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Vorworte zum Buch »Neuronale Netze und Subjektivität«

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 13.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

Vorwort der Autorin und des Autors

(1) Dieses Buch richtet sich an Informatikerinnen und Informatiker sowie an Psychologinnen und Psychologen - und alle, die sich für das Thema der »Neuronalen Netze« interessieren. Wir stellen uns vor, daß man zu dem Buch auf zweierlei Weise einen Zugang finden kann. Nähert man sich von der informatisch-technischen Seite, so wird man vielleicht gerade die nicht-technischen Teile spannend finden, in denen es um so brisante Themen wie Bedeutung und Lernen geht. Kommt man eher aus einer sozialwissenschaftlichen Tradition, so bekommt man in diesem Buch erklärt, was »Neuronale Netze« wirklich sind - im Kern jedenfalls. Es kann aber auch genauso gut umgekehrt sein, denn unsere Inhalte und auch Darstellungen liegen ziemlich quer zu dem, was man sonst so lesen kann. Keine der beiden »Richtungen« wird sagen können: "Ja, ja, das kenne ich schon". Hätten wir bei unserer ersten Begegnung mit dem Thema der »Neuronalen Netze« (bzw. des Konnektionismus) eine Einführung gehabt, wie wir sie hier vorlegen, dann wäre uns manche Irreführung erspart geblieben. Und würde man mehr über eine am Subjekt, am individuellen Menschen orientierte Psychologie kennenlernen können, sähe es in Psychologie und Informatik anders aus.

(2) Warum »Neuronale Netze«? Weil folgendes immer und immer wieder geschrieben wird:

"Herkömmliche Digitalcomputer sind schnell, logisch, präzise und - weil sie ein Programm brauchen - dumm. Neuronale Netze sind das Gegenteil: Nach den Prinzipien natürlicher Gehirne gebaut, sind sie auch sehr schnell, aber selbstorganisierend, flexibel, lernfähig, intuitiv." (Brunak und Lautrup, 1993).
Das nennen wir: einen Mythos aufbauen. Mythos und Wirklichkeit stehen im Konnektionismus, wie die Disziplin, die »Neuronale Netze« als Forschungsgegenstand hat, auch genannt wird, dicht nebeneinander. Wir versuchen, uns an der Wirklichkeit zu orientieren, ob wir das wirklich schaffen, muß jede/r selbst beurteilen.

(3) Wir zeigen, daß es nicht notwendig ist, über »Neuronale Netze« wie über Menschen zu reden. Und wir zeigen, was in der Theorie und Praxis passiert, wenn man es dennoch tut. Wir stellen dar, daß hinter der Vorstellung, »Neuronale Netze« könnten lernen und aus der Umwelt Bedeutungen herausholen, ziemlich ungeklärte Begriffe von Bedeutung und Lernen stehen. Und wir zeigen, daß mit sorgfältig abgeleiteten Begriffen für Lernen und Bedeutungen die Dinge in der Informatik allgemein und bei »Neuronalen Netzen« im besonderen in einem völlig neuen Licht erscheinen. Einen versöhnlichen Abschluß finden wir dahingehend, daß wir beschreiben, was mit »Neuronalen Netzen« grundsätzlich möglich ist und was grundsätzlich nicht. Aber das ist ja auch schon viel wert.

Düsseldorf, im Mai 1995

Anita Lenz, Stefan Meretz

Vorwort von Klaus Holzkamp

(4) Seit Ende der fünfziger Jahre hat sich die Psychologie in einen eigenartigen Wissenschaftsverbund hineinbewegt: die Kognitionswissenschaft. Diese Wende weg von einer vorrangig an physiologischen Grundbegriffen und damit an der Biologie orientierten Psychologie hin zu einer Disziplin, die nunmehr die Computerwissenschaft als Leitdisziplin akzeptiert, wurde als "kognitive Wende" deklariert. Zum Verbund der Kognitionswissenschaft gehören neben Informatik und Psychologie weitere Disziplinen wie etwa die Linguistik, die Neurowissenschaft, die Erkenntnistheorie etc. - jeweils mit ihren computerkompatiblen Fraktionen. Damit versteht sich die Kognitionswissenschaft geradezu als Musterbeispiel für eine »interdisziplinäre« Wissenschaft. Die Informatik setzt dabei die Akzente: Sie leiht den anderen kognitionswissenschaftlichen Teildisziplinen ihre Wissenschaftssprache und Modellvorstellungen. Diese wiederum adaptieren die informatischen Konzepte in einer Weise, die zu zahlreichen Verfremdungen und Umdeutungen führt, um sie für die eigene Disziplin verwendbar zu machen. Gleichzeitig nimmt die Informatik ihrerseits Vorstellungen aus den »beliehenen« Wissenschaften in sich auf, indem sie etwa psychologische, neurologische, linguistische oder erkenntnistheoretische Konzepte »informatisch« umdeutet. Ein typisches Produkt der so verstandenen Kognitionswissenschaft ist die »Künstliche Intelligenz«: Hier sollen menschliche Intelligenzleistungen nicht nur im Computer modelliert und simuliert werden, sondern der natürlichen Intelligenz wird explizit eine dieser weit überlegene »Intelligenz« des Computers gegenübergestellt.

(5) Da alle beteiligten Teildisziplinen die Informatik als Leitdisziplin akzeptieren, besteht auch scheinbar kein Bedarf, die Grundbegriffe und Modelle selbst zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen. Sie scheinen in der »harten« Wissenschaft der Informatik ausgereift und darüber hinaus in der Alltagssprache gesellschaftlich auch weitgehend akzeptiert zu sein. Die Problematik der Beliebigkeit der begrifflichen Vermischungen scheint zwar gelegentlich auf, z.B. wenn die Sprache der Kognitiven Psychologie als »Computermetaphorik« kritisiert oder wenn von der »Homunkulisierung« computertechnischer Systeme gesprochen wird. Eine systematische begriffskritische Untersuchung ist bisher jedoch selten erfolgt. Diese Arbeit wurde mit dem vorliegenden Buch geleistet - exemplarisch für das informatische Modell des Konnektionismus.

(6) Zunächst geht es um die Herkunft und Funktion der verwendeten Begriffe, etwa um die Bezeichnung konnektionistischer Netze als »Neuronale Netze« bzw. von Knoten in diesen Netzen als »Neuronen«, vor allem aber um die Verwendung psychologischer Termini wie z.B. die Rede von der »Lernfähigkeit« der Systeme. Ist die Verwendung solcher disziplinfremder adaptierter Begriffe überhaupt notwendig oder gar zwingend? Dieser Frage wird systematisch nachgegangen, indem zunächst mit den sprachlichen Mitteln und Konzepten der eigenen Disziplin eine mathematische Fassung der konnektionistischen Netze entwickelt wird. Aus dieser auch für NichtexpertInnen nachvollziehbaren Darstellung wird deutlich, daß es nicht sachgerecht ist, wenn mit biologisch-neurowissenschaftlichen oder psychologischen Analogiebildungen gearbeitet wird. Auf Basis ihrer eigenen entschleiernden Versprachlichung des Konnektionismus können die AutorInnen zeigen, welche Funktion die gängigen Psychologisierungen besitzen: die Funktion einer Erweiterung der Aussagekraft des Konnektionismus über seine legitimen Möglichkeiten hinaus. Die vorgetäuschte »interdisziplinäre« Verwertbarkeit konnektionistischer Vorstellungen im kognitionswissenschaftlichen Verbund wiederum behindert die adäquate Theorienbildung in den jeweiligen Teildisziplinen.

(7) Damit geht es um die Frage, welche Konzepte mit den durch Analogiebildung in die Informatik aufgenommenen Begriffen importiert werden. Auf Basis verkürzter linguistischer Adaptionen gewinnt die Informatik ein Bedeutungskonzept, mit dem programmsprachliche Zeichenzuordnungen mit inhaltlich-weltbezogenen Bedeutungen vermischt werden. Wie die AutorInnen ausführlich zeigen, hat diese Vermischung zur Konsequenz, daß die Tatsache der Vergegenständlichung von Bedeutungen durch Herstellungsakte von Subjekten außerhalb des Systems ausgeblendet und so vorgetäuscht wird, konnektionistische Netzwerke könnten aus »sich« heraus Bedeutungen generieren und damit die Wirklichkeit außerhalb des Systems erreichen. Dies führt wiederum zu einer weitgehenden Unklarheit über die Werkzeugfunktion des Computers, da nicht mehr erkennbar sein kann, wer oder was außerhalb des Systems steht bzw. wer oder was »das System« überhaupt ist. Die verschleiernde Hineinnahme des Subjekts »ins« System und damit die Eliminierung der wirklichen handelnden Subjekte, die das System hergestellt haben und benutzen, schlägt auch auf die »Lerntheorien« durch. »Lernen« kann hier nur als bloße Anpassung an von außen vorgegebene Bedingungen gefaßt werden. Die zentrale Dimension des menschlichen Lernens, das subjektiv intendierte Eindringen in die wirkliche Bedeutungsstruktur von Lerngegenständen, bleibt so grundsätzlich unfaßbar. Subjektivität ist in den adaptierten Theorien schon begrifflich-konzeptuell ausgeblendet. Wie die AutorInnen zeigen, ist es nur einem von überschüssigen Psychologisierungen befreiten Konnektionismus möglich, in eng umgrenzten, v.a. physiologienahen Bereichen Beiträge zur psychologischen Theorienbildung und Erkenntniserweiterung zu leisten. Wieweit indessen so etwas wie ein interdisziplinärer Kognitivismus oder eine informatisch inspirierte Kognitive Psychologie möglich sein kann, ist jedoch zweifelhaft.

(8) Das vorliegende Buch ist in seiner Anlage und Gründlichkeit ein hervorragendes Beispiel für ein Verständnis einer Interdisziplinarität, das auf einer expliziten methodischen Grundlage zunächst die grundlegenden Begriffe entwickelt, um mit diesen von dort aus den Gegenstandsbereich auszuleuchten. Diese Abhandlung mögen sich die angesprochenen Arbeitsrichtungen sozusagen hinter die Ohren schreiben.

Berlin, Mai 1995

Prof. Dr. Klaus Holzkamp


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