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Jeder Mensch ist natürlich gesellschaftlich

Maintainer: Annette Schlemm, Version 1, 21.03.2001
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

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Teil 1: 1. Die Mensch-Werdung

(2) Jedes Neugeborene bedarf der menschlichen Fürsorge und Gemeinschaft. "Der Mensch ist durch seine Natur auf die Gemeinschaft mit anderen angelegt" - schrieb Aristoteles (S.11). Diese Meinung wurde mit dem Aufkommen des Individualismus - parallel mit dem Aufstieg des Bürgers als individuellem neuem Träger ökonomischer Handlungsfähigkeit - abgewertet. Rousseau stellte sich die Menschen als von vornherein Vereinzelte dar, die erst durch einen Gesellschaftsvertrag eine Gesellschaft bilden können. Gegenüber der Auslöschung der Individualität im "Volk" oder auch in Parteien setzte Max Stirner seine Forderung: "Wir [...] wollen nicht bloß politische Menschen oder Politiker sein." (Stirner, S. 228).

(2.1) Stirner-Zitat, 04.03.2002, 12:39, Stefan Meretz: Die Brücke zum Stirner-Zitat verstehe ich nicht. Das bürgerliche Menschenbild, das das isolierte Individuum zur Grundlage hat, bedeutet ja gerade nicht eine "Auslöschung der Individualität", sondern eine scheinhafte Aufwertung derselben im Individualismus: Sozusagen die fetischistische Verehrung des Elends als isolierte Warenmonade.

(3) In fast allen Debatten über "Vergesellschaftung" im Kapitalismus und bei der Suche nach neuen Vergesellschaftungsformen wird deutlich, daß auch meist wir die bürgerliche Vorstellung des isolierten Einzelnen und sich erst danach vergesellschaftenden Menschen vertreten. Das steht aber im Widerspruch zu dem oben abgeleiteten Satz: "Die Menschen können gar nicht mehr ohne diese neue Qualität, die neue Funktion, das neue Verhältnis der Gesellschaftlichkeit leben und überleben." Wir brauchen also zumindestens eine andere Vorstellung von Gesellschaft als jene, bei der das Individuelle verloren ginge.

Menschliche Natur ist gesellschaftlich

(4) Eine Lesart des Satzes von der gesellschaftlichen Natur der Menschen bezieht sich auf das Verhältnis von Natur und Gesellschaft. Es gibt keinen ausschließenden Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft. Menschen sind ein Ergebnis der Naturgeschichte. Menschliche Handlungen können weder physikalische noch biotische Gesetze außer Kraft setzen. Bereits für das Lebendige sind nicht mehr nur kausale Wechselwirkungen zwischen Stoff und Energie spezifisch, sondern funktionelle Wechselbeziehungen zwischen Organismus und ihrer Umwelt. Nach der Entstehung der individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit bekommt die Ebene des Sozialen bereits bei der Tierwelt eine hohe Bedeutung. Nach dem Dominanzwechsel spezifiziert sich dieses Verhältnis für die entstandenen Menschen in ihrer Gesellschaft: Aus der (spezifisch biotischen) Organismus-Umwelt-Beziehung wird die (spezifisch gesellschaftliche) Mensch-Welt-Beziehung, die die früheren Aspekte lediglich als unspezifische, nicht mehr das Wesen und die Entwicklung bestimmende, enthält.
"Der Mensch wird durch einen derartigen Kumulationsprozeß genomischer Information zum einzigen Lebewesen, das aufgrund seiner >artspezifischen< biologischen Entwicklungspotenzen zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung fähig ist." (Holzkamp 1985, S. 179)


Abbildung 4: Entwicklungsniveaus und Wechselwirkungsfaktoren (nach Meretz)

(5) Gesellschaft ist nichts "Zusätzliches", nichts, was "zur Natur noch hinzukommen" muß. Der Hauptevolutionsfaktor ist nicht mehr biotisch bestimmt, sondern besteht in einer "aktiven Anpassung des gesellschaftlichen Lebensprozesses an die Außenweltanforderungen" (Holzkamp, S. 180). Diese Fähigkeit ist jedoch selbst eine natürliche - sie entstand "auf phylogenetischem Wege" (ebd.). Der bestimmende Prozeß im gesellschaftlichen Leben ist die Arbeit, die "kollektive vergegenständlichende Naturveränderung und Kontrolle von Naturkräften zur vorsorgenden Verfügung über die gemeinsamen Lebensbedingungen" (Holzkamp, S. 176f.).

(5.1) 04.03.2002, 12:43, Stefan Meretz: Gesellschaft als neue "emergierte Systemebene", wie du es vorher mal genannt hast, ist schon was Zusätzliches, nicht aber die "Gesellschaftlichkeit": Diese ist Teil der Natur des Menschen.

(5.1.1) nicht aber die "Gesellschaftlichkeit", 05.03.2002, 07:04, Birgit Niemann: Wie kann sich die "Gesellschaftlichkeit" als Natur des Menschen vor, d.h. außerhalb, der erst zusätzlich hinzu kommenden menschlichen Gesellschaft gebildet haben?

Jeder Mensch ist (natürlich) gesellschaftlich

(6) Die für uns wichtigere Lesart dieses Satzes bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Gesellschaft und dem jeweils besonderen Individuum: "Ein Mensch ist kein Mensch" - sagt ein Sprichwort richtig. Auch Individuum und Gesellschaft sind keine einander ausschließenden Entitäten. Gesellschaft ist nicht die Summe der Individuen. Menschliche Individuen tragen die Gesellschaftlichkeit stets in sich (die je konkrete Gesellschaftsform ebenfalls!). Es wird kein Bindemittel irgendeiner Art (Medium: Macht, Geld, Verantwortung...) zwischen "eigentlich isolierten" Individuen zur Vergesellschaftung benötigt.

(7) Vieles, was meist nur in Bezug auf die Einzelnen diskutiert wird (Existenzsicherung, Bedürfnisbefriedigung...), erweist sich bei jedem einzelnen Menschen als gesellschaftlich bestimmt:

(7.1) 22.03.2001, 01:39, Uli Frömmer: Noch im Absatz 4 ist es die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung , was ich gewissermaßen als Potential, als Möglichkeit für den Menschen verstehe. Hier ist von Bereitschaft zur Beteiligung die Rede, was ich als Motivation verstehe. Das ist doch wohl ein wesentlicher Unterschied. Kann noch mal jemand diese beiden Begriffe nach Holzkamp definieren?

(7.1.1) 04.03.2002, 12:56, Stefan Meretz: Stimmt, ist ein Unterschied. Die Fähigkeit ist die Potenz, die jedem Menschen zukommt. Die Bereitschaft meint die Bedürfnisse (schreibt Annette ja auch) und das Teilhaben-Wollen, also die Motivation. Kurze Def.: Motivation ist die Antizipation zukünftiger Bedürfnisbefriedigung. Die Teilhabe an der gesellschaftlichen Lebensgewinnung ermöglicht die Absicherung zukünftiger Bedürfnisbefriedigung. - Dies ganz grob und ohne Berücksichtigung des ganzen Einschränkungen und Verzerrungen im Kapitalismus, wo diese Teilhabe nur in entfremdeter Form möglich ist (was letztlich dazu führt, dass "Teilhabe" fast immer Zwangscharakter hat).

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(10) Trotzdem ist dieses Verhältnis kein "Wischi-waschi-Einheitsbrei", sondern gestattet eine Unterscheidung der beiden unterschiedlichen Pole: Gesellschaft und Individuum und eine deutlichere Sicht auf die Vermittlung zwischen beiden.

A) Gesellschaft

(11) Die Ebene menschlicher Wechselbeziehungen wird oft sehr unterschiedlich benannt. Solche Benennungen sollten auf einer klaren Begriffsbildung beruhen. So macht es durchaus Sinn, das Soziale und das Gesellschaftliche zu trennen - Sozialverbände gibt es bereits im Tierreich, sie machen nicht das Wesen der menschlichen Beziehungen aus. Die Spezifik der Lebenserhaltung in der Gesellschaft besteht in der "bewußte(n), vorsorgende(n) Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen durch kollektive Arbeit etc.." (Holzkamp 1985, S. 184). Nicht die Existenz der Gesellschaft ist (Selbst-)Zweck, sondern die Existenzerhaltung der Einzelindividuen ist hier das bewußt angestrebte Ziel. Somit ist es auch prinzipiell unangemessen, die Individuen "in ihrer Funktion für" die Gesellschaft zu betrachten. Trotzdem gibt es verschiedene Vermittlungsebenen.

Aa) Unterschied Interaktion - Kooperation

(12) Die Aktivität lebendiger Organismen stellt ja schon eine neue Qualität gegenüber dem Geschehen in der physischen Welt dar. Für die Hominiden nach dem Funktionswechsel erhalten Aktivitäten eine neue Qualität, die dann zur Unterscheidung "Operationen" genannt werden. Bei Operationen werden die "Erfolge" der Aktivitäten bereits kontrolliert. In ständiger Wechselwirkung von "Probieren" und "Beobachten" entsteht ein kontrollierbarer Rückkopplungs- und Regulierungsprozeß, der primär auf das Einzelwesen bezogen ist (Holzkamp, S. 264). Aber auch die Sozialpartner werden in diese Regulierung einbezogen. Interaktion ist jede Regulierung der Aktivitäten der einzelnen (Hominiden oder) Menschen untereinander - im unmittelbaren und direkten Zusammenwirken der Individuen auf operativer Ebene.

(13) Nun kommen wir zum Übergang zur Kooperation: Bereits hier entsteht Fähigkeit, zukünftige gemeinsame Ergebnisse gedanklich vorwegzunehmen, zu antizipieren. Zuerst (und bei Tieren) ist diese Antizipation das Ergebnis individueller Lernprozesse. Durch die Entwicklung von Werkzeugen zu Arbeitsmitteln (nach dem Funktionswechsel), in denen ihre Brauchbarkeit und ihr Zweck "vergegenständlicht" sind (vgl. Holzkamp S. 211), ist auch diese Antizipation im Arbeitsmittel "vergegenständlicht" und braucht nicht jedesmal erst individuell erlernt werden. Durch diese Vergegenständlichung von allgemeinen Brauchbarkeiten in den Arbeitsmittel selbst (also immer auch für später und für andere) bekommen die Operationen eine neue Qualität. Die Antizipationen beziehen sich nicht nur auf den Nutzen des hergestellten Gegenstandes "für mich und direkt" - sondern auf den verallgemeinerten Nutzen - der eingebunden ist in die verallgemeinerte, d.h. gemeinschaftlich hergestellte Vorsorge für die je individuelle Existenz.

(14) Im Unterschied zur Interaktion ist bei der Kooperation der überindividuelle Zusammenhang direkt auf diese verallgemeinerte Vorsorge für die je individuelle Existenz bezogen.

(15) Dabei wird die Unmittelbarkeit durchbrochen: Schon beim gemeinsamen Jagen wäre es z.B. für den Treiber individuell nicht sinnvoll, das Wild von sich wegzujagen - erst mittelbar wird der gemeinsame Jagderfolg auch für ihn sinnvoll (vgl. Holzkamp S. 280f.). Kooperation ist deshalb mehr als ein "unmittelbares Miteinander-Tun", wie die Operation, sondern ein darüber hinausgehender Zusammenhang. Schon dieser Zusammenhang läßt sich nicht mehr als "Summe von Interaktionen", d.h. individuellem wechselseitigen Tun, verstehen - wie es allzuoft versucht wird.

(16) Dies waren Unterscheidungen noch "unterhalb" der Ebene des Gesellschaftlichen. Mit dem Dominanzwechsel setzte sich gegenüber der bloßen Interaktivität/Kooperativität gesellschaftliches Handeln als bestimmende Form menschlichen Tuns durch. Dabei ist das Tun jedes Individuums auf die Gesellschaft, nicht mehr nur den Kooperationszusammenhang - bezogen. "Handeln" ist dabei eben nicht - wie sonst oft üblich - "jedes beliebige Tun", sondern stellt in der eben diskutierten Reihenfolge immer weiter spezifizierter Aktivitäten die spezifische menschliche "Erhaltung/Entwicklung individueller Existenz unter durch >Arbeit< geschaffenen und erhaltenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen" (Holzkamp, S. 267) dar.

Ab) Unterschied Kooperation - Gesellschaft

(17) Die Spezifik gesellschaftlicher Lebenserhaltung hatten wir bestimmt als "bewußte, vorsorgende Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen durch kollektive Arbeit etc.. " (Holzkamp 1985, S. 184). Bereits in Kooperationen ist die Vorsorge nicht nur auf Individuen bezogen, sondern die kooperierenden Gemeinschaftsmitglieder antizipieren einen gemeinsamen verallgemeinerten Nutzen, und um diesen zu realisieren, operieren sie "zielbewußt". Bei Kooperationen sind die beabsichtigten Zwecke und dazu zu realisierenden Ziele noch vorgegeben. Sie ergeben sich aus übergreifenden Zusammenhängen - der Einbindung in die Gesellschaft und werden innerhalb des Kooperativen nicht verändert. Erst durch Eingriffe auf die gesellschaftliche Ebene werden diese gesellschaftlichen Zielkonstellationen veränderbar. Kooperationen dagegen dienen nur dem Umsetzen schon vorgegebener Zielkonstellationen.

(18) Gegenüber Interaktionen oder Kooperationen hat die gesellschaftliche Ebene - nach dem Dominanzwechsel - einen verselbständigten Systemcharakter. Menschliche Existenzerhaltung geschieht immer im Rahmen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion - die Beiträge der Einzelnen erzeugen dieses System - aber nicht mehr direkt in operativer oder kooperativer Weise, sondern eher indirekt und vielfach vermittelt.

(19) Dadurch entsteht die unaufhebbare Problematik: Menschen produzieren ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und existieren gleichzeitig unter ihnen. Gesellschaftliche Verhältnisse sind einerseits vorgefundene Voraussetzungen der individuellen Existenzsicherung, und jeder Mensch muß durch seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung diese Voraussetzungen seiner individuellen Existenz prdouzieren und reproduzieren helfen (Holzkamp, S. 192) - ABER: Diese beiden Momente treten stärker auseinander und verselbständigen sich: Die produzierten Lebensmittel/-bedingungen im Prinzip allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung, "unabhängig davon, ob sie an deren Produktion beteiligt waren" (ebd. S. 193). Menschliches Handel - wie wir es oben bestimmten - hat immer einen Bezug zum Gesellschaftlichen - auch Kooperationen und Interaktionen sind (nach dem Dominanzwechsel) jeweils Untereinheiten von Handlungen.

(20) Auf diese Weise wird deutlich, daß menschliches Handeln auf keine Fall auf Kooperationen, Interaktionen oder gar tierische Verhaltensaktivitäten reduzierbar ist. Und auch als Untereinheiten werden sie durch die "gesellschaftliche Natur" der Menschen überformt oder spezifiziert.

(20.1) 07.05.2001, 19:45, Birgit Niemann: Es tur mir leid, aber mir wird auf diese Weise gar nichts deutlich. Ich kann nichts erkennen, was nicht gleichermaßen auch für Schimpansen gilt. Ihre Lebensweise ist, ebenso wie unsere, von gesellschaftlichen Bedürfnissen bestimmt. Sie brauchen Kooperation und Kommunikation mit den Anderen, sonst gehen sie psychisch zu Grunde. Ihre Kinder müssen lernen, was sie für´s Leben brauchen und können noch als 5 Jährige nicht allein bestehen. Stirbt die Mutter, werden sie meist adoptiert. Die Schimpansen mit dem geringsten gesellschaftlichen Ansehen haben ein schlechteres Leben. Sie sind krankheitsanfälliger, haben weniger Kinder und sterben durchschnittlich früher. Sie bemühen sich daher alle um Verbesserung ihres sozialen Status. Ihr Territorium können auch Schimpansen nur gemeinschaftlich verteidigen, weil sie sonst gegen benachbarte Gruppen von Artgenossen keine Chance haben. Dazu ermutigen sie sich gegenseitig, damit keiner feige kneift. Anders als Menschen greifen sie allerdings nur Artgenossen an, die zufällig allein und damit in der Minderzahl sind. Sie lauern ihnen aber regelrecht auf und unterdrücken dabei, trotz ihrer deutlichen Erregung, aufgeregte Rufe. Auch wenn sie gemeinsam jagen, gehen sie davon aus, das sie vom wirklichen Beute-Greifer ihren Anteil bekommen. Sie übernehmen daher auch bereitwillig Treiber-Rollen. Nahrung teilen sie untereinander, wenn sie es sich leisten können und Andere betteln. Sie erwarten auch voneinander, das ihnen der Andere abgibt. Wenn nicht, sind sie sauer und zeigen das auch. Vorratshaltung betreiben sie allerdings nicht, was daran liegen könnte, dass sie als Fast-Vegetarier das ganze Jahr in einer Salat-Schüssel leben. Beim Ringen um den sozialen Status schließen sie Bündnisse, die nicht genetisch determiniert sind. Sie pflegen ihre Bündnisse, indem sie ihre Freunde kraulen. Sie wissen auch genau, wer in ihrer Gruppe zu wem hält und beziehen dieses Wissen in ihre eigenen Operationen ein. Sie wechseln auch die Bündnis-Partner und tricksen sich gegenseitig aus, wenn es ihren Wünschen dient. Wenn sie sich gestritten haben, versöhnen sie sich wieder. Es sei denn, dass ein Kampf um den Rang noch nicht entschieden ist. Auch setzen sie unbeliebte Alphas, die mehr Konflikte verursachen als sie schlichten, mitunter einfach ab. Von Werkzeugherstellung und über 30 bisher beschriebenen kulturell unterschiedlichen Verhaltensweisen will ich gar nicht weiter reden. Es geht einem Schimpansen sicher noch weniger als einem Menschen in seinen Handlungen um seine Gruppe. Aber gerade weil es ihm um sich selbst geht, braucht er die Anderen, auf die er sich einstellt und die er in seine gesellschaftlichen Operationen einbezieht. Schimpansen, die bei Menschen aufwuchsen und als Erwachsene zurück in den Käfig sollten, begriffen ihre Welt nicht mehr, weil sie sich selbst mit Menschen und nicht mit wirklichen Schimpansen identifizierten. Sie fielen meist in schwere Depressionen. Die Unterschiede, die ich zwischen Menschen und Schimpansen ausmachen kann, sind nirgends grundsätzlich. Sie ergeben sich vor allem aus quantitativen Differenzen bei der Anwendung von reflektiertem Wissen, was sicher bei Menschen durch die Sprache enorm begünstigt wird. Wenn menschliche gesellschaftliche Handlungen von irgend etwas überformt sind, dann von einem größeren Anteil reflektierten Wissens. Schimpansen haben auch Ich-Bewußtsein, betreiben Reflektion aber noch nicht systematisch, denn Ratsversammlungen, Geisterbeschwörung, Schulen und Symposien wurden bisher bei ihnen nicht entdeckt. Obwohl sie verstehen, was ein Tausch ist, haben sie auch Tauschhandel zwischen Gruppen noch nicht erfunden. Das hat sie davor bewahrt, so etwas wie Kapital hervorzubringen. Die Tatsache, dass es beim Menschen eine innere gesellschaftliche Natur gibt, eignet sich also nicht für seine besondere Heraushebung vor anderen. Was ihn wirklich vom Schimpansen unterscheidet ist, das er diesen Prozess auch selbst reflektieren kann. Alle Menschen-Kulturen, die jemals beschrieben wurden, machten sich Gedanken über ihre Herkunft und erklärten sich die Welt. Damit schufen sie eine neue virtuelle Welt, die ganz eigene Entwicklungspotenzen hat. Was unsere Vorfahren veranlasste, ausgerechnet die Reflektionsfähigkeit auszudehnen, die sie zum Zeitpunkt ihrer Abtrennung vom gemeinsamen gesellschaftlichen Urahnen mit Sicherheit schon hatten, ist eine interessante Frage. Es gibt plausible Hypothesen, nach denen es mit der Gruppengröße, deren soziale Verflechtung durchschaut werden musste, zusammenhängt. Denn wenn die Gruppengrösse linear wächst, steigt die Anzahl der möglichen Bündnisbeziehungen, die für das eigene Leben wichtig sind, exponentiell an und verlangt etwas mehr Köpfchen um durchschaut und in ihrer zeitlichen Dynamik verfolgt zu werden. Damit wird auch die Evolution der Sprache in Zusammenhang gebracht, weil man zweifellos mit mehr Leuten bei weniger Zeitaufwand über die aktuellen sozialen Beziehungen und deren Veränderungen tratschen kann, als man Artgenossen gleichzeitig kraulen und permanent beobachten kann. Diese Hypothese erklärt auch, warum Klatsch und Tratsch über soziale Beziehungen unserer Freunde und Bekannten bei uns heutigen Menschen über 70% der Gesprächsinhalte ausmacht. Die 70% sind übrigens experimentell überprüft. Sie gelten in dieser Größenordnung auch für Intellektuelle, die das vielleicht nicht wahrhaben wollen. Nebenbei möchte ich nur noch erwähnen, dass auch bei anderen sozialen Tieren diese positive Korrelation zwischen der Größe des Neokortex und der Komplexität der sozialen Beziehungen gefunden wurde.

(20.1.1) 09.05.2001, 23:22, Annette Schlemm: „Ich kann nichts erkennen, was nicht gleichermaßen auch für Schimpansen gilt. Ihre Lebensweise ist, ebenso wie unsere, von gesellschaftlichen Bedürfnissen bestimmt.“
Ja, das sieht so aus, wenn man das spezifisch Menschliche nicht sieht. Das Gesellschaftliche ist eben nicht nur das, was Du dann nennst: „Kooperation und Kommunikation mit den Anderen“. Gesellschaft unterscheidet sich von Kooperation dadurch, dass sie für die gesamte Gattung Mensch einen Reproduktionszusammenhang darstellt, der über die direkte und unmittelbare Zusammenarbeit hinausgeht. SystemtheoretikerInnen wissen was gemeint ist, wenn ich andeute: eine neue Systemebene ist emergiert. Das Ganze (Gesellschaft) ist mehr als die Summe seiner Teile (Interaktion/Kommunikation/Kooperation einzelner Individuuen). Konkret inhaltlich heißt das: bewusste Vorsorge, geistige Distanz gegenüber dem Unmittelbaren, Direkten, bewusste Arbeitsteilung (d.h. nicht mehr –zumindest nicht mehr nur - auf Grundlage biologischer Funktionalität, sondern bewusst entschieden – wie auch immer. Festlegungen auf gesellschaftlicher Ebene sind dann wieder was anderes), Reproduktion niemals nur innerhalb kleiner Gruppen, sondern weitverzweigt-vernetzt... und das nicht nur quasi natürwüchsig, sondern immer als bewusstes-Verhalten-zu (also bewusstes Entscheiden über Ja oder Nein oder Wie, was den Tieren nicht möglich ist).

B) Individualisierung:

(21) Schauen wir uns den anderen Pol des Individuum-Gesellschaft-Verhältnisses an. Menschliche Aktivitäten oder Operationen befinden sich immer innerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge. Direkt auf die Gesellschaft bezogenes, spezifisch menschliches Tun, hatten wir als Handeln spezifiziert. Inwieweit sind auch Operationen auf die Gesellschaft bezogen? Nun, sogar wenn ein Mensch z.B. einen Gegenstand "nur für sich" herstellt, macht er dabei "den kooperativ-gesellschaftlich entstandenen verallgemeinerten Gebrauchszweck für sich nutzbar" (Holzkamp, S. 271). In Arbeitsmitteln sind verallgemeinerte Brauchbarkeiten, also Mittelbedeutungen, vergegenständlicht (ebd. S. 268) - ob er sich dessen gerade bewußt ist oder nicht. Auch seine individuelle Ziele bewegen sich immer innerhalb gesellschaftlicher Zielkonstellationen.

(22) Trotzdem ist der Einzelne - wie wir oben schon erwähnten - nicht ein funktionsausübendes Element zwecks Selbsterhalt des Ganzen. Gesellschaft ist nur Gesellschaft, wenn die Individuen nicht austauschbare, miteinander identische Elemente sind, sondern je ihre eigene Besonderheit ausleben und als solche handeln. Gesellschaft ist nicht die Summe vereinzelter, "eigentlich" isolierter Individuen - sondern wird durch individuelle Subjekte handelnd konstituiert (geschaffen). Individualisierung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht etwa die Abkopplung von der Gesellschaft, sondern sie bedeutet, die je eigene "besondere gesellschaftliche Vermitteltheit zu leben" (Rudolph). Das heißt auch: "Wenn ich lebe, alle Ausdrucksformen meiner ganz einzigartigen Individualität sind zugleich gesellschaftlich Relevante, so halte ich der Menschheit ihre eigene Großartigkeit vor Augen, mir. " (Rudolph, S. 10).

(22.1) 07.05.2001, 20:05, Birgit Niemann: Wenn ich mir den Einzelnen, der z.B. innerhalb eines ökonomischen Systems, wie es ein gewinn-orientierter Betrieb ist, ansehe, dann sehe ich eigentlich nichts anderes als ein Funktionselement, dass für den Selbstzweck dieses Betriebes zu funktionieren hat. Wenn so ein Individuum auch nur versucht, in diesem Zusammenhang etwas anderes auszuleben, als die möglichst optimale Funktionsausübung, dann droht ihm nichts als Entlassung. Es erlebt dann sehr eindrucksvoll, wie schnell es ersetzt werden kann. Weiterhin sehe ich, das gegenwärtig alle gesellschaftlichen Einrichtungen zunehmend in Gewinn-orientiert arbeitende Systeme umgewandelt werden. Selbst teilweise staatliche Einrichtungen. Es stellt sich für mich die Frage, sind gewinn-orientiert arbeitende Systeme vielleicht nicht gesellschaftlich oder kann Gesellschaft vielleicht doch auf die Großartigkeit des Einzelnen verzichten, wenn er nur seine Funktion erfüllt? Ich selbst würde mich allerdings gern dafür entscheiden, Systemen, deren Selbstzweck die Kapital-Akkumulation ist, den Status "soziales bzw. gesellschaftliches System" abzusprechen.

(22.1.1) 09.05.2001, 23:22, Annette Schlemm: Genau. Sie sind nicht wirklich menschlich, weil sie Menschen eben gerade nicht als Subjekte betrachten, die sich entscheiden können, so oder anders oder nicht zu handeln!
Das ist noch ein ganz anderes Thema: Das menschliche Sein in der bürgerlichen Gesellschaft. Gut, dass Du das angesprochen hast. Wir werden wohl dazu auch noch einen Extrateil schreiben müssen. Wichtig ist für mich aber genau dies: das ich erkenne, dass diese konkrete, historisch nun mal gegenwärtig herrschende, Verfasstheit der Gesellschaft nicht unbedingt „typisch menschlich„ ist, wie ja auch oft behauptet wird. Das typisch Menschliche ist die spezifische Möglichkeitsbeziehung. Die kann dann im Konkreten eingeschränkt sein. Aber nie so weit, dass der Mensch nicht wenigstens die Möglichkeit hätte, „Nein“ zu denken. Oder vor seiner Hinrichtung zu schreien: „Es lebe die Freiheit“, wie Holzkamp auch irgendwo erwähnt. Das er die Möglichkeitsbeziehung prinzipiell hat, heißt ja nicht, dass er immer Erfolg mit seinem „Anders wollen“ hat. Aber wenn er weiß, dass genau dies seine Subjektivität ausmacht, dass sein diesbezügliches Selbstempfinden eigentlich das „menschlich Normale“ ist, kann er anders damit umgehen, als wenn er denkt, Angepasstheit sei

(23) Dies betrifft AUCH jene Menschen, die wir i.a. behindern und als "Behinderte" bezeichnen. Jedes - unter den jeweiligen auch technischen Möglichkeiten - lebensfähig geborene menschliche Wesen steht in seiner - auch gehandicapten Besonderheit - automatisch in menschlichen Beziehungen. Diese Beziehungen sind es, die seine Menschlichkeit ausmachen - nicht die Höhe der geistigen Leistungsfähigkeit. Sogar wenn die anderen Menschen eher abweisend reagieren - reagieren sie innerhalb ihrer gesellschaftlichen Kontexte, die ihnen nahelegen, Gesellschaftlichkeit gedanklich auf die potentiellen Beiträge des Einzelnen zum Funktionieren der Gesellschaft zu reduzieren. Auch diese negative Beziehung ist eine gesellschaftliche Beziehung - sie wird durch menschliches Handeln erzeugt - und ist veränderbar (auf diese spezifische Möglichkeitsbeziehung des So- oder Anders-Handelns kommen wir im 3. Punkt ausführlich zu sprechen).

(24) Wir hatten bereits oben verdeutlicht, daß auch Existenzsicherung und Bedürfnisbefriedigung jedes besonderen Menschen sich immer auf die Gesellschaft bezieht. Er hat nicht nur physiologische Bedarfszustände (Hunger, Durst...), sondern ihre menschlische Qualität zeigt sich in ihrer Bezogenheit auf eine verallgemeinerte Vorsorge. So entwickelt sich als zentrales Lebensbedürfnis die Beteiligung des Menschen an der Schaffung von vorsorgenden Lebensbedingungen, unter denen abgesichert-angstfreie Primärbefriedigung abgesichert ist. Und da individuelle Vorsorge notwendig ein >Fall von< gesellschaftlicher Vorsorge ist, kann die individuelle Vorsorge nichts anderes sein als individuelle Beteiligung an gesellschaftlicher Vorsorge. (Holzkamp, S. 296). Dies ist auch die Grundlage dafür, daß es in jedem Menschen selbst jene Faktoren gibt, die zu seiner Vergesellschaftung beitragen. Dazu wird nicht notwendigerweise Zwang, Machtausübung, Geldmedien, Verantwortung oder ähnliches benötigt.

C) Welche Freiheit?

(25) Wir haben bei beiden Polen gemerkt, daß sie immer nur als sich aufeinander Beziehende behandelt werden können. Wer die Dialektik kennt, wird sich darüber nicht wundern. Deshalb findet sich natürlich auch bei Hegel eine entsprechende Erkenntnis. Er kritisiert jene Freiheitsvorstellung, die in der Freiheit nur eine Befreiung von Vermittlungen und Verbindungen zu anderen Menschen oder der Gesellschaft sieht. Die wahre Freiheit wird erst in der Erweiterung der Freiheit in der Gemeinschaft mit anderen gefunden: "Die Gemeinschaft der Person mit anderen muß daher wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden.." (Hegel 1801, S. 82)

(25.1) Re: C) Welche Freiheit?, 23.03.2001, 19:23, Carmen Ehms: Hier habe ich einen schönen Text bei Erich Mühsam gefunden, aus einem Vortrag, den er am 7.November 1929 im Südwestdeutschen Rundfunk gehalten hat. Der Vortrag lautet "Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip" und darin äußert er, dass Mensch und Gesellschaft unter freiheitlichen Bedingungen niemals in Gegensatz geraten können, weil sie gleichwertig und einander ergänzende Ausdrucksformen sind. Er stellt hier auch fest, dass "die Freiheit des Einzelnen nicht begrenzt bei der Freiheit aller" wird, sondern, und jetzt ist die Begründung etwas kopliziert:" vielmehr kann tatsächliche gesellschaftliche Freiheit gar nicht zur Begrenzung der Freiheit des einzelnen zwingen, da ja Freiheit der Pesönlichkeit gar nicht bestände, wo sie im Widerspruch zur allgemeinen Freiheit wirken wollte." (E.Mühsam, Die Feiheit als gesellschaftliches Prinzip Packpapier-Verlag)

(26) Literatur:
Aristoteles (1909): Nikomachische Ethik. Jena 1909
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1981): Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In Hegel-W Bd. 2
Rousseau Jean-Jacques (o.J.) Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechtes. dt. von Hermann Denhardt, Leipzig
Rudolph, Iris (1998): Umbrüche und ein drittes Kind, Frankfurt
Stirner, Max (1924): Der Einzige und sein Eigentum. Berlin

(27) Weiter in Kürze...

(27.1) 04.03.2002, 13:06, Stefan Meretz: Die Fortsetzung gibt es schon, nämlich hier!


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