" oder gar: "Wir beide sind Menschen". Ich glaube, "richtiger" und umfassender kann mensch die Frage vorerst nicht beantworten. Hier wird aber auch ersichtlich, dass es sich nicht um eine Ableitung handelt, zu der wir Begründungen bräuchten, sondern um eine Behauptung, die viel erstens von einem Neuanfang im Sinnes Arendts in sich trägt und zweitens auch viel von so etwas wie einem Rechtsanspruch. Behauptungen lassen sich letzlich nicht begründen, sondern nur leben. Das ist es schließlich, was wir (also zumindest ich) wollen: leben und nicht nur begründen.

(7.2.1) leben und nicht nur begründen., 23.02.2002, 12:20, Birgit Niemann: Wenn Du meinst, nur begründen ohne wirklich zu leben, dann stimme ich Dir zu. Aber zu meinem wirklichen Leben als denkender Mensch gehörte das Begründen immer ganz "natürlich" dazu. Davon kann (und will) ich ganz einfach nicht lassen. Kinder fragen ja gerade, weil sie Antworten hören wollen und sie fragen sehr oft warum. Das gibt schon mit den Kleinen die interessantesten Gespräche. Gerade zu Deiner Beispielfrage fällt mir ein, das mein einstmals dreijähriger Neffe seinen Vater fragte, nachdem er öfter die Phrase zu hören kriegte, dass er sich anstellen würde, wie der erste Mensch: Pappi, woher kommt eigentlich der erste Mensch? Mein Bruder versuchte ihm möglichst einfach die Sache mit dem Affen zu erklären. Das Kind dachte nach und zog einen messerscharfen Schluss:"Pappi, dann warst Du wohl auch 'mal ein Affe". Das schien ihm offensichtlich im Bereich der ihm vorstellbaren Möglichkeiten zu liegen.

(8) Der Zweck der historischen Betrachtung war, den Unterschied am Punkt der Menschwerdung auch inhaltlich besser bestimmen zu können. Es geht nicht nur darum zu sagen, ab wann die Vor-Menschen zu Menschen wurden, sondern auch, was an ihnen dann anders war, was sie anders machten. Wenn wir sehen, was sie anders machten, was neu durch sie in die Welt kam, haben wir auch Merkmale, die nur Menschen kennzeichnen.

(9) Was haben wir gefunden: Aufrechter Gang, Werkzeugherstellung. Aber Hoppla: Woher wissen wir, daß nicht auch Tiere, die es heute nicht mehr gibt, schon mal aufrecht gehen konnten? Wir schleppen ja bei der Interpretation, daß aufrechter Gang mit freiwerdenden Händen, also der Fähigkeit zur Handbenutzung bei der Werkzeugherstellung verbunden war, immer schon eine Vor-Annahme mit: daß es so war. Aber das wissen wir ja nicht. Es könnte sein. Und es wird seit 150 Jahren in fast allen Büchern immer wieder wiederholt, so daß es fast jede/r als selbstverständlich annimmt. Aber es könnte auch anders gewesen sein. Z. B. spricht mindestens genausoviel für die Annahme, daß die Vormenschen über Jahrmillionen - die Geologie des Gebietes legt das auch nahe - in flachen Wasserbereichen lebten und sich durch die Hilfe des tragenden Wassers langsam aufrichteten, ihr Haarkleid (bis auf den aus dem Wasser ragenden Kopf) verloren usw., usw. . Dies soll nur deutlich machen, wie unsicher unser Wissen über die realen Prozesse in dieser Zeit ist.

Siehe dazu im Internet (1998): Der aufrechte Gang der Menschenfrau - - Matriarchatsforschung und Visionen partnerschaftlichen Zusammenlebens - http://www.thur.de/philo/frauen.htm (2001)

(9.1) 08.05.2001, 00:31, Birgit Niemann: Homo sapiens sapiens entstand vor ca 150.000 Jahren. Sein Gehirn, seine Sprache, seine Hände und seine gesamten biologischen Eigenschaften waren bereits fertig und haben sich bis heute nicht mehr geändert. Er hatte Faustkeile, Speere und Feuer und vielleicht ein bisschen mehr. Die wirklich differenzierten Steinzeitkulturen, mit ihren zahlreichen fein gearbeiteten Werkzeugen, entstanden alle sehr viel später (ab 40.000 und später). Werkzeugherstellung kann den ganzen Prozess also bestenfalls nur am Rande beeinflusst haben. Es sieht ganz so aus, als müsste man wo anders suchen. Ein interessanter Fakt ist vielleicht, das die ältesten Höhlenbilder zufällig ca 130.000 Jahre alt sind. Sie finden sich auch noch gerade in den Gegenden, wo Homo sapiens sapiens auftauchte. Kunst aber stand (ob als Bild, Musik oder Tanz) bei allen ursprünglichen Kulturen im Dienste der Kommunikation mit den Geistern. Die Hypothese des "aquatischen Affen" kann man als Exotikum bewundern, sollte man allerdings nicht allzu ernst nehmen. Bei stammesgeschichtlichen Betrachtungen folgt man in der Regel dem Prinzip, nach dem Weg mit den geringsten notwendigen Veränderung zwischen zwei Punkten zu suchen und nicht der originellsten Idee.

(9.1.1) 09.05.2001, 23:20, Annette Schlemm: „Bei stammesgeschichtlichen Betrachtungen folgt man in der Regel dem Prinzip, nach dem Weg mit den geringsten notwendigen Veränderung zwischen zwei Punkten zu suchen und nicht der originellsten Idee.“ Wenn man die Einflüsse von zeitweisem Seichtwasserleben erst mal als möglich ansieht, ist es noch nicht klar, was die „geringste notwendige Veränderung“ inhaltlich ist! Ich wüsste nicht, wie viele Eigenschaften der Menschen, die durch die Wasserhypothese mit der „geringsten notwendigen Veränderung“ erklärbar sind, anders erklärt werden könnten (dass man sich diese Aufgabe noch nie gestellt hat, ist keine Antwort darauf!). Ich selbst gehe nicht davon aus, dass eine Antwort allein die richtige ist. Letztens habe ich als das Neueste aus der Anthropogenese gelesen, dass gerade die Vielfalt von realisierten Lebensmöglichkeiten der Hominiden ihnen auch als Art den Vorsprung von den anderen eher spezialiertenen Arten gegeben hat. Dabei tauchte dann eine längere wassernahe Zeit ganz selbstverständlich neben den anderen mit auf.
Aus allen meinen Erfahrungen mit der Evolutionsbiologie wäre ich übrigens sehr, sehr vorsichtig damit, die „geringsten notwendigen Veränderung“ als allgemeine Erkenntnismethode zu verwenden. Das ist genau das, was am Ende nie stimmt... (zumindest das habe ich als Physikerin von den BiologInnen gelernt).

(9.1.1.1) 14.05.2001, 20:38, Birgit Niemann: Die Theorie vom aquatischen Affen wurde nicht erfunden um den aufrechten Gang zu erklären, sondern war ein Versuch, zu verstehen, warum der Mensch sein Haarkleid verlor. Aus der Tatsache, das Wale nach ihrer Rückkehr in's Meer ebenfalls ihr Haarkleid verloren, wurde abgeleitet, dass auch beim Menschen ein Leben im Wasser dafür verantwortlich sein könnte. Wenn man die Theorie ernst nehmen wollte, dann musste man sich natürlich ebenfalls eine Erklärung für den aufrechten Gang und die Entstehung von Schweißdrüsen, die einigermaßen zeitgleich mit dem Verlust des Haarkleides abliefen, ausdenken. Die Theorie vom aquatischen Affen ist sicher nie übertrieben ernst genommen worden und heute sicher verworfen. Es ist z.B. zu vermuten, dass Australopithecus nicht schwimmen konnte (Gorillas, Schimpansen und Bononbos gehen unter wie Steine, weil sie keine tragende Fettschicht haben). Das ein Nichtschwimmer freiwillig in's Wasser geht, ist nicht ausgeschlossen aber wenig wahrscheinlich. Für der Verlust des Haarkleides und die Entstehung der Schweißdrüsen wird heute die Notwendigkeit, den Körper bei gleichmäßiger Temperatur halten zu müssen, herangezogen. In der Savanne, die nur noch spärlich mit Bauminseln bewachsen war, war es heiß und ein gleichwarmer Körper musste eine Art Kühlung erfinden. Parallelen finden sich bei Elefanten und Nashörnern, deren polare Verwandten (Mammute und Wollnashörner) ebenfalls behaart waren. Die tropischen Varianten jedoch nicht. Die Kühler-Theorie wird ebenfalls zur Erklärung des aufrechten Ganges herangezogen und es spricht nichts dagegen, dass die Notwendigkeit, den Körper vor Überhitzung zu schützen, neben den langen Wegen, die in der Savanne bei der täglichen Nahrungssuche zu bewältigen waren, zu seiner Durchsetzung beitrug.

(9.1.1.2) 14.05.2001, 21:25, Birgit Niemann: Das man bei stammesgeschichtlichen Prozessen in der Regel dem Prinzip der geringsten notwendigen Veränderungen folgt, ist keine Laune von Evolutionsbiologen, sondern hat seinen Grund. Ich möchte diesen Grund anhand einer kleinen Geschichte verdeutlichen. Während meines Biochemie-Studiums in Leipzig hatte ich auch eine Vorlesung über die Nutzung von Mikroorganismen in Fermentoren. Der dafür zuständige Professor stellte uns damaligen Studenten einmal folgende Frage: Wenn man einen Fermentor mit mehreren verschiedenen Bakterien-Kulturen animpft, was glauben Sie wohl, wer den Konkurrenzkampf um die Nährstoffe gewinnt und am Ende dominiert? Natürlich waren die meisten von uns sofort der Ansicht, dass das ja nur das Bakterium mit dem Energie-effektivsten Stoffwechsel sein könne. Diese Vermutung war leider falsch, weil immer der gewinnt, der sich unter den konkreten Bedingungen am schnellsten vermehren kann. Lebensräume sind in der Regel dicht besetzt und der Konkurrenzdruck ist hoch. Nach größeren Veränderungen (z.B. Temperaturänderungen, die zum Rückgang der Regenwälder führten) sieht die Sache aber anders aus, weil bei vielen Arten Neu-Anpassungen fällig sind. Wer das am schnellsten hinkriegt, kann den Lebensraum auch am ehesten besetzen. Das ist ähnlich wie in der Kapital-Ökonomie mit dem Extra-Profit, den nur der Erste machen kann. Nur das Lebewesen natürlich nicht Kapital, sondern sich selbst vermehren. Weniger Anpassungsschritte brauchen in der Regel weniger Zeit als viele. Niemand behauptet, dass es immer so sein muss, aber solange nicht handfeste Gründe für eine andere Theorie sprechen, wird die mit den wenigsten notwendigen Veränderungs-Schritten bevorzugt. Notwendige Schritte beziehen sich übrigens nicht auf einen Gesamtorganismus, sondern auf konkrete betrachtete Struktureigenschaften (z.B. aufrechter Gang, Gehirngröße, Haarkleid-Verlust o.a.). Wenn dann alle Einzelhypothesen einigermaßen zusammenpassen, wird daraus Sicherheit gewonnen. Selbstverständlich gibt es niemals nur eine Hypothese. Auch wirken in der Regel bei Anpassungsprozessen mehrere Faktoren zusammen und begünstigen bzw. behindern sich gegenseitig. Aber es ist ganz sinnvoll, beim Bewerten von Theorien Plausibilitätskriterien zu entwickeln und sie nicht einfach nur neben einander zu stellen. Mit Behauptungen wie: dieser Aufgabe hat sich noch niemand gestellt, wäre ich etwas vorsichtiger. Die kann man sich nur leisten, wenn man das beschriebene Feld auch einigermaßen überblickt.

(9.1.1.2.1) 22.02.2002, 18:01, Christian Apl: Ich muss das noch etwas ergänzen: "weil immer der gewinnt, der sich unter den konkreten Bedingungen am schnellsten vermehren kann", weil mit der Anzahl der Nachkommen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass eine besser angepasste Form entsteht. Wer mehr Wege ausprobieren kann, wird auch eher den "passendsten" finden. Daraus ein "Prinzip der geringsten notwendigen Veränderung" ableiten zu wollen, erscheint mir allerdings sehr gewagt.

(9.1.1.2.1.1) Prinzip, 23.02.2002, 12:31, Birgit Niemann: Prinzip im Sinne von fest ablaufender Regel mit der Ursache-Wirkungsbeziehung eines mechanischen Naturgesetzes natürlich nicht. Denn in der Rückschau können wir in der Regel gar nicht alle vorhandenen Selektionsdrücke erkennen, die für eine bestimmte Entwicklung einmal wirksam waren, sondern müssen uns an einige erkennbare und wesentliche halten. Es geht dabei um eine begründete Entscheidungshilfe bei der vergleichenden Bewertung von Thesen und Theorien, nicht um mehr. Denn Begriff "Prinzip" habe ich dabei im Sinne von "Handlungs- bzw. Bewertungsschema" verwendet. Einem als sinnvoll erachtetem Bewertungsschema folgt man in der Regel, aber man kann jederzeit davon abweichen, wenn es Gründe dafür gibt. Man muss dabei nur aufpassen, das da nicht ein Funktionswechsel passiert und das Schema das Denken beherrscht, statt umgekehrt.

(9.1.1.2.1.2) passende Formen, 23.02.2002, 13:52, Birgit Niemann: "Wer mehr Wege ausprobieren kann, wird auch eher den "passendsten" finden." Das ist das eine und es kommt hinzu, dass bei einer begrenzten Menge von verfügbarer Nahrung eine sich schnell vermehrende Art gegenüber sich langsamer vermehrenden Arten die besten Chancen hat, allen anderen das Futter wegzufressen. Die Kaninchenplagen in Australien, die der einheimischen Fauna zu schaffen gemacht haben, waren z.B. so etwas. Denn wer schneller verhungert, als er adaptiv auf anderes Futter ausweichen kann, hat keine Chance mehr, sich anzupassen.

(9.1.3) Mensch vor 150000 Jahren fertig?, 04.03.2002, 00:43, Stefan Meretz: Diese These halte ich für der Anschauung nach plausibel, faktisch ist aber nicht aufrechtzuerhalten. Mich wundert, woher du trotzdem diese Sicherheit nimmst: "haben sich bis heute nicht mehr geändert".

(10) Aber bleiben wir bei den Werkzeugen. Wir wissen inzwischen, daß auch Tiere vorhandene Gegenstände als Werkzeuge benutzen (Äste und Stöcke zur Armverlängerung benutzen, um hoch angebundene Bananen abzuschlagen; Ästchen in Termitenlöcher stecken, um dann hängengebliebene Termiten daran abzulecken...). Dann dachten wir eine Weile, daß wenigstens die Werkzeugherstellung den Menschen vorbehalten sei. Aber nein: auch Tiere basteln sich z.B. den Ast für das Termitenloch so zurecht, daß er hineinpaßt. Faustkeile haben sie zwar noch nicht gemacht - aber wo soll nun das Kriterium sein, die eine von der anderen Werkzeugherstellung zu unterscheiden?

(11) Erstaunlicherweise finden wir weder in der Fachliteratur zur Anthropogenese (Menschwerdung), noch der Biologie oder Archäologie hier eine Antwort, sondern in der "Grundlegung der Psychologie" von Klaus Holzkamp (Ausgaben 1983 und 1985). Er brauchte derartige Überlegungen eigentlich "nur" für seine Untersuchung der Entwicklung des Psychischen und präzisierte und verbesserte dabei wichtige Grundlagen in anderen Wissenschaftsbereichen. Wir werden später öfter darauf zurückkommen.

Die Zweck-Mittel-Verkehrung

(12) Was ist nun das Besondere der Werkzeugherstellung und -benutzung durch Menschen? Es waren unsere tierische Vorfahren, "Vor-Menschen", die bereits anders mit den hergestellten Werkzeugen umgingen als Tiere es jemals tun. Tiere schnappen sich einen Ast und beißen ihn sich zurecht erst in jenem Moment, wo sie Hunger verspüren und die Termiten im Loch wissen. Der konkrete Bedarf und die konkrete Befriedigung dieses Bedarfs sind miteinander verbunden. Wenn der Affe dann satt ist, fällt der Ast aus seinen Händen und wird vergessen. Beim nächsten Mal wird der nächstbeste Ast benutzt - das kann nur zufälligerweise vielleicht derjenige vom letzten Mal sein. Zuerst kommt der Zweck (helfen bei der unmittelbaren Nahrungsaufnahme) - dann wird das Mittel benutzt oder hergestellt (das Stöckchen). Und beim nächstenmal in derselben Reihenfolge...

(12.1) Re: Die Zweck-Mittel-Verkehrung, 22.02.2002, 18:05, Christian Apl: Sag ich ja, dass das Gedächtnis mehr hergibt als das Bewusstein.

(13) Es geht aber auch anders: Die gut geeigneten Stöckchen werden wieder verwendet - durch das gleiche vor-menschliche Wesen oder auch durch ein anderes aus der sozialen Gemeinschaft. Das Mittel wird nicht mehr nur unmittelbar zum Gebrauch genommen und gemacht - sondern es wird aufgehoben, falls es mal in derselben Weise notwendig oder günstig zu verwenden sein wird. Das Mittel trägt den Zweck in sich. Das Stöcken ist "zum Termitenangeln" - ganz allgemein, nicht mehr nur hier und jetzt. Der lange Stab ist "zum Schlagen". Das Mittel (geeignetes Stöckchen) ist nun vor dem konkreten Auftreten des Zwecks (Termitenangeln) vorhanden. Es kam zu einer Zweck-Mittel-Verkehrung (vgl. bei Holzkamp 1983, S. 173)..

(13.1) 08.05.2001, 23:13, Birgit Niemann: Die Zweck-Mittel-Verkehrung ist ein guter Gedanke. Ich frage mich aber, ob sie als Triebkraft für das Wachstum von Gehirnen in Frage kommt oder nicht vielmehr Folge von bereits erweiterter Denkfähigkeit ist. Die Idee, das Stöckchen noch ein bisschen zu behalten setzt zwei Dinge vorraus. Ersten sollten Stöckchen knapp sein, sonst hat man keinen Grund, sie aufzuheben. Andererseits muss man schon einen Schritt weiterdenken als bei der gelegentlichen Nutzung. Man muss also schon ein größeres Gehirn besitzen. Aus meiner Sicht muss nach einer Triebkraft gesucht werden, die auch auf Gehirne von 450 ccm bereits permanent einwirkt.

(13.1.1) 09.05.2001, 23:20, Annette Schlemm: Ja, das ist das spezielle und sich weiter entwickelnde Sozialverhalten. Diesen Begründungszusammenhang, der bei Holzkamp auch erwähnt ist, hatte ich der Kürze halber rausgelassen. Das Stöckchen wieder zu verwenden, zwingt nicht nur die Knappheit. Sondern die Erfahrung, auch die Gruppenmitglieder in der gemeinsamen Interaktion untereinander „als Mittel“ für das gemeinsame Ziel wirken zu lassen, legt ein „Aufheben“ nahe. Diese Erfahrung, dass man auf vorhandene Mittel (die Gruppenmitglieder) wieder zugreifen kann, ist dann eher nebenbei auch auf gegenständliche Mittel übertragen worden. An Knappheit als allgemeine Triebkraft glaube ich überhaupt nicht. Eher war es immer der Überfluß, der das Ausprobieren neuer Möglichkeiten förderte.

(13.1.1.1) Knappheit und Überfluss, 22.01.2002, 20:33, Birgit Niemann: Mit der Knappheit und dem Überfluss ist das so eine Sache. Natürlich entstand die Nutzung des Stöckchen für das Angeln von Ameisen und Termiten im Lebensraum Wald, der Stöckchen in greifbarer Nähe in jedem Augenblick bereit hielt. Also im Augenblick des Erblickens des Ameisenhaufens konnte unser gemeinsamer Vorfahre so gut wie immer ein Stöckchen ergattern. So konnte er (oder eher sie, denn wegen des Durchfütterns von Kindern war ihr Futtersuch-Druck stärker als seiner) sich an das Benutzen von Stöckchen im Alltag gewöhnen. Nun gingen aber eines Tages die Wälder zurück und unser Vorfahre fand sich in der spärlicher mit Bäumen bewachsenen Savanne wieder. Nun stand er vielleicht vor einem Ameisenhaufen und griff wie gewohnt neben sich und siehe da: kein Stöckchen war greifbar. Die sonst so alltäglichen Stöckchen waren plötzlich knapp. Vermutlich hat sie verdutzt um sich geschaut und in der Ferne ein paar Bäume erblickt. Da ging ihr vielleicht ein Licht auf und ihr (oder ihm) wurde klar, dass sie ein Stückchen weiterlaufen muss, um ein Stöckchen zu besorgen. Wie oft sie verdutzt um sich gesehen hat, bis sie auf die Idee kam, loszulaufen und mit einem Stöckchen zurückzukommen, lässt sich nicht mehr ermitteln. (Könnte man aber mit Schimpansen mit etwas Mühe nachstellen). Die Entwicklung des aufrechten Ganges hat das viele Herumlaufen, mit Kindern und Stöckchen am Hals, sicher auch begünstigt. Vorstellbar ist auch, dass plötzlich an dem Ameisenhaufen ein Artgenosse mit Stöckchen stand, der schneller war als sie und dummerweise auch noch einen höheren Rang hatte. Wenn ihr das öfter passierte, kam sie sicher sehr bald auf die Idee, ein einmal ergattertes Stöckchen mit sich herumzuschleppen, eben deshalb, weil Stöckchen plötzlich knapp und Nahrungskonkurrenten manchmal schneller waren. Denn an das Tragen war sie auch gewöhnt, vom Herumschleppen der lieben Kleinen. So stelle ich mir einen Funktionswechsel konkret vor und so erscheint er mir auch nachvollziehbar und plausibel. Und was noch viel wichtiger ist, auch ein Schimpansengehirn könnte ihn leisten. An diesem kleinen plausiblen Phantasieprodukt kann man auch noch deutlich erkennen, dass Überfluss und Knappheit sich bei Funktionswechseln durchaus abwechseln können. So erklärt sich auch ein winziges Bischen, warum Schimpansen heute immer noch keine Stöckchen mit sich herumtragen, unsere Vorfahren aber bald nach ihrer Abspaltung von den gemeinsamen "Eltern", eine dauerhafte Gewohnheit daraus machten. Auch wurden die Stöckchen immer größer und spitzer und wurden nicht mehr nur zum Ameisen angeln eingesetzt, sondern ihr Einsatzspektrum wurde erweitert.

(13.1.2) 22.02.2002, 18:17, Christian Apl: Die "Triebkraft für das Wachstum von Gehirnen" würd nach allem was ich über Evolution und so weiß eine Scheinkraft sein. wir haben es hier nicht in erster Linie mit kausalen Zusammenhängen zu tun, sonden mit synchronen. Die Evolution bringt Mutationen hervor und lässt sie sich von der Umwelt selektieren, mehr "will" sie anscheinend nicht. Wenn wir aufgrund einer Mutation auf einmal ein Gehirn haben, dass sich merkt, dass mensch dieses oder jenes Stöckchen vielleicht einmal wieder verwenden kann, hamma Glück gehabt (je nachdem halt), sonst nichts - aber das ist eigentlich schon sehr viel.

(13.1.2.1) scheinbare Triebkraft, 23.02.2002, 12:36, Birgit Niemann: Genau so sehe ich das auch. Der "Fortschritt" in der Evolution ergibt sich nicht aus den Lebewesen inhärenten Gründen, sondern mehr aus den synergistischen Selektionsdrücken, die die vierdimensionale Umwelt (Raum und Zeit) so zu bieten hat. Das gilt selbstverständlich auch für die Zunahme der Gehirngröße. Wenn man das einmal erkannt hat, dann kann man die Fragen anders stellen und sich fragen, welche konkreten Umweltfaktoren könnten denn z.B. die Zunahme von Gehirngröße und die Selektion von Sprachfähigkeit begünstigt haben? Die inneren Veränderungen (hier sind vor allem Mutationen und Rekombinationen gemeint) machen die Anpassung lediglich möglich. Wenn dann über lange Zeiten "dieselben" Selektionsdrücke sich gar verstärken, entsteht das, was wir "Fortschritt" nennen. Allerdings würde ich nicht sagen, dass die Evolution Mutationen hervorbringt. Das trägt zu Missverständnissen bei. Mutationen entstehen vor allem als Fehler bei der Replikation von DNA innerhalb von Lebewesen. Zusätzlich ist auch noch die Umordnung (Rekombination, Duplikation u. a.) von Genen am Werk. Mit dem Begriff Evolution ist mehr die tatsächlich nachvollziehbare "Geschichte" sich blind vermehrender lebender Wesen gemeint, einschließlich der "Vollzugsregeln", die man im Gesamtprozess zu erkennen glaubt.

(14) Aber diese allein macht die Vor-Menschen noch nicht zu "fertigen" Menschen. Wir nennen einen solchen Wandel Funktionswechsel. Dabei bildet sich das Neue schon heraus, aber es wird noch nicht bestimmend für die Existenz und weitere Entwicklung. Die Entwicklung verläuft noch nach herkömmlichen Prinzipien, das Neue gibt es nur "nebenher", es kann auch - in langen Zeiträumen - wieder verschwinden.

(14.1) 08.05.2001, 23:18, Birgit Niemann: Auch hier stellt sich sofort die Frage, warum fand der Funktionswechsel statt und was waren das für Umstände, die das so seltene Neue begünstigen und häufig werden lassen?

(14.1.1) 09.05.2001, 23:20, Annette Schlemm: Warum stellt sich diese Frage? Ich denke, eine analytische Untersuchung dessen, was geschehen ist, kann rückwärts gesehen nur aussagen, dass für das Geschehen logischerweise diese oder jene Voraussetzungen gegeben sein mussten. Ob sie es waren, zeigen entsprechende empirische Untersuchungen. (Das zeigt auch, dass es darauf ankommt, mit den geeigneten/richtigen Fragen und Hypothesen an die historische Empirie heranzugehen. Sonst wird vieles übersehen oder anders interpretiert...).
Ganz allgemein kann man vielleicht nur antworten: Der Funktionswechsel fand jeweils statt, weil die Bedingungen (welche das konkret sind, muß man schauen), eben halt historisch-konkret gegeben waren. Unter anderen Bedingungen wäre was anderes passiert von daher würden wir vielleicht auch fragen: Warum sind wir Tintenfische intelligent geworden?

(14.1.1.1) 22.01.2002, 19:42, Birgit Niemann: "Warum stellt sich diese Frage?" Ganz einfach, weil man erst aus ihrer Beantwortung heraus verstehen kann, wie es wirklich gelaufen sein könnte. Natürlich sind Sätze wie: "Der Funktionswechsel fand jeweils statt, weil die Bedingungen (welche das konkret sind, muß man schauen), eben halt historisch-konkret gegeben waren." formal immer richtig, aber ziemlich inhaltsleer und langweilig, weil sie fast gar nichts verstehbar machen. Wenn man anfängt konkret zu werden, dann kann man echte Überraschungen erleben. Vor allem aber bekommt man ein Gefühl für die Wichtung konkreter "Faktoren" (Umwelt und systeminhärenter) innerhalb der abgelaufenen Prozesse. Das wiederum ist außerordentlich nützlich für die Bewertung von Ereignissen, die unser eigenes gegenwärtiges Leben betreffen. Deshalb halte ich die tatsächliche Plausibilität von geistig rekonstruierten Entwicklungsverläufen nicht für so unwichtig, wie es mir in diesem Text manchmal entgegentritt. Ausserdem liegt in der Konkretisierung auch eine Chance für jeden von uns, zu erkennen, wann unsere "inneren geistigen Spekulationen" beginnen, mit uns all zu sehr "durchzugehen".

(14.1.1.2) 22.02.2002, 18:23, Christian Apl: jaja, die Quelle beantwortet immer nur die Frage, die mensch ihr stellt :-)

(15) Das betrifft die Werkzeugherstellung vor und nach der Zweck-Mittel-Herstellung und auch die Arbeit, die dadurch möglich wird. Diese Werkzeuge werden nämlich nicht mehr nur zur unmittelbaren Bedarfsbefriedigung hergestellt und eingesetzt, sondern auch ohne aktuellen Hunger - "für den Fall"" späteren Gebrauchs - nicht nur für den, der es herstellt, sondern auch für andere. Es wird nicht mehr nur der unmittelbare Bedarf befriedigt (oder nur instinktiv "gehamstert"), sondern die Werkzeugherstellung und -benutzung bezieht sich auf eine vorsorgende Veränderung der Umwelt.

(16) Aus tierischem Bedarf werden Bedürfnisse, in denen nicht nur individuelle Mangelzustände beseitigt werden, sondern von vornherein eine kooperativ-vorsorgende Schaffung von günstigen Lebensbedingungen enthalten ist. Die Arbeit ist von vornherein auf solche kooperativ-vorsorgende Bedürfnisse bezogen.

(16.1) Bedarf und Bedürfnisse, 22.01.2002, 19:24, Birgit Niemann: Wenn ich den obigen Satz richtig verstehe, dann beruht die Unterscheidung zwischen Bedarf und Bedürfnis auf der Unterscheidung der Handlungen, die zeitlich unmittelbarer Befriedigung dienen von den vorsorgenden, also auf die zukünftige Befriedigung, gerichteten Handlungen. Wenn ich das ernst nehme, dann muss ich jede Handlung, die auf Vorratshaltung (z.B. Honig-herstellung und Einlagerung) und Umweltgestaltung (z. B. Wabenbau) gerichtet ist, als Bedürfnisbefriedigung betrachten und jede zeitliche Unmittelbarkeit als Bedarfsbefriedigung. Wenn ich die vorsorgende Handlung auch noch mit der voneinander abhängigen Kooperativität der handelnden Individuen verknüpfe, dann komme ich zu dem Schluss, dass Bienen, Termiten, Ameisen und Menschen Bedürfnisse haben und andere Organismen aber "Bedarfe". Ich bin noch beim Überlegen, ob und in welchem Zusammenhang mir eine solche Unterscheidung sinnvoll erscheinen könnte.

(17) Viele vor-menschliche Gruppen erreichten einen solchen Stand der Entwicklung - sicher gehörte auch "Lucie" einer solchen an. Waren sie aber schon Menschen? Bisher wurde als Kriterium, welcher archäologische Fund "schon Mensch" war, verschiedene Faktoren verwendet: Aufrechter Gang, Gehirnvolumen, Werkzeugfunde etc., etc. Alle diese sind eigentlich recht willkürlich und eher sekundär (zweitrangig) gegenüber der wichtigeren Frage: Wodurch ist das Mensch-Sein inhaltlich gekennzeichnet? Wir müssen uns ein inhaltlich bestimmtes Kriterium überlegen, was festlegt, ab wann die Vormenschen zu Menschen wurden - die jeweilige anatomische Eigenart oder die Werkzeugfunde müssen dann entsprechend diesem Kriterium bewertet werden. Woher bekommen wir ein solches Kriterium? Schauen wir uns einmal an, wie qualitativ Neues entsteht.

(17.1) 08.05.2001, 23:24, Birgit Niemann: Es gibt keinen Hinweis darauf, das Lucy etwas anderes als ein besser laufender Schimpanse war. Sie hatte nicht mehr Gehirnkapazität als Bonobos und Schimpansen.

(17.1.1) Kapazität allein machts noch nicht, 18.05.2001, 15:00, Agent Provocateur: zwei Begründungen:
1. Bei 'heutigen' Menschen differiert die Hirnkapazität auch um mehrere Dutzen Kubikzentimeter, ohne dass sich daraus Rückschlüsse auf Intelligenz oder Sozialverhalten ziehen liessen.
2. Faultiere haben m.E. eine deutlich höheres Hirnvolumen als Schimpansen, ohne ihnen in Sozialverhalten oder Problemlösungsstrategien auch nur nahe zu kommen.

(17.1.1.1) Re: Kapazität allein machts noch nicht, 22.01.2002, 16:32, Birgit Niemann: Hier drückt sich meinerseits etwas aus, was wohl ein prinzipielles Problem von Begriffen ist, die von Leuten mit unterschiedlichen Spezialkenntnissen verwendet werden. Was meine ich, wenn ich im Zusammenhang mit der Evolution des Menschen vom großen Gehirn rede? Erstens steckt darin das Wissen, das Gehirngrößen nicht absolut, sondern in Relation zu Gesamtkörpermassen gesehen werden. Das ist meines Erachtens bereits Schulwissen. Zweitens steckt darin das Wissen, das es innerhalb der Evolution einer Art bzw. im Vergleich verwandter Arten einen messbaren Zusammenhang zwischen der Größe (Oberfläche) des Neokortex der Großhirnrinde und dem Sozialverhalten gibt. Je komplexer das Sozialverhalten einer Art, desto größer der Neokortex. Das ist natürlich kein Schulwissen und gilt auch nicht nur für Menschen. Wegen des Umfanges der Erklärungen, die man in einer Diskussion zu liefern hätte, passiert es mir oft, dass ich Wissen vorraussetze, das ich nicht vorraussetzen kann. Manchmal kann ich auch nicht genau einschätzen, was Allgemeinwissen und was schon Fachwissen ist. Deshalb sage ich es noch einmal deutlich: Unter dem Begriff "großes Gehirn" bezogen auf die Evolution des Menschen verbirgt sich bei mir die Abhängigkeit der relativen Größe des Neokortex von der Komplexität der sozialen Beziehungen. Das konkrete Merkmale, wie z.B. die absolute Gehirngröße, zwischen Individuen einer Art innerhalb von Grenzwerten schwanken können, gilt ja wohl für jedes stoffliche Merkmal und muss in diesem Zusammenhang nicht extra betrachtet werden. Die Ableitung irgendwelcher qualitativer Konsequenzen aus solchen phänomenologischen Merkmalsschwankungen ist ja wohl eine Plattheit, die wir lange hinter uns haben.

(17.2) 22.02.2002, 18:37, Christian Apl: Also mir stellt sich jetzt die etwas peinliche Frage: Was ist, wenn wir nun einen ganz tollen Unterschied zwischen Mensch und Tier haben und der Mensch entwickelt sich aber evolutiv weiter? Quält sich dieser neue Mensch dann auch mit der Frage, was sie/ihn von ihrem/seinem Vormenschen unterscheidet, um zu erfahren, was sie/er selber ist? Vielleicht sind wir selbst noch eine Zwischenform zum "eigentlichen" Menschen und tun uns deshalb mit der Unterscheidung so schwer. Vielleicht gibt es auch so einen "eigentlichen" Mensch gar nicht und wir haben es "nur" mit Verschiebungen verschiedener Art oder was weiß ich was zu tun. Vielleicht geht es uns aber auch nur darum, uns möglichst deutlich und klar von den Tieren zu unterscheiden. Bleibt die Frage, wozu wir das wollten.

(17.2.1) Die Weiterentwicklung, 23.02.2002, 13:29, Birgit Niemann: ".....und der Mensch entwickelt sich aber evolutiv weiter?" Das halte ich für eine äußerst spannende Frage, wobei sicher jedem klar ist, dass schon lange (nach menschlichem Maßstab) nicht mehr die inneren Möglichkeiten des Genoms das Veränderungstempo bestimmen. (Ausser natürlich, wenn man das von den modernen menschlichen Möglichkeiten unbeeinflusste Wirken von Seuchen auf die Selektion bestimmter Immunssysteme betrachtet, was ja in Afrika bereits dazu führen soll, dass vor allem Menschen mit HIV-resistenterem Immunsystem übrigbleiben). Wenn man sich Gedanken dazu macht, welche Art von selbstorganisierten "Umweltsachzwängen" heute auf den Menschen wirken, dann kriegt man eine Idee davon, in welche Richtung die tolle Weiterentwicklung passieren könnte, wenn sie denn weiterhin blind läuft. Denn auch Life-Science-Kapital ist ziemlich blind, ausser für die Organisation der eigene Akkumulation.

Exkurs: Entwicklungs-"Niveaus"

(18) Bei der Erklärung des Funktionswechsels tauchte eben folgender Satz auf: "Die Entwicklung verläuft noch nach herkömmlichen Prinzipien, das Neue gibt es nur "nebenher", es kann auch - in langen Zeiträumen - wieder verschwinden" Wir meinen hier Neues, das grundlegend neue Ebenen des Seins erzeugt.

(19) Die wohl gröbste Unterteilung alles Seienden ist jene in drei Gruppen: A) physisch-(anorgansich-)chemische Körper, Gegenstände etc. B) biotische Organismen, Arten etc. C) menschliche Individuen und Gesellschaft


Abbildung 1: Entwicklungsniveaus

(20) Bereich A)
Letztlich bestehen alle stofflich-energetischen Dinge aus physikalisch-(anorganisch-)chemisch wirksamen Objekten. Auch Bakterien, Pflanzen und Tiere. Wenn eine Katze vom Tisch springt, wird das physikalische Fallgesetz (Beziehung zwischen zurückgelegter Höhe und Geschwindigkeit) durchaus eingehalten. Aber daß die Katze immer auf den Füßen landet, kann man mit Physik nicht erklären.

(20.1) 08.05.2001, 23:44, Birgit Niemann: Übergänge zwischen verschiedenen Welten sind zweifellos die spannendsten Untersuchungsgegenstände. Für das Verständnis des Überganges von Chemie zum Leben ist eine Katze allerdings schlecht geeignet, weil sie schon viel zu weit weg von diesem Übergang ist. Man nähert sich ihnen am besten, in dem man von beiden Seiten der Grenze auf sie zu geht. Dann stellt man bald fest, dass die Chance lebendig zu werden nur ganz bestimmte physikalisch chemische Prozesse haben. Es sind Reaktionen, die fernab vom chemischen Gleichgewicht einen Rückkopplungs-Zyklus erzeugen. Sie laufen so lange ab, bis die Reaktanten verbraucht sind. Dann brechen sie zusammen. Es sein denn, es gelingt ihnen, Nachschub zu organisieren und sich von der Umwelt abzugrenzen. Als sie es geschafft hatten, dieses Problem dauerhaft zu lösen, war die Zelle entstanden.

(20.1.1) 09.05.2001, 23:21, Annette Schlemm: Ja, genau dadurch kann man dann auch erkennen, worin denn der qualitative Unterschied besteht!!! (das versuchte ich mit dem Unterschied zwischen nur-stoffwechsel- und schon-signalvermittelter Lebenstätigkeit innerhalb des Biologischen auch so zu sehen.
Ansonsten hab ich das Beispiel deswegen etwas drastischer genommen, um einem allgemein doch immer wieder naheliegenden Reduktionismus entgegenzuwirken.

(21) Übergang in den Bereich B)
Das ist eine Fähigkeit der Katze als biotischer Organismus und läßt sich nur aus der biologischen Funktionalität (Sinn für die Überlebensfähigkeit) des Katzenverhaltens erklären. Die Entwicklung der Organismen verletzt wiederum auch keine physikalischen Gesetze - läßt sich aber nicht auf diese zurückführen oder durch sie erklären. Dafür gibt es zusätzliche biologische Zusammenhänge, die völlig neue Zusammenhänge, z.B. zwischen Mutation und Selektion erfassen. Für das Besondere, das Spezifische, das Typische oder das Wesentliche des Biotischen reichen physikalisch-chemische Zusammenhänge nicht aus - hier wirken besondere, spezifische, typische, wesentliche neue biotische Zusammenhänge (die die Biologie erforscht). Diese spezifischen (die anderen Worte für die Besonderheit auf der neuen Ebene lasse ich ab jetzt weg) Zusammenhänge kennzeichnen die jeweils obere Ebene (das Biotische über/auf Grundlage des Physikalisch-Chemischen) - eine Reduktion auf die Zusammenhänge der unteren Ebene kann nichts auf der oberen Ebene erklären oder begründen. Dasselbe wie im Verhältnis von Physikalischem zu Biotischem geschieht beim Übergang vom bloß-Biotischen zum Menschlichen.

(22) Übergang zum Bereich C)
Hier entstehen neue, spezifische, besondere, wesentliche Zusammenhänge, die sich nicht aufs Biotische oder gar Physikalische reduzieren lassen. Solange Atome nur physikalische Körper wie Sterne oder Planeten bilden, gelten für sie physikalische Gesetze. Solange sich Organismen im Bereich des Biotischen aufhalten, wird ihre Existenz und Weiterentwicklung von biotischen Zusammenhängen bestimmt - die physikalischen Gesetze werden zwar nicht verletzt, sie kennzeichnen aber nicht mehr das Typische, Spezifische, Besondere und Wesentliche des biotischen Organismus und seiner Entwicklung. Sobald hier z.B. nicht mehr nur physikalische atomare Gesetze für die Entwicklung wichtig sind, sondern Mutation und Selektion sich als neue Entwicklungsfaktoren so weit durchsetzen, daß die Organismen sich immer weiter entwickeln und nicht mehr alle aussterben, hat sich die biotische Ebene als dominant durchgesetzt. Dasselbe gilt beim Übergang zum Mensch-Sein. Solange biotische Evolutionsfaktoren wie Selektion und Mutation noch bestimmend sind, ist die neue Stufe nicht erreicht. Und bestimmend sind diese Faktoren mindestens so lange, wie Vor-Menschen-Gruppen durch Umwelteinflüsse ausstarben, "herausselektiert" wurden.

(22.1) 05.04.2001, 17:44, Burkhard Stackelberg: Nichts schliesst prinzipiell aus, dass das Leben auf der Erde durch Umwelteinfluesse (z.B. Sonne wird zum roten Riesen) aussterben kann, ebenso wie ein grosser Meteorit das Ende der Menschheit sein koennte. Praeziser waere vielleicht, dass das Aussterben der biotischen Merkmale schon so unwahrscheinlich ist, dass Mutation und Selektion zu neuen Arten ueberhaupt in nennenswertem Masse stattfinden kann. Entsprechend fuer den Menschen: Menschlich-kulturelle Merkmale haben sich so weit gefestigt, dass ihr Verschwinden so unwahrscheinlich ist, dass eine nennenswerte kulturelle Weiterentwicklung stattfinden kann. Schimpansen besitzen z.B. verschiedene Techniken, die tradiert werden. Eine Weiterentwicklung wie beim Menschen findet jedoch nicht statt.

(23) Wirklich menschliche Gruppen haben die Dominanz des Biotischen überwunden, sie können Umwelteinflüsse so weit durch gesellschaftliche Vorsorge und Umweltveränderungen beinflussen, daß zwar noch einzelne Gruppen sterben - aber nicht mehr die Zivilisation als Ganzes. Dies ist das Kriterium, nach dem wir suchen. Erst nach diesem Dominanzwechsel ist die neue Qualität, das gesellschaftliche Sein, für die Existenz und Entwicklung dominierend, sie kann nicht mehr verschwinden, ohne daß die Menschen selbst verschwinden. Die Menschen können gar nicht mehr ohne diese neue Qualität, die neue Funktion, das neue Verhältnis der Gesellschaftlichkeit leben und überleben.

Dominanzwechsel

(24) Nach dem Funktionswechsel mit der Zweck-Mittel-Umkehrung und der Entstehung der Arbeit verlief für die Vor-Menschen die Entwicklung "noch nach herkömmlichen Prinzipien, das Neue gibt es nur "nebenher"...", denn auch vor ca. 1 Million Jahren oder 500 000 Jahren starben jene Gruppen, die als unsere Vorfahren bekannt wurden, noch aus biologischen Gründen aus. Das Gesellschaftliche dominierte bei ihnen noch nicht.

(24.1) Re: Dominanzwechsel, 05.04.2001, 17:57, Burkhard Stackelberg: Allerdings koennten sich, z.B. eine Marskolonisierung vorausgesetzt, auch beim Jetztmenschen Unterarten bilden, die aufgrund ihrer Umweltbedingungen aussterben; dahingegen waren die "Vor-Menschen" durchaus schon in der Lage, ihre Kulturtechniken ueber eine lange Reihe von Generationen zu tradieren und -- zumindest ab der mittleren Altsteinzeit -- erheblich weiterzuentwickeln (s. 22.1) Demnach waeren der Neandertaler (s. 27) und der Heidelberger Mensch bereits Menschen, bereits homo sapiens. Genaugenommen habe ich einfach ein ungutes Gefuehl, den Neandertaler, der vermutlich weitgehend die gleichen geistigen Faehigkeiten wie wir hatte und sich zudem vermutlich mit dem "modernen" Menschen kreuzen konnte, als Nichtmenschen zu bezeichnen -- obgleich er selbst schon differenzierte Kulturen entwickelte (Jungpalaeolithikum) und feine Werkzeuge herstellte -- nur weil er vom "modernen Menschen" verdraengt wurde (s. 5.1).
Der Neandertaler ueberlebte vielleicht nur deswegen die europaeischen Eiszeiten, weil er bereits Techniken zur Herstellung von Kleidung tradierte.

(24.2) Re: Dominanzwechsel, 09.05.2001, 00:32, Birgit Niemann: Jetzt wird es mir aber doch zu beliebig. Wenn unsere Vorfahren, wie z.B. Homo erectus, ausstarben, weil sie noch nicht ausreichend gesellschaftlich waren, dann frage ich mich wirklich, warum Schimpansen überlebt haben. Homo erectus zog in sozialen Gruppen mit dem Speer in der Hand über die gesamte ihm verfügbare Erde (Afrika, Eurasien). Selbst in Australien will man seine Spuren gefunden haben. Dieser äußerst erfolgreiche Knabe soll plötzlich an mangelnder Gesellschaftlichkeit einfach zu Grunde gegangen sein. Von Afrika bis Asien und auch in Europa sollen plötzlich alle Umwelten ihn feindlich vernichtet haben? Natürlich ist das durchaus möglich, doch dann muss man sich Gedanken darüber machen wer oder was der Feind war. Was ist denn ein biologischer Grund, um auszusterben? Ausrottung und Verdrängung von Anderen aus ihrem Lebensraum gibt es zwischen Menschen ebenso wie zwischen anderen Tieren. Vielleicht ist ja die Ursache, warum es auch Schimpansen bald nicht mehr geben wird ebenso zuständig für das Verschwinden von Homo erectus. Hinzuzufügen wäre nur noch, dass eben nicht alle ausgestorben sind. Aus wem hätte wohl sonst unser glorreicher H. sapiens hervorgehen sollen.

(24.2.1) Re: Dominanzwechsel, 09.05.2001, 23:21, Annette Schlemm: Aus welchen Gründen ist denn Deiner Meinung nach der Homo erectus ausgestorben?
Obwohl das eigentlich egal ist – mir ist nur Dein Widerspruch noch nicht klar. Ich sage ja nicht, die direkte Ursache des Aussterbens sei mangelnde Gesellschaftlichkeit gewesen, sondern: dass er noch innerhalb der biologisch bestimmten Selektion aussterben konnte, zeigt, dass er seine Reproduktion noch nicht im Sinne einer Gesamtgesellschaft realisieren konnte. Woran der dann konkret ausgestorben ist (konkrete Ursache), ist dann wieder eine andere Frage. Meinst du wirklich, der Homo sapiens hat die alle umgebracht? (siehe auch Dein folgender Kommentar). Auch dies ist nur eine Hypothese, die ich nicht unbedingt absolut setzen würde. Angesichts der Tatsache, dass von allen jemals auf der Erde existiert habenden biologischen Arten 99% ausgestorben sind, sehe ich es als ziemlich biologisch-natürlich an, dass viele Versuche einfach nicht weitergeführt werden. Es haben ja auch nicht die verbleibenden 1% der Arten die anderen alle umgebracht.

(24.2.1.1) Re: Dominanzwechsel, 22.01.2002, 17:06, Birgit Niemann: "....sondern: dass er noch innerhalb der biologisch bestimmten Selektion aussterben konnte..." Worauf ich hinaus will, ist etwas anderes. Es macht keinen Sinn zu sagen, Homo erectus oder auch später der Neanderthaler ist in der biologischen Lebensebene durch biologische Selektion ausgestorben. Der Neanderthaler, als lokaler Nachkomme des aus Afrika ausgewanderten Homo erectus, war z.B. ein gesellschaftlicher Mensch, der sich und seine Gesellschaft nicht wesentlich anders reproduziert hat, als es die Homo sapiens - Gesellschaften getan haben. Wenn ein solcher Organismus mit all seinen realen Populationen verschwindet, obwohl in derselben physikalisch/biologischen Umwelt andere Menschengruppen prima überlebt haben, dann kann man die Ursachen dafür nicht in der physikalisch/biologischen Welt (z.B. Meteoriten, Erwärmung oder Fressfeinde bzw. Nahrungsmangel) suchen, sondern muss auf der Lebensebene des Neanderthalers nach ihnen suchen. Natürlich hat Homo sapiens nicht alle Neanderthaler umgebracht. Die weißen Europäer haben auch nicht alle Indianer und Aboriginals umgebracht. Trotzdem sind sie die primäre Ursache ihres weitgehenden Verschwindens. Sie haben ihnen Land weggenommen, sie in Sklaven verwandelt, ihnen Seuchen vermacht und Alkohol verkauft. Sie haben die Büffel weggeschossen, Eisenbahnen gebaut etc. etc. Einige oder sogar viele, haben sie auch direkt umgebracht. Hinterrücks durch Überfälle und in offener Schlacht. Alle diese Handlungen aber haben synergistisch zusammengewirkt und zu einem Ergebnis geführt: Dem Verschwinden der ursprünglichen Gesellschaften, das mit einer Dezimierung der zugehörigen Individuen verbunden war. Zum Glück sind wenigstens noch ein paar übrig. Ähnlich muss es mit dem Neanderthaler gewesen sein. Natürlich hat es viel länger gedauert (ca 50.000 Jahre) aber die kulturelle Differenz war ja auch so klein, dass sie heute im Rückblick noch nicht einmal feststellbar ist. Wenn ich mich frage, warum Homo sapiens übrig blieb, obwohl er körperlich der Schwächere war, dann such ich auf der Ebene der virtuellen Gesellschafts-Organisation, die leider nur selten wiederfindbare Artefakte hinterlässt (zumindestens vor Erfindung der Schrift und der Tontafel). Ich denke, es hängt mit Unterschieden in der Religion in ihrer Eigenschaft als geistiger Organisator zusammen. Das passt zu der Tatsache, das die ältesten Höhlenbilder der Welt ca 130.000 Jahre alt sind und genau in den Gegenden gefunden wurden, aus denen sich Sapiens aufmachte, die Welt zu erobern.

(24.2.1.1.1) Re: Dominanzwechsel, 04.03.2002, 01:01, Stefan Meretz: Der Neanderthaler war kein gesellschaftlicher Mensch, sondern ein Vor-Mensch, ein Hominide, dem es eben gerade nicht gelang, eine stabile neue Systemebene der Gesellschaft zu konstituieren. Er konnte sich auch folglich nicht vermittels einer überdauernden Infrastruktur reproduzieren, sondern wurde immer wieder zurückgeworfen auf die viel instabilere Systemebene des unmittelbaren kooperativen Sozialverbandes. - Die Geschichte der (fast oder tatsächlich) ausgerotteten ursprünglichen Bevölkerungen in verschiedenen Teilen der Erde ist IMHO eine andere (eine innere Gesellschaftsgeschichte). Ich halte es zwar aufgrund der geringen Besiedelungsdichte für wenig wahrscheinlich, doch mal spekuliert, es war ähnlich und der Homo Sapiens Sapiens zerstörte die Lebensbedingungen des Homo Sapiens Neanderthalensis: Ja, der wurde dann zurückgeworfen auf das unmittelbar kooperative Niveau der Lebenssicherung und die war im Verhältnis zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung eben nicht tragfähig: Er starb als Art aus - biologisch ausselektiert.

(25) Allerdings geschah in dieser langen Zeit etwas Wichtiges: Bereits in der Entwicklung der tierischen Organismen hatten sich wichtige Verhaltensmerkmale und psychische Fähigkeiten herausentwickelt. Auf der Grundlage von kognitiver (erkennender) Orientierung, Emotionalität als zustandsabhängiger Wertung von (erkannten) Umweltgegebenheiten und Kommunikation als reziprokem (wechselseitigem) Aufeinanderwirken von Organismen entfalteten sich Sozialstrukturen. Neben weitestgehend angeborene Verhaltensweisen tritt das individuelle Lernen der Tiere. In der niederen Form des Lernen, dem subsidiären Lernen, ist die Reihenfolge der z.B. bei der Nahrungsbeschaffung auszuführenden Aktivitäten festgelegt und es können durch Umwelteinflüsse nur einige Aktivitäten weggelassen werden (z.B. bei der Gewöhnung). Die Reihenfolge der Aktivitäten kann dann bei der höheren Lernform, dem autarken Lernen, noch weiter verändert werden. Die Ablauffolgen, z.B. beim Fangen von Mäusen durch Katzen, können entsprechend verschiedenen Situationen jeweils anders aussehen. Zu lernen, was in welcher Situation günstig ist, erfordert eine gewisse "Spielzeit" und eine Einübung. Die Kindheitsphase im Sozialverband wird gebraucht. Jedes Tier kann nicht nur, es muß lernen, weil nicht mehr alles angeboren ist.

(26) Dies alles sind Eigenschaften und Fähigkeiten, die die Vorfahren der Vormenschen schon mitbrachten. Die Werkzeugnutzung, -herstellung und ihre Verallgemeinerung "für den allgemeinen Fall", d.h. die Zweck-Mittel-Umkehrung kann nur auf dieser Basis entstehen und sich weiter entwickeln. Kulturelle Tradierung beginnt. Jedes einzelne Vor-Menschen-Kind lernt, daß "dieses Ding da" nicht irgendein Stein ist, sondern "gemacht ist zum Schlagen". Es lernt die Kooperation der verschiedenen Gruppenmitglieder zu durchschauen und seinen Platz darin einzunehmen. Sicher wird es dutzende oder hunderte Gruppen gegeben haben, bei denen nach dem bereits erfolgten Funktionswechsel diese Errungenschaften wieder verloren gingen. Und andere, die nur Pech hatten, in einer ungünstigen Region zu wohnen und durch Umwelteinflüsse umkamen, ehe sie durch gesellschaftliche Arbeit genügend Vorsorge und Umweltbeeinflussung erreichten.

(27) Erst jene, die bis heute überlebt haben, weil sie sich weiter entwickeln konnten, waren "Menschen" - der letzte übriggebliebene Zweig, von dem wir alle abstammen: Homo Sapiens. Die letzte vorher ausgestorbene, also noch nicht menschliche Gruppe waren die Neandertaler. Seit ca. 30 000 Jahren sind jene, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lebensweise überlebten, erst Menschen. Diese Interpretation unterscheidet sich von der üblichen Aussage, daß es Menschen gegeben hätte, seit es Werkzeuge wie Faustkeile gab. Wir haben eben begründet, warum dort noch viele Jahrhunderttausende die biologischen Faktoren dominierten und noch nicht das gesellschaftliche Sein, also der Dominanzwechsel noch nicht stattgefunden hat.


Abbildung 2: Bild Anthropogenese

(27.1) 09.05.2001, 01:05, Birgit Niemann: "Der letzte übrig gebliebene Zweig" ist eine seltsame Vorstellung. Man muss sich wirklich einmal klar machen, das ganz Afrika, Asien und Europa mit den anderen Nachfahren des Homo erectus besiedelt war, als H. sapiens vor etwa 130.000 Jahren loszog. Der Neanderthaler ist einer davon. H. sapiens kam nicht in eine menschenleere Welt, auch wenn natürlich die Bevölkerungsdichte viel geringer war. Es wurde ja auch viel mehr Territorium gebraucht. Da selbst Schimpansen ihr Territorium gegenüber Artgenossen verteidigen indem sie fremde Artgenossen überfallen, ist auch nicht davon auszugehen, dass die damaligen Menschen zum Wohle des Homo sapiens so einfach mal ausgestorben sind um Platz zu machen. Mit welcher Selbstverständlichkeit Homo sapiens neue Räume auch gegen den Willen ihrer Ureinwohner besiedelt, kann man doch in der geschriebenen Geschichte ganz prima nachvollziehen. Da sieht man doch, dass das lange Traditionen haben muss, sonst würde er viel zögerlicher vorgehen. Natürlich sind die Methoden in den vergangenen 500 Jahren wesentlich effektiver gewesen. Auch steckte beim Neu-Besiedeln von Amerika bereits das Kapital dahinter, was dem Prozess ohnehin eine neue Dimension verlieh. Am interessantesten ist ohnehin die Frage, wie Homo sapiens es überhaupt geschafft hat, auf der ganzen Welt als einziger übrig zu bleiben. An der größeren Gesellschaftlichkeit hat es bestimmt nicht gelegen. In den frühen Überlappungs-Gegenden unterscheiden sich nämlich die Funde zwischen H. sapiens und H. neanderthalensis nicht besonders und der Neanderthaler war vermutlich auch der bessere Jäger, da er mehr Fleisch verzehrte. Die großen fleischreichen Grassfresser waren zu der Zeit auch noch nicht so weit verschwunden, dass die Menschen selbst beginnen mussten, Gras (Getreide) zu essen.

(28) Was passierte in der ganzen Zeit bis zum Dominanzwechsel - also in der Zeit von mindestens 1.2 Millionen Jahren bis vor einigen Hundert- oder Zehntausenden Jahren? Warum dauerte es bis dahin so lange? Ganz einfach deshalb, weil biotische Entwicklungsfaktoren eine lange Zeit brauchen. Das Neue kam ja nicht einfach zusätzlich zur biotischen Lebensweise hinzu, sondern es schrieb sich, wie alle in der Tierentwicklung entstehenden jeweiligen neuen Lern- oder Verhaltensfähigkeiten, in die Gene hinein.

(28.1) biotische Entwicklungsfaktoren, 22.01.2002, 17:43, Birgit Niemann: ".....sondern es schrieb sich, wie alle in der Tierentwicklung entstehenden jeweiligen neuen Lern- oder Verhaltensfähigkeiten, in die Gene hinein." Es ist immer wieder die Wiederholung derselben Behauptung. Eben nicht alle tierischen Verhaltensweisen schreiben sich in die Gene hinein. Warum ist es so schwer, zu akzeptieren, dass bereits vor dem Menschen das Gehirn ein eigenständiger (vom Genom abgekoppelter) virtueller "Verhaltensorganisator" war. Wenn das nicht der Fall wäre, dann müsste der Geist ja tatsächlich von irgendwoher in's menschliche Gehirn, das mit allen anderen Gehirnen rein gar nichts gemeinsam hätte, hineingekrochen sein. Ihr macht denselben Fehler, wie viele Verhaltensbiologen, die aus der Insektenwelt kommen, wenn ihr alles tierische Verhalten im Genom fixiert seht. Gehirne haben bereits vor der Enstehung des Menschen mit ihrer Verselbständigung gegenüber dem Genom begonnen. Innerhalb der Welt der biologischen Organismen repräsentiert der Mensch natürlich die biologische Art, deren Individuen das am meisten verselbstständigte Gehirn besitzen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

(28.1.1) Re: biotische Entwicklungsfaktoren, 04.03.2002, 00:35, Stefan Meretz: Natürlich schreiben sich nicht alle konkreten Verhaltensvarianten in das Genom, sondern "nur" die artspezifische "Verhaltensvarianz" oder "-kapazität" oder "-fähigkeit". Das war hier aber auch gemeint. Es ist überhaupt nicht schwer, zu akzeptieren, dass mit dem Gehirn sich ein zweiter, allerdings an die individuelle Lebenszeit gebundener Speicher entwickelte. Wegen dieser Begrenzung ist die einzige andere Form der Weitergabe (vor der Zweck-Mittel-Verkehrung) die der sozialen Tradierung.

(29) Es könnte durchaus sein, daß diese Anfänge sich an verschiedenen Stellen des Erdballs vollzogen - aber nur beim Homo Sapiens bis zum Dominanzwechsel führten. Während dieser Prozesse starben die Pre-australopithecus afarensis, Australopithecus africanus und Australopithecus robustus sowie Paranthropus und auch die Neandertaler aus. Die Ausgestorbenen konnten, entsprechend unserem Kriterium für den Dominanzwechsel, noch keine Menschen gewesen sein.

(30) Nur bei den Homo sapiens konnte die Dominanz des Biotischen durch "aktive Anpassung des gesellschaftlichen Lebensprozesses an die Außenweltanforderungen" (Holzkamp 1983, S. 180) überwunden werden. Diese Homo sapiens gibt es als alleinige Art seit ca. 30 000 Jahren, anscheinend fand die Trennung der Homo sapiens von den Neandertalern bereits vor ca. 600 000 Jahren statt (Eberl 1998, S. 53).

Exkurs: 5-Schritt-Qualitätssprung

(31) (siehe auch: http://www.thur.de/philo/kp/5_schritt.htm)
Die eben durchgeführte Unterscheidung von Funktionswechsel und Dominanzwechsel taucht bei allen Entwicklungsprozessen auf, in denen etwas grundlegend Neues entsteht. Der sogenannte "Qualitätssprung" wurde vor allem Gegenstand des dialektischen Denkens. Holzkamp weist auch im Bereich der Phylogenese - die er zwecks Erkundung der Evolution des Psychischen genau untersucht - nach, daß alle Entwicklungsprozesse mit Qualitätsänderungen 5 typische Phasen/Schritte haben:

(32) 1.Auf der jeweils früheren Stufe müssen die Voraussetzungen für das sich entwickelnde Neue gegeben sein: für die Anthropogenese muß z.B. das Psychische im Bereich der individuellen Lernfähigkeit weit entwickelt sein und es müssen hochkomplexe tierische Sozialverbände existieren. Gleichzeitig sind hier schon Keimformen von Merkmalen, Verhaltensweisen oder Prozessen (gelegentliche Werkzeugnutzung und -herstellung) vorhanden, die später einmal die Entwicklung bestimmen werden - aber jetzt noch unwichtig sind.

(33) 2.Diese Keimformen entwickeln sich nicht von alleine zur dominanten Form - sondern daß sie wichtig und bedeutsam werden, wird befördert durch Veränderungen der Außenweltbedingungen für das jeweils sich-Entwickelnde. Vor ca. 8 Millionen Jahren veränderte sich die Geologie in Afrika - und viele Affenpopulationen mußten erleben, daß ihre frühere Lebensweise nicht mehr genügend an die nun vorhandenen Steppen angepaßt waren. Viele starben aus - andere hatten genügend Voraussetzungen, um sich erneut anzupassen.

(34) 3.Allerdings war diese Anpassung für einige dieser Populationen nicht mehr nur eine biologische Anpassung - sondern Keime zu aktiver Umweltveränderung, Werkzeugbenutzung und -herstellung, wurden nun plötzlich wichtig für das Überleben und entwickelten sich immer weiter. Der Funktionswechsel setzte mit der Zweck-Mittel-Verkehrung und der "Erfindung" der Arbeit ein, was wohl in vielen Populationen stattfand (bei allen - auch den ausgestorbenen - als Hominiden bezeichneten Lebensformen). Diese neuen Prozesse wurden jedoch nicht sofort zu den ausschlaggebenden Lebens- und Entwicklungsprozessen, sondern existierten neben den noch dominierenden biologischen. Sie "schrieben sich in die Gene ein" - weil die biologischen Selektionsmechanismen noch weiter dominieren und die Arbeit die Umwelt noch nicht ausreichend entsprechend den Lebensbedürfnissen der Vor-Menschen verändern kann.

(35) 4.Sobald die neuen Prozesse wesensbestimmend werden (d.h. die Existenzform und die weitere Entwicklung dominierend bestimmen), ist der Dominanzwechsel vollzogen. Solange auf dem Weg dahin auch Rückfälle in die jeweils früheren Zustandsformen und Prozessformen möglich waren (die gestrichelten Linien in der Abbildung), war der Dominanzwechsel noch nicht vollzogen. Erst bei einer irreversiblen (nicht mehr rückgängig zu machenden) Durchsetzung des Neuen als dominantem Entwicklungsfaktor ist der Dominanzwechsel und damit der Qualitätssprung endgültig vollzogen. Sobald die Menschen ihre Umwelt aktiv entsprechend ihren Bedürfnissen so verändern, daß sie als Art nicht mehr durch Umwelteinflüsse aussterben, ist dies für die Anthropogenese erreicht.

(36) 5.Auf der Grundlage dieses Neuen verändert sich der gesamte Prozeß des betreffenden sich entwickelnden Systems. Differenzierungen, innere Umgestaltungen etc. Auch die sozialen Strukturen verändern sich z.B. grundlegend. Arbeitsteilung beginnt, das Soziale ist zum Gesellschaftlichen geworden. Die Beziehungen der Menschen untereinander sind nicht mehr durch direkte Kontakte und unmittelbare Kooperation gekennzeichnet, sondern durch übergemeinschaftliche, mittelbare gesellschaftliche Reproduktionszusammenhänge... aber dazu später noch mehr.

(37)


Abbildung 3: Allgemeine Struktur von Qualitäts-"Sprüngen"

Diese allgemeine Struktur der Qualitätssprünge gilt für die "großen" Sprünge zwischen den drei Hauptniveaus (siehe Abb. 1) - aber auch für die jeweils "kleineren" qualitativen Veränderungen innerhalb der Niveaus ("fraktale Anthropogenese").

(38) Wer die Bestimmungen der Dialektik in Erinnerung hat, wird sie hier auch wiederfinden:

(39)

(40)

(41)

(42) Schließen wir noch eine kleine Spekulation an: Wir hatten oben geschrieben, daß der Dominanzwechsel bei der Anthropogenese vollzogen war, "sobald die Menschen ihre Umwelt aktiv entsprechend ihren Bedürfnissen so verändern, daß sie als Art nicht mehr durch Umwelteinflüsse aussterben". Nun kann es durchaus noch passieren, daß die Menschheit entweder durch kosmische Einflüsse (Asteroid!) oder durch ihre eigene Dummheit (Klimakatastrophe...) auf der Erde umkommt. Das negiert nicht ihre Menschlichkeit in der Gegenwart. Vielleicht ist die Überlebensfähigkeit aus "kosmischer Sicht" ein Kriterium für "kosmische Zivilisationen" - was wir also noch lange nicht erreicht haben, sondern erst, wenn die Menschheit auch kosmisch gesehen nicht mehr aussterben kann.

(43) Warum haben wir jetzt so auf der Erkenntnis herumgehackt, daß der Dominanzwandel bedeutet, daß die neue Qualität des Menschlichen nicht mehr reversibel (rückgängig zu machen) ist? Weil das einiges aussagt über das, was Mensch-Sein bedeutet. Es bedeutet vor allem, daß Menschen nur als gesellschaftliche Wesen existieren. Es gibt keine nicht-gesellschaftlichen Menschen. "Ein Mensch ist kein Mensch". Jeder Mensch hat das Gesellschaftliche in sich. Jeder Mensch ist natürlicherweise immer gesellschaftlich.

(43.1) gesellschaftliche Wesen, 22.01.2002, 18:03, Birgit Niemann: Auch hier kann ich meinen Kommentar nicht länger zurückhalten. Der obige fettgedruckte Satz ist natürlich komplett richtig. Aber ebenso richtig ist folgender Satz: Es gibt keine nicht-gesellschaftlichen Ameisen. Eine Ameise ist keine Ameise. Jede Ameise ist natürlicherweise immer gesellschaftlich. Was ist nun der Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Ameise und dem gesellschaftlichen Menschen? Die gesellschaftliche Ameise hat ihre Gesellschaft im Genom verinnerlicht und der gesellschaftliche Mensch hat seine Gesellschaft im Gehirn verinnerlicht. Genauer gesagt, nicht einmal im ganzen Gehirn, sondern im vom Gehirn erzeugten virtuellen Geist, der nur gesellschaftlich sozialisierbar ist. Sowohl in seinen reflektierenden, als auch in seinen nichtreflektierenden Anteilen. Warum finde ich es überhaupt wichtig, solcherart Betrachtung anzustellen? Ganz einfach. Wenn der sozial organisierte Mensch das Kapital noch ein paar Jahrzehnte so weiter machen lässt wie bisher, dann wird auch bald dem Menschen "seine" Gesellschaft (die kapital-organisierte Gesellschaft natürlich) in das Genom hineingeschrieben sein. Dann aber hat der Mensch bald keine Chance mehr, sich anders, als im speziellen Körperbau, von der Ameise zu unterscheiden. Die akute Ernsthaftigkeit dieser Bedrohung kann aber nur wahrgenommen werden, wenn der noch reflektierende Mensch überhaupt begreift, dass sie da ist, statt sich in der Sicherheit seiner nur scheinbar irreversiblen und "unzerstörbaren" gesellschaftlichen Einzigartigkeit zu wiegen.

(43.1.1) Re: gesellschaftliche Wesen, 04.03.2002, 00:20, Stefan Meretz: Du hast keinen adäquaten Begriff von Gesellschaft. Für dich ist jede Sozialstruktur, jede Ansammlung von Individuen, Gesellschaft. Du sitzt damit dem Oberflächenschein auf: Ja, sieht doch so aus bei dem Ameisen, nicht wahr? Schliesslich spricht man ja auch von Staatenbildung, also werden sie wohl auch eine Gesellschaft haben. - Ich will aber die Debatte von hier nicht wiederholen. Interessierte können dort nachlesen. Ein aus meiner Sicht sinnvoller Begriff von Gesellschaft steht hier.

(44) Literatur:
Eberl, Ulrich (1998): Provokation aus dem Labor. In: bild der wissenschaft 3/1998, S. 53-55
Holzkamp, Klaus (1983,1985): Grundlegung der Psychologie

(45) Weiter wird's gehen mit dem Abschnitt: Jeder Mensch ist natürlich gesellschaftlich (bitte in OT-Übersicht schauen)

(45.1) Weiter gehts..., 21.03.2001, 17:33, Annette Schlemm: Ja, es ist soweit:
2. Jeder Mensch ist natürlich gesellschaftlich

(45.2) Anfang der kulturellen Entwicklung - ein Gedanke von Adolf Portmann, 17.12.2001, 10:08, Kalle Pehe ??: Der Biologe Adolf Portmann sieht den Menschen als eine Art Frühgeburt, wenn er ein Neugeborenes mit denen seiner nächsten Verwandten vergleicht. Es müßte demnach noch ein weiteres Jahr im Uterus verbringen, um in einem vergleichbaren physiologischen Entwicklungszustand zur Welt zu kommen. Sein Kopf wäre dann aber schon so groß, dass er nicht mehr durchs Becken der Frau passen würde. Die Natur mußte einen Weg finden, und ließ ihn früher zur Welt kommen. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zustand bei der Geburt höhere Anforderungen an das Verhaltensrepertoire vor allem der Mutter stellte, die dieses vergleichsweise hilflose Wesen großziehen mußte. Vielleicht begünstigte diese Ausgangssituation die Entwicklung sozialer Kompetenzen beim Frühmenschen? Andererseits kann man das sicher auch nicht verallgemeinern, denn dann müßten die Beuteltiere, deren Junge noch hilfloser zur Welt kommen,ebenfalls höhere Formen sozialer Organisation entwickelt haben. Sie haben das Problem aber physiologisch durch die Entwicklung der Beutelfalte gelöst. Die Natur kann offensichtlich ganz verschiedene Strategien verfolgen. Die Entwicklung des Menschlichen ist nur eine davon. Entscheidend an der Strategie des Menschlichen scheint die Verbesserung des Organs Gehirn zu sein und eine damit verknüpfte größere Offenheit im Verhaltensrepertoire. So konnten technische Hilfsmittel entwickelt werden, die man vielleicht als Teil einer kulturellen Antwort auf Probleme verstehen kann. Heute hat dieser technische Bereich so stark an Bedeutung gewonnen, dass er selbst zum Problem geworden ist. Ich habe euer Gesprächsforum mal quergelesen und finde interessante Anregungen bei euch. Dankeschön. Kalle Pehe

(45.2.1) Re: Anfang der kulturellen Entwicklung - ein Gedanke von Adolf Portmann, 19.12.2001, 12:35, Burkhard Stackelberg: Nach dem, was ich ueber Evolutionsbiologie gelesen habe, erscheint mir das unlogisch:
Wenn es uns verwandte Arten geschafft haben, ihre Nachkommen nicht als Fruehgeburt auf die Welt kommen zu lassen, ist eigentlich zu erwarten, dass der Mensch nicht diese Rueckentwicklung vornimmt. Zu klaeren bleibt immerhin, warum das hoehere Geburtsgewicht angenommen wird, zu Lasten der Reife des Neugeborenen.
Zu beobachten ist darueberhinaus, dass die menschliche Schwangerschaft laenger dauert als etwa die eines Bonopos oder Schimpansen. Obwohl also der Mensch unreifer zur Welt kommt, dauert seine Schwangerschaft laenger.
Mutmasslich ist also das vergroesserte Geburtsgewicht und die Unreife zur Geburt eine Folge und nicht die Ursache unserer Intelligenz -- das Hauptproblem bei der Geburt ist ja der Kopf, und die meisten Gehirnzellen sind zum Geburtszeitpunkt bereits entstanden.
Ungeklaert ist also die Herkunft unserer Intelligenz. Einen interessanten Ansatz, unsere Intelligenz und insbesondere all das, was wir nicht zum unmittelbaren Ueberleben brauchen, zu erklaeren, finde ich das Konzept der sexuellen und konsozialen Selektion. Die konsoziale Selektion betrifft alle innerartlichen Selektionsmechanismen, etwa Konkurrenz- und Kooperationsverhalten. Am notwendigsten ist insbesondere die Kooperation bei der Fortpflanzung, da wir uns nicht ungeschlechtlich fortpflanzen koennen.

Demzufolge muessen wir unsere Fortpflanzungspartner besonders sorgfaeltig auswaehlen, besonders dann, wenn wir "hohe Kosten" zu tragen haben: Schwangerschaft und Aufzucht von Kindern benoetigt viel Zeit und Ressourcen. Wer hohe Kosten traegt, schaut genau hin, ob es sich auch lohnt (ob also guter Nachwuchs in Aussicht steht, und welche Unterstuetzung sie/er erwarten kann).
Menschen versuchen also, zu beeindrucken (oder zu bezaubern) -- vor allem das andere Geschlecht. Da vorallem Frauen die Fortpflanzungskosten tragen (Schwangerschaft, Stillzeit, und fast ueberall auch die Erziehung), muessen sie sorgfaeltiger waehlen. Also muessen sich vor allem die Maenner anstrengen, die Frauen von ihrer genetischen Qualitaet zu ueberzeugen -- Sammeln von Guetern und Statussymbolen, Hoeflichkeit, Unterstuetzung und Fuersorge, und als eloquentester Fitness-Indikator die Faehigkeit zu hoeherem, also alles was Kultur ist. Alles, was das unmittelbare Ueberleben handicapt, das ich mir trotzdem leisten kann (etwa ein Pfauenschwanz), eignet sich als Indikator.
Man koennte diese Theorie auch heranziehen, um bestimmte Phaenomene des Alltags zu erklaeren:
Warum etwa sind die meisten Kultur- und Wissenschaffenden maennlich? Nicht, weil Maenner intelligenter sind -- das ist erwiesenermassen nicht wahr. Waehrend Frauen ihre Intelligenz ueberwiegend pragmatisch zur Loesung unmittelbarer Probleme einsetzen, benutzen Maenner sie in hohem Masse, damit Frauen zu beeindrucken -- ihre Motivation ist anscheinend hoeher. Kultur ist "unnuetz" (was den unmittelbaren Ueberlebenserfolg betrifft) -- aber wer es sich leisten kann, sie zu schaffen, hat hohe Ueberlebensreserven. (Es trifft oft nicht fuer die Spitzenkuenstler zu -- sie gehen in ihrem Kunstschaffen z.T. so sehr auf, dass unmittelbar ueberlebensnotwendiges oft nur Nebeninteresse darstellt. Gutes Beispiel aber fuer einen Spitzenkuenstler mit hoher "Fitness" ist aber J.S. Bach, der 20 Kinder hatte, von denen 10 das Erwachsenenalter erreichten.)
Warum haeufen Menschen grosse Mengen an Eigentum und Macht an? Weil es beeindruckt! Und warum vor allem Maenner? Viele Maenner wuerden sagen, eine Frau mit Macht und Geld ist zwar beeindruckend, aber es erhoeht ihren Sex-Appeal nicht besonders. Viele Frauen hoert man sagen, dass Maenner mit Macht und Geld sexy sind.

Es hoert sich an, wie eine Rede fuer den Kapitalismus und fuer die Ungleichheit von Mann und Frau. So ist es nicht gedacht. Die Ergebnisse einer beobachtenden und analysierenden Wissenschaft haben keinen normativen Charakter, dazu eignen sie sich nicht. Auch das Aufbaeumen gegen solcherlei Ungleichheiten (Frau/Mann, arm/reich) ist menschliche Natur -- sonst kaemen zu viele zu kurz, also wehren sie sich.
Normen koennen nur wir Menschen machen, wenn wir nicht eine uebernatuerliche Normenquelle (etwa Gott) voraussetzen. Selbst wenn wir Gott voraussetzen, muessen wir immer noch die Normen in unser Leben uebertragen. Was wir wollen, haengt ganz von uns ab, nicht von den Ergebnissen einer Wissenschaft.

(45.2.1.1) Re: Kultur und Biologie - mehr Fragen als Antworten, 21.01.2002, 10:40, Kalle Pehe: Wie kulturelle Prozesse und biologische Abläufe bei der Menschwerdung ineinander greifen und sich gegenseitig beeinflussen, das ist vermutlich das/ein Schlüsselproblem bei der Erforschung der Menschwerdung. Diese sehe ich übrigens nicht nur als phylogenetische Geschichte, sondern genauso als ontogenetischen Prozess, der sich bei jedem Menschen immer wieder neu vollzieht (Anthropogenese im Kleinen gewissermaßen. Ohne Kultur ist das schlicht undenkbar. Man kann Kultur als Antwort des Menschen auf seine biologische Schwäche verstehen, zugleich ist sie konstitutiv für den Prozeß der Menschwerdung. Auch das ein Gedanke von A. Portmann, so glaube ich. Da sie nicht individuell gefaßt werden kann, sondern irgendwie intersubjektive Vereinbarungen nötig bzw. zur Voraussetzung hat, ist dabei die Entwicklung aller Fähigkeiten zur Kommunikation untereinander von besonderer Bedeutung: Sprache, Schrift,...und die sollen ja nicht unerheblich auf die Entwicklung unserer Gehirne zurückgewirkt haben, von denen sie zugleich ermöglicht wurden (Wirkursache). Menschsein ist für mich nicht allein biologisch faßbar. Irgendwie erschafft sich der Mensch immer wieder selbst in einem Kulturprozeß, der der rein biologischen Entwicklung überlagert ist, aber auch irgendwie darauf zurückwirkt. Dazu gibt es für mich mehr Fragen als Antworten. Die Bedeutung der Auswahl der Partner, gehorcht so sicher kulturell verschiedenen Vorgaben, ist aber auch eine Art Auslese, die auch biologische Aspekte hat. Auch Geschlechterrollen sind kulturell recht unterschiedlich ausgeprägt, von der besonderen Rolle der Frauen bei der Aufzucht des Nachwuchses einmal abgesehen. Ich sehe mich auf diesem Gebiet übrigens nur als interessierten Laien an, der Freude daran hat, über diese Fragen nachzudenken. Wieweit erfolgreiche Kulturen auch als biologisch erfolgreich (nachkommenstark) eingestuft werden können, müßte im einzelnen untersucht werden. Ich glaube nicht, dass es da einen linearen Zusammenhang gibt. Problematisch in der Geschichte auch die zahlreichen Versuche, die Biologie zur Legitimation von Herrschaft nach Belieben auszubeuten, und sie entsprechend zurechtzubiegen. Heute sehe ich starke Tendenzen, Fortschritte des Menschen hpts. an der Weiterentwicklung seiner Intelligenz festzumachen. Ich könnte mir vorstellen, dass eine aufgeklärte anthropogenetische Forschung dabei ein bisschen \\\"stören\\\" könnte, indem sie die Zusammenhänge zur Entwicklung sozialer Fähigkeiten (als der Grundlage von Kulturprozessen) aufzeigt. Vermutlich kann man das nicht trennen und den Versuch dazu würde ich nicht als Fortschritt menschlichen Denkens verstehen. Es springt überall ins Auge, dass unser ethisch moralisches Fortschreiten hinter unseren fantastischen technischen Leistungen deutlich zurückbleibt. Wir wissen, was wir falsch machen, tun uns aber ungeheuer schwer mit notwendigen Änderungen. Auch das ist Kultur, mit ihren hemmenden Aspekten. Je mehr ich darüber nachdenke, umso klarer wird mir, wie verwickelt das Ganze ist. Gruß Kalle Pehe

(45.2.1.2) Re: Anfang der kulturellen Entwicklung - ein Gedanke von Adolf Portmann, 22.01.2002, 13:55, Birgit Niemann: "Nach dem, was ich ueber Evolutionsbiologie gelesen habe, erscheint mir das unlogisch: Wenn es uns verwandte Arten geschafft haben, ihre Nachkommen nicht als Fruehgeburt auf die Welt kommen zu lassen, ist eigentlich zu erwarten, dass der Mensch nicht diese Rueckentwicklung vornimmt." Die Frage lautet nicht, warum sich die Menschen im Vergleich zu unseren Vorfahren, die es geschafft haben ohne "Frühgeburten" zurechtzukommen, "zurückentwickelt" haben, sondern sie lautet: Welche Umweltfaktoren gab es im Leben unserer Vorfahren, deren erfolgreiche Bewältigung von der Gehirnvergrößerung abhing, und die so stark waren, dass selbst die Geburt dafür vorverlegt wurde. "Vorverlegt" ist hier allerdings mit Vorsicht zu geniessen. Denn was vom Standpunkt des Australopithecinen wie vorverlegt aussieht, ist es vom Standpunkt des Menschen noch lange nicht, weil sowohl menschliche Mütter als auch menschliche Neugeborene über das notwendige Verhaltensrepertoire verfügen, um Neugeborenen zu adulte Organismen werden zu lassen. Auch stört mich der Begriff "zurückentwickeln" hier generell. Denn Selektionsdruck wirkt immer aktuell und Organismen enthalten keinerlei inhärenten Zwang zu irgend einem "Fortschritt" (sonst gäbe es keine "lebenden Fossilien"). Wenn ein Organismus im Wasser lebt, das plötzlich wegtrocknet und er schafft es, an Land zu überleben (ehemalige Fische), dann kann ihm morgen passieren, dass er wieder im Meer landet (z.B. Wale und Robben). Letzteres ist keine "Rückentwicklung" sondern ebenso wie Ersteres eine Neuanpassung, allerdings auf anderer stofflich-struktureller und informationeller Grundlage. Man muss sich klarmachen, das ausnahmslos jeder zeitlich und örtlich konkrete Organismus (sexuelle Wesen natürlich nur in Form einer konkreten Population) zum Ausgangspunkt für verschiedene Entwicklungsrichtungen werden kann. Doch egal welche Entwicklungsrichtung im Einzelfall auf Grund der vorgefundenen Bedingungen eingeschlagen wird, sie muss immer dieselben Probleme lösen, die da heißen: Ernähre, schütze und vermehre dich, sonst bis du weg vom Fenster. Biologische Analogie ergibt sich häufig in den generellen Problemlösungsstrategien und die Vielfalt aus den individuell gefundenen konkreten Lösungen.

(45.2.2) Re: Anfang der kulturellen Entwicklung - ein Gedanke von Adolf Portmann, 22.01.2002, 13:26, Birgit Niemann: "Es versteht sich von selbst, dass dieser Zustand bei der Geburt höhere Anforderungen an das Verhaltensrepertoire vor allem der Mutter stellte, die dieses vergleichsweise hilflose Wesen großziehen mußte. Vielleicht begünstigte diese Ausgangssituation die Entwicklung sozialer Kompetenzen beim Frühmenschen?" Es kann in diesem Fall ganz hilfreich sein, sich die Reihenfolge des Auftretens der hier zusammenhängenden Komponenten zu vergegenwärtigen. Weil das Gehirn größer wurde, musste die Geburt vorverlegt werden. Denn der Geburtskanal war nicht mehr erweiterbar, ohne die Fortbewegung der Mutter zu beeinträchtigen. Also kann die Vorverlegung der Geburt nicht der primäre Grund für die Vergrößerung des Gehirns gewesen sein. Trotzdem kann dass anspruchsvolle Sozialverhalten zwischen Mutter und Kind zur weiteren "Komplexierung" des Sozialverhaltens beitragen. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass wir Menschen von Arten abstammen, deren Sozialverhalten bereits hochkomplex war und deren Gehirne (genauer Neokortex) bereits vor dem Auftauchen von Sapiens einem evolutionärem Trend zur Größenzunahme unterlag. Auch scheint der Trend zur Gehirnvergrößerung mit Sapiens am Ende zu sein. Denn dieser vergrößert ja gegenwärtig nicht mehr sein Gehirn, sondern eher seinen externen Informations-Organisator Computer. In der evolutionär "kurzen" Zeit dazwischen aber hat Sapiens, statt seines Gehirns, vor allem seinen virtuellen Geist vergrößert, bis dieser so groß wurde, dass ein neuer stofflicher Träger (erst Bücher, dann Computer) efunden werden musste. Die Größenzunahme des Neokortex in Abhängigkeit von der Komplexität des Sozialverhaltens scheint mir eher eine biologische als eine soziale Strategie zu sein, denn sie ist bei anderen Arten (z.B. Fledermäusen) ebenfalls nachweisbar. Hilflosigkeit bei Nachkommen kann Ausgangspunkt für verschiedene Entwicklungsrichtungen sein. Entweder kann sich ein Trend zu weniger hilflosen Nachkommen ergeben oder ein Trend zu "aufmerksameren" Müttern. Die "Aufmerksamkeit" der Mütter kann sich wiederrum auf verschiedene mütterliche Eigenschaften beziehen. Beim Känguruh ist es "körperliche" Aufmerksamkeit, also der Beutel und beim Menschen eben "virtuelle" Aufmerksamkeit, also das Verhalten. Natürlich mixt sich das im echten Leben alles, weil nicht nur eine Eigenschaft angepasst wird und sich im Prozess der Reproduktion alle angepassten Merkmale kooperativ integrieren. Aber häufig dominiert entweder Körperliches oder Virtuelles. Das gibt einen Hinweis darauf, ob die Anpassung eines konkreten Merkmales über das Genom läuft oder über ein geisterzeugendes Gehirn.


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