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3.1. Herausbildung der Bedeutungen in der Evolution
Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 13.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv
(1) Bedeutungen sind im Zusammenhang mit der Entwicklung von einfachen Organismen evolutionär entstanden. Für allereinfachste Lebewesen (z.B. Zellen in einem feuchten Milieu) gibt es bezüglich der sie umgebenden Substanz quasi binär nur die Alternative: assimilierbar und für den Stoffwechsel verwertbar oder nicht assimilierbar und u.U. für den Organismus gefährlich. Anhand der chemischen Beschaffenheit der den Organismus umgebenden Stoffe ist klar, ob sie für den Organismus zuträglich oder abträglich sind. Die Stoffe sind in Bezug auf den Organismus (verwertbarer oder nicht verwertbarer) Stoff und (positives oder negatives) Signal zugleich. D.h. es gibt kein vermittelndes Drittes zwischen Umwelt und Organismus.
(2) Die Identität von Stoff und Signal wurde ab einer bestimmten, qualitativ neuen Entwicklungsstufe von Organismen aufgebrochen. Zwischen zuträglichen (oder abträglichen) Stoffen, oder allgemeiner: Umweltgegebenheiten, und Organismus trat etwas Drittes, das zwischen Organismus und Umwelt vermitteln konnte. Dieses Dritte trat nicht grundsätzlich neu auf, sondern der Organismus kam mit der Ausdifferenzierung seiner Funktionen in die Lage, stoffwechselneutrale Umweltgegebenheiten als Drittes, als Signal, zu nutzen. Die signalvermittelte Lebenstätigkeit ist ungleich effizienter als die unvermittelte und setzte sich daher evolutionär durch. Ab der Entwicklungsphase der signalvermittelten Lebenstätigkeit sprechen wir vom Psychischen, eine Definition, die auf Leontjew (1973) zurückgeht. Das Signal als Drittes verweist auf bestimmte Umwelttatbestände, es hat für den Organismus eine Bedeutung. Ob ein Signal eine Bedeutung für einen Organismus bekommt, hängt neben der Tatsache des Vorhandenseins des Signals auch vom inneren Zustand, dem Bedarf, des Organismus ab. Ein Signal ist nur dann bedeutsam, wenn der Organismus für die mögliche Bedeutsamkeit »bereit«, ein Bedarf also vorhanden ist. Der Organismus ist dann »bereit«, wenn das Signal Aktivitäten auslösen kann, die den inneren Zustand des Organismus verbessern oder bewahren, den Bedarf also befriedigen. Sind Signal und Bedarf vorhanden, so kommt es unbedingt (»automatisch«) zur Aktivität. Das Zusammentreffen von Signal und Bedarf, das zur Aktivität führt, nennt man auch Bedeutungsaktualisierung. Sind Signal oder Bedarf nicht vorhanden, so kommt es nicht zur Aktivität, also nicht zur Bedeutungsaktualisierung. Die mögliche Bedeutsamkeit des Signals wird nur mit der Aktivität wahrgenommen, sonst nicht. Ohne ausgelöste Aktivität existiert das Signal als Bedeutung für den Organismus nicht. Bedeutungsaktualisierung und Aktivität sind also identisch. Daraus folgt, daß die gleichen Signale nicht für alle Tierarten gleichermaßen zur Bedeutung werden können. Jede Art lebt in einer Umwelt (potentieller) artspezifischer Bedeutungen, die ihre artspezifischen Aktivitäten determinieren.
(3) Mit dem Begriff der Bedeutung wird der Vermittlungszusammenhang zwischen Organismus und Umwelt beschrieben. Sie faßt die Relevanz (Wichtigkeit), die ein Signal für Aktivitäten des Organismus hat bzw. haben kann. Damit darf die (potentielle) Bedeutung auf keine Seite dieses Zusammenhangs geschlagen werden. Die Bedeutung ist weder identisch mit dem Signal noch wird sie beliebig vom Organismus »erzeugt«. Dieser Schluß hat weitreichende Konsequenzen, wie wir noch zeigen werden. Soviel kann hier schon gesagt werden: Man kann die Bedeutung weder an der Beschaffenheit der Umwelt noch des Organismus festmachen.
(4) Über die Bedeutung zu reden, ist schwierig. Die Bedeutung ist erst vorhanden, wenn sie aktualisiert wird. Solange eine Bedeutung nicht aktualisiert wird, ist sie eigentlich keine oder bestenfalls nur eine potentielle. Diese (eigentliche korrekte) Unterscheidung von bloßem Signal als potentieller Bedeutung und aktualisierter Bedeutung werden wir aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung weglassen und nunmehr von Bedeutung sprechen.
(5) Mit der evolutionären Höherentwicklung kommt es zur Ausdifferenzierung der Bedeutungen in Ausführungsbedeutungen und Orientierungsbedeutungen. Ausführungsbedeutungen beziehen sich direkt auf eine reproduktive Aktivität (z.B. Nahrungsaufnahme), die am Schluß einer Kette von Aktivitäten stehen kann. Orientierungsbedeutungen sind die Bedeutungen, die die Aktivitäten auslösen, die zur Endaktivität hinleiten (z.B. die Nahrungssuche). Die Vermittlungsdistanz, also die Anzahl der Orientierungsbedeutungen, die bis zum Erreichen der Ausführungsbedeutung aktualisiert werden (müssen), wird mit evolutionärer Höherentwicklung größer. Mit dem Umfang und der Vielfalt an auswertbaren Informationen wächst für den Organismus auch die Flexibilität, auf außerordentliche Ereignisse reagieren zu können und damit auch die Überlebenswahrscheinlichkeit.
(6) Mit der evolutionären Ausdifferenzierung der Bedeutungen einher geht eine Ausdifferenzierung des Bedarfs (z.B. in Jagdbedarf, Erkundungsbedarf, Brutpflegebedarf etc.). Der Bedarf als Frühform der Emotionalität hat eine orientierungsleitende Funktion. Verschiedene Bedeutungen, die zu unterschiedlichen Aktivitäten führen und sogar solche, die sich widersprechen, werden mit Hilfe des Bedarfs als komplexem Gesamtzustand des Organismus zu einer einheitlichen Aktivität vereint. Diese bedarfsorientierte Wertung von Umweltgegebenheiten ist jedoch kein bewußter Akt, das Verhältnis zwischen Bedeutung/Bedarf und Aktivität bleibt auf tierischem Niveau deterministisch. Trifft ein Tier mit einem bestimmten Bedarf auf ein passendes Signal, so kommt es zur Aktualisierung der Bedeutung, d.h. zur Aktivität - automatisch.
(7) Eine evolutionär neue Qualität stellt die Herausbildung der Lernfähigkeit dar. Lernfähige Tiere sind nicht mehr nur auf den angeborenen Raum potentieller Bedeutungen angewiesen, sondern können diesen Raum während ihres individuellen Lebens erweitern. Lernfähige Tiere können Zusammenhänge zwischen Signalen und Aktivitäten neu herstellen, sie können Bedeutungen erlernen. Nach wie vor bleibt jedoch der Charakter der Signale als automatischer Auslöser für Aktivitäten erhalten. Werden die Bedeutungen in Abhängigkeit vom Bedarf aktualisiert, so erfolgt die Aktivität. Neu ist die Möglichkeit, neue »Automatismen« während der individuellen Lebensspanne zu erwerben - im Rahmen der artspezifischen Möglichkeiten. Mit der Herausbildung der Lernfähigkeit einher geht die Entwicklung des individuellen Gedächtnisses. Erlernte individuelle neue Bedeutungs-Bedarfs-Aktivitäts-Kombinationen werden behalten.
(8) Damit wird das Artgedächtnis, das die durch Mutation und Selektion evolutionär entwickelten artspezifischen Möglichkeiten umfaßt, erweitert. Waren vor der Lernfähigkeit alle Möglichkeiten der Art genetisch fixiert und damit vorgegeben, so ist nun nurmehr der Raum erlernbarer Bedeutungen und Aktivitäten festgelegt. Ein Tiger kann niemals fliegen lernen; das Jagen dagegen schon - er muß es aber auch! An dieser Stelle wird klar: Angeboren und Erlernt ist kein Gegensatz und auch kein quantifizierbares Verhältnis von »Anteilen«. Richtig ist vielmehr: die Fähigkeit zum Lernen ist angeboren - allen Individuen einer Gattung gleichermaßen! Das Lernthema wird im vierten Kapitel ausführlich diskutiert.
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