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1. »Neuronale Netze« und Psychologie
Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 13.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv
(1) Begriffe bestimmen unser Denken. Ohne einen Begriff von einer Sache können wir die Sache nicht denken. Mit einem schrägen Begriff von einer Sache wird die Sache schräg gedacht. Bei manchen Sachen machen schräge Begriffe nichts, denn von allen wird verstanden, was gemeint ist. So ist ein Automobil nicht auto-mobil, denn es wird ja von einer Person gesteuert. Trotzdem wissen alle, was gemeint ist. Bei manchen Sachen führen schräge Begriffe jedoch zu schrägem Denken und zur Unklarheit über die Sache. Darum geht es uns in diesem Buch. Die »Sache«, über die wir schreiben, ist die der »Neuronalen Netze«. Da geht's schon los: »Neuronales Netz«, was ist das?
(2) Kratzer gibt im folgenden Zitat ganz gut die Auffassung des Mainstreams des Konnektionismus, wie die »Neuronetz«-Forschung auch genannt wird, wieder:
(3) Das zweite Zitat aus der Zeitschrift LOG IN veranschaulicht, welche "menschlichen Denkvorgänge" in der Regel im Blick sind:
(4) Das Ziel des Konnektionismus ist, grob gesprochen, durch Analogie zur Struktur des (menschlichen) Gehirns die vermuteten »Leistungen des Gehirns« zu erreichen. In diesem Buch wollen wir zeigen, warum die Vorstellung von »Neuronalen Netzen« als Modellen des (menschlichen) Gehirns der Sache, um die es eigentlich geht, nicht angemessen ist und zum großen Teil Denkverwirrungen stiftet. Was ist die Sache, um die es »eigentlich« geht? Was sind »Neuronale Netze«, wenn sie nicht Gehirnmodelle sind? Wie können wir uns der Sache der »Neuronalen Netze« annähern, ohne die bisherigen Vorgaben der Beschreibungen, wie sie z.B. in den obigen Zitaten ausgedrückt werden, zu übernehmen?
(5) Beide Fragen - um was geht's eigentlich, und wie können wir uns dem theoretisch annähern - durchziehen das Buch wie ein roter Faden. Immer wieder werden wir die »Ebenen« wechseln. Immer wieder werden wir über die Erkenntnismethode (das Wie) nachdenken, um uns neu gerüstet an die Sache zu begeben (das Was), bis wir wieder an den Punkt stoßen, ab dem es ohne ein neues Nachdenken über die Methode nicht weitergeht. Beides - das Wie und das Was - ist normalerweise auf zwei Disziplinen verteilt. So kümmert sich die Erkenntnistheorie oder Philosophie um die Fragen der Art der Erkenntnisgewinnung, während in unserem Fall vor allem die Informatik die »Neuronalen Netze« erforscht. Dies geschieht scheinbar unabhängig voneinander! In Wirklichkeit durchdringen sich Annahmen aus beiden Disziplinen vielfältig und wechselseitig. Ohne Erkenntnismethode keine Erkenntnis über die Sache und ohne Bezug zur Wirklichkeit keine Verallgemeinerung in Form von Erkenntnistheorien. Eigentlich ist das auch allen irgendwie klar, nur kaum einer geht darauf explizit ein. Genau dies wollen wir tun. Das Offenlegen der wechselseitigen Abhängigkeit von Erkenntnismethode und damit gewonnenen Erkenntnissen ist für das Verständnis dieses Buchs von zentraler Bedeutung.
(6) Nichts wird heute von Null auf gedacht. Jeder Mensch hat Theorien im Kopf. Alltagstheorien sind auch Theorien. Die Theorien sind die Brille, durch die wir die Welt betrachten. Theorien bestehen im Kern aus Begriffen. Und Begriffe, wir sagten es schon zu Beginn, bestimmen unser Denken. Auch wir greifen auf vorhandene Theorien und Begriffe zurück, um neue Theorien und Begriffe zu erzeugen. Neue Theorien und Begriffe taugen dann, wenn sie bisher Schräges, Unvereinbares, Unverstandenes besser erklärbar machen. Das ist unser Qualitätskriterium. Durch Kritik am Bestehenden wollen wir Defizite der gängigen Theorien aufzeigen, und durch die Entwicklung von Alternativen wollen wir zeigen, daß es auch anders geht.
(7) Im Verlaufe des Buches werden wir den Eigenarten »Neuronaler Netze« auf den Grund gehen. Wir werden dabei auch die bekannten begrifflichen Zuschreibungen - wie etwa die des "Lernens" für den Optimierungsprozeß - einführen und kritisch diskutieren. In dieser Einführung geht es uns zunächst einmal darum, ein Gefühl für die grundsätzlichen Unterschiede von klassischen und »neuronalen« Programmen zu vermitteln - ohne durch die Übernahme der vielen Begriffsvorgaben die Sicht zu verbauen. Getrennt von einer mathematisch-technischen Entschlüsselung des Wesens »Neuronaler Netze« befassen wir uns mit den vorgegebenen Begriffen selbst. Dabei haben wir zwei Konzepte ausgewählt, die unserer Auffassung nach eine zentrale Rolle bei »Neuronalen Netzen« spielen: "Bedeutung" und "Lernen". Nach der getrennten Erarbeitung der Grundlagen wollen wir beide Aspekte, die mathematisch-technische Funktionsweise und die Konzepte von Bedeutung und Lernen aufeinander beziehen. Auf diese Weise wollen wir der häufig anzutreffenden Vorgehensweise entgehen, nach der entweder einem technischen Sachverhalt psychologische Begriffe beigelegt werden oder ein psychologischer Sachverhalt technisch beschrieben wird. Ziel ist dabei, die Haltbarkeit der vermischten Verwendung der mathematisch-technischen und psychologischen Grundbegriffe in der Theorie »Neuronaler Netze« zu prüfen.
(8) Dem Thema der »Neuronalen Netze«, unserer Sache, wollen wir uns demnach von zwei Seiten nähern: von der Seite der Mathematik und der Seite der Psychologie. Die Mathematik, genauer gesagt, die Mengentheorie, wählen wir, da es unserer Meinung nach sinnvoll ist, zunächst den sachlichen Kern »Neuronaler Netze« zu beschreiben. Ein mathematischer Zugang ist angemessen, da es sich bei künstlichen »Neuronetzen« - nur von denen schreiben wir - um Programme handelt, die berechenbar sind. Die Psychologie wählen wir, da viele der bedeutungsschweren Begriffe aus dieser Disziplin entliehen wurden. Wir wollen die Herkunft und Funktion psychologischer Termini innerhalb des Konnektionismus klären, also fragen, ob diese Anleihen wirklich sachlich begründbar und überhaupt notwendig sind. Auf der Seite der Psychologie nutzen wir die alternative Herangehensweise der Kritischen Psychologie.
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