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3.2. Bedeutungen in der Menschheitsentwicklung

Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 13.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

(1) Ein evolutionärer Qualitätssprung war die Entwicklung des Menschen. Das wird heute nur noch von wenigen bestritten. Was aber war das qualitativ Neue? Die Kultur, na klar. Aber woher nahmen die Menschen, als sie nunmal Menschen waren, die Muße für die Kultur? Und warum konnten das die Vormenschen (oder die Tiere) noch nicht? Und was haben schließlich die Bedeutungen mit all dem zu tun? Das sind einige der Fragen, die wir am Ende beantworten oder mindestens schärfer sehen können wollen.

(2) Wir hatten gesehen, daß Tiere Aktivitäten dann ausführen, wenn alle Voraussetzungen vorhanden sind: Bedeutung, Bedarf, gelernte Aktivität. Das müssen sie aber auch, eine »Wahl« im menschlich subjektiven Sinne haben Tiere nicht. Tiere können nicht Wollen. Menschen können dies. Für Menschen bilden die Lebensbedingungen keine automatischen Handlungsauslöser, sondern bieten Handlungsmöglichkeiten, die aus individuellen Gründen ergriffen oder nicht ergriffen werden. Auf der anderen Seite sind die Lebensbedingungen in dem Sinne »real«, als daß sie nicht einfach »gewünscht« werden können, um erwünschtermaßen handeln zu können. Holzkamp drückt dies so aus:

"Menschliche Handlungen/Befindlichkeiten sind ... weder bloß unmittelbar-äußerlich »bedingt«, noch sind sie Resultat bloß »subjektiver« Bedeutungsstiftungen o.ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen »begründet«." (1983a, 348).

(3) Die Gründe für menschliches Handeln liegen in den jeweils individuellen Lebensbedingungen. Die individuellen Handlungsbegründungen sind damit die subjektive Widerspiegelung der objektiven Gegebenheiten. Mit den Menschen kommen Objektivität und Subjektivität als Verhältnis in die Welt. Für Tiere gibt es keine Objektivität, da es keine Subjektivität gibt.

(4) Um den Wechsel von Bedeutungen als Aktivitätsdeterminanten für Tiere zu Bedeutungen als Grundlage subjektiver Handlungsgründe nachvollziehen zu können, werden wir uns den evolutionären Übergang vom Tier zum Menschen genauer ansehen.

Zweck-Mittel-Umkehrung

(5) Tiere benutzen Mittel zur Erreichung von Zwecken - etwa für den Zweck der Nahrungsbeschaffung. Einige Tierarten sind sogar in der Lage, die Mittel extra für eine Aktivität herzurichten. Die Mittel- oder Werkzeugherrichtung und Verwendung ist demnach kein ausreichendes Kriterium für eine Abgrenzung von Menschen und Tieren. Der Unterschied von tierischer und menschlicher Weise der (Re-) Produktion ihres Lebens wird erst deutlich, wenn man sich den Zusammenhang von Mittel (Werkzeug) und Zweck (etwa: Nahrungsbeschaffung) genau anschaut. Tiere verwenden Mittel nur im Zusammenhang mit einer unmittelbaren Zweckerreichung. Ist der Zweck erreicht, so verliert das Mittel seine (Orientierungs-) Bedeutung. Der Zweck bestimmt die unmittelbare Mittelherrichtung und -nutzung. Menschen dagegen stellen Mittel/Werkzeuge für zukünftige Verwendungsgelegenheiten und auch für die Nutzung durch andere her.

(6) Hier ist das Mittel quasi vor dem Zweck da, das Verhältnis von Zweck und Mittel hat sich also umgekehrt. Die verallgemeinert und von der unmittelbaren Verwendung getrennt hergestellten Werkzeuge sind die frühesten Formen von Arbeitsmitteln. Als Arbeit wollen wir die gebrauchswertschaffende Umgestaltung menschlicher Lebensbedingungen bezeichnen. Gebrauchswerte sind die verallgemeinert verwendbaren Resultate konkret-nützlicher menschlicher Arbeit. Was bedeutet die Zweck-Mittel-Umkehrung für unseren Bedeutungsbegriff?

(7) 1. Die Bedeutung des Mittels bleibt erhalten. Während die Bedeutung tierisch hergerichteter Mittel nach der Aktivität endet (da Bedeutungsaktualisierung und Aktivität identisch sind, s.o.), behält das menschliche hergestellte Werkzeug seine Orientierungsbedeutung als Mittel auch dann, wenn es gerade nicht gebraucht wird. Charakteristikum des durch Arbeit hergestellten Werkzeugs ist ja gerade die Ausrichtung auf den allgemeinen, zeitlich nicht bestimmten Fall der Verwendung. Gegenständliche Gebrauchswerte erhalten durch ihre Herstellung eine Bedeutung - eine Gegenstandsbedeutung. Die Gegenstandsbedeutungen besitzen, da sie verallgemeinert hergestellt wurden, objektiven Charakter. Auf der anderen Seite ist die Wahrnehmung der Bedeutung ein subjektiver Akt, der (gesellschaftlich durchschnittlich) funktionieren muß, wenn das hergestellte Werkzeug bedeutungsgemäß gebraucht werden soll. Er kann funktionieren, da das Werkzeug ja gerade für die Aktualisierung seiner gegenständlichen Bedeutung gemacht worden ist, sprich: um es zu benutzen. Nur bedeutungsgemäß wahrnehmbare Werkzeuge sind auch benutzbar - eine Frage, die die Informatik unter dem Stichwort "Benutzungsoberflächen" auch heute beschäftigt.

(8) 2. Bedeutungen werden gesellschaftlich hergestellt. Tiere finden Bedeutungen, die ihre Aktivitäten determinieren, individuell in der Umwelt bloß vor. Menschen hingegen produzieren ihre Lebensbedingungen, indem sie Gebrauchswerte mit ihren Bedeutungen in gesellschaftlicher Weise herstellen. In den hergestellten Bedeutungen spiegelt sich also nicht nur ein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur. Dies birgt einen weiteren wichtigen Vorteil.

(9) 3. Gesellschaftlich hergestellte Bedeutungen können kumuliert werden. Da bei Tieren die Bedeutung des Mittels nach der Aktivität mit dem Weglegen wieder im »Untergrund« der tierischen Umwelt »verschwindet«, können erreichte Fertigkeiten im Umgang mit den Mitteln nur unmittelbar-sozial in Form tierischer Traditionsbildung weitergegeben werden. Geht die Tierpopulation unter, so gehen auch die tradierten Fertigkeiten verloren. Demgegenüber wird mit der verallgemeinerten Werkzeugherstellung das praktische Veränderungswissen gegenständlich fixiert. Dieser gegenständlich fixierte gesellschaftliche Erfahrungsfundus ist überdauernd und kann kumuliert werden. Das Wissen bezieht sich dabei auf das Werkzeug und auf den mit dem Werkzeug zu bearbeitenden Gegenstand, denn die Anwendung eines Werkzeugs spiegelt sowohl seine wie auch die objektiven Eigenschaften des bearbeiteten Gegenstands wider. Bei hergestellten konstanten Werkzeugeigenschaften sind auf diese Weise praktische Analysen und Verallgemeinerungen des Gegenstands möglich, auf den eingewirkt wurde. Hierin liegt der Ursprung der messenden und forschenden Erfahrungsgewinnung der Menschen.

Gesamtgesellschaftliche Bedeutungsstrukturen

(10) Die hergestellten Bedeutungen in Form der hergestellten Gebrauchswerte stehen nicht unverbunden nebeneinander. Da gesellschaftlich und verallgemeinert produziert wird, ist jede hergestellte Bedeutung über die Erfordernisse der Produktion eingebunden in ein Netz anderer Bedeutungen. So ist etwa eine Axt verallgemeinert zur Holzbearbeitung gemacht und damit als gegenständliche Werkzeugbedeutung z.B. beim Hausbau auf die Bedeutung des Hauses als Wohnstatt bezogen. Eine Axt ist zum Hausbauen gemacht, oder aber für die Herstellung anderer Gebrauchswerte. Mit der zunehmend differenzierten Produktion der Lebensmittel und ihrer Bedeutungen erweitern und verdichten sich die Gegenstandsbedeutungen zu Bedeutungsstrukturen, einem Netz von Bedeutungen, in dem die einzelnen Gegenstandsbedeutungen aufeinander verweisen. Auch die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen haben einen objektiven Charakter. Ihre bedeutungsgemäße subjektive Erfassung ist gesellschaftlich-durchschnittlich die Voraussetzung für die gesellschaftliche Lebenserhaltung.

(11) Die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen bestehen nicht nur aus einem Netz von Gegenstandsbedeutungen, sondern alle bedeutsamen Aspekte des Lebens der Menschen sind in die Bedeutungsstrukturen eingebunden:

"Diese Strukturen bestehen nicht nur aus unmittelbaren und mittelbaren sachlichen Gegenstandsbedeutungen, sondern auch aus personalen Gegenstandsbedeutungen. Gegenstandsbedeutungen sachlicher und personaler Art haben den Charakter der gegenseitigen Bedeutungsverweisung von Menschen auf Sachen, von Sachen auf Menschen, von Beziehungen zwischen Menschen auf Beziehungen zwischen Sachen, von Beziehungen zwischen Sachen auf Beziehungen zwischen Menschen; solche objektiven Bedeutungsstrukturen sind der allgemeinste orientierungsrelevante Aspekt der Produktivkraft-Entwicklung und dabei zwischen Menschen eingegangenen Produktionsverhältnisse." (Holzkamp, 1973, 146).

(12) Die objektiven Bedeutungsstrukturen sind der Rahmen der gesellschaftlichen Denkformen. Die Denkformen enthalten die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Denkens in der jeweiligen Gesellschaft. Sie sind also der kognitive (denkend-erkennende) Aspekt der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen. In den Bedeutungsstrukturen ist festgelegt, was abhängig vom Stand der Produktivkraftentwicklung historisch gedacht werden kann, aber auch - durchschnittlich - gedacht werden muß. In den Denkformen sammelt sich einerseits die gesellschaftlich-historische Erfahrung als gesellschaftlicher Speicher, andererseits repräsentieren sie die gesellschaftlichen Erkenntnisnotwendigkeiten. Das bedeutet nicht, daß das einzelne Individuum bestimmte Bedeutungen erkennen muß. Die Möglichkeitsbeziehung des Einzelnen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, das so-aber-auch-anders-Handeln-Können, ist damit nicht aufgehoben.

(13) Der objektive, weil produzierte Charakter der Bedeutungsstrukturen schließt aus, daß die Gegenstandsbedeutungen als bloßes »subjektives Phänomen« oder als Resultat einer Art »Verabredung der Bedeutung« angesehen werden können. Gegenstandsbedeutungen sind damit auch nicht auf ihre Gestalt (Form, Farbe etc.) reduzierbar. Eine Kennzeichnung eines Dings als bloße gestalthafte oder figurale »Reizquelle«, als bloße Form sieht von seinem Inhalt als hergestellter Bedeutung ab. Die Wahrnehmung eines Dings ist mehr als die Registrierung eines »Reizes« aufgrund der Form des Dinges. Das bedeutet jedoch, daß aufgrund der bloßen Form eines Dings nicht seine Bedeutung rekonstruiert werden kann. Das ist eine für das Symbolverständnis der Informatik weitreichende Konsequenz, wie wir noch sehen werden.

Von praktischen Symbolen zu Symbolbedeutungen

(14) Wie hat sich das Denken und damit die Sprache herausgebildet? Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung war ja nicht plötzlich auch das Denken einfach »da«. Die Zweck-Mittel-Umkehrung markiert den Schnitt zwischen den Pongiden, den Affenartigen, und den Hominiden, den Menschenartigen oder Vormenschen. Um zu verstehen, wie die Hominiden Bewußtsein und Sprache herausbilden und auf diese Weise zu Menschen werden konnten, sehen wir uns den Arbeitsprozeß zur Herstellung von Gebrauchswerten genauer an.

(15) Vor der Zweck-Mittel-Umkehrung verfügen die Pongiden über ein hochdifferenziertes Repertoire an Bedeutungs-Bedarfs-Aktivitäts-Kombinationen. Sie steuern unter anderem auch die quasi-automatische Verwendung von Mitteln im Moment des Auftretens einer solchen Kombination. Schematisch kann man sich das also etwa so vorstellen: Angehalten durch einen Nahrungsbeschaffungsbedarf (z.B. der Bedarf, einen Vorrat anzulegen) wird z.B. ein Stock gefunden, mit dem dann eine gesichtete Frucht vom Baum geangelt wird. Ist der Bedarf befriedigt und die Aktivität beendet, wird der Stock weggelegt. Nach der Zweck-Mittel-Umkehrung haben sich die Hominiden demgegenüber - um beim spekulativen Beispiel zu bleiben - eine »Angel« hergestellt und optimiert, um für den allgemeinen Fall des »Fruchtangelns« ein Hilfsmittel zu besitzen. Die Mittelherstellung erfolgt unabhängig von der konkreten Verwendung.

(16) Im zweiten Fall (Hominiden) wurden zwei Aspekte, die für die Herstellung des Mittels/Werkzeuges entscheidend sind, unausgesprochen mitgedacht.

(17) 1. Der Gebrauchswert wird antizipiert (ideell vorweggenommen). Da das Werkzeug für den allgemeinen Fall einer zukünftigen Verwendung hergestellt wird, muß seine Zweckbestimmung, also die Art des Gebrauchs, ideell vorweggenommen, antizipiert werden. Dies ist insbesondere notwendig, da sich mit der gesellschaftlichen Herstellung von Werkzeugen der Arbeitsprozeß zunehmend differenziert und die Arbeitsschritte in ihrer Bedeutung in bezug auf den angestrebten Nutzungszweck erkannt und aufeinander bezogen werden müssen. Die ideelle Vorwegnahme des Arbeitsergebnisses durch Antizipation der zukünftigen Zweckbestimmung ist noch kein Denken! Antizipationen kann man sich eher als eine Art »konkreter Ahnung zukünftiger Bedeutungen« vorstellen.

(18) 2. Wesentliche und unwesentliche Werkzeugmerkmale werden unterschieden. Die Antizipation des Arbeitsergebnisses und damit der allgemeinen Zwecksetzung ist auch der Maßstab für die abstraktive Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen (und notwendigen und zufälligen) Merkmalen des Werkzeuges bei der Herstellung. So ist z.B. bei der Axt die Schärfe der Schneide wesentlich, die Farbe des Stiels dagegen angesichts des angestrebten Gebrauchswerts unwesentlich. Auch die Abstraktionen darf man sich hier nicht als bewußten denkenden Akt, sondern wieder als eine Art »konkreter Ahnung zukünftiger Bedeutungen« vorstellen.

(19) Beide Aspekte - Antizipationen und Abstraktionen im Arbeitsprozeß - sind Voraussetzungen und nicht Resultat der Sprache. Mit den Antizipationen und Abstraktionen werden noch vor der Herausbildung von Sprache und Bewußtsein symbolisch die Herstellungserfordernisse individuell repräsentiert. Diese den Arbeitsprozeß regulierenden Repräsentationen werden praktische Symbole (oder auch praktische Begriffe) genannt. Ein Symbol ist eine Bedeutung, die nicht an die Existenz eines Gegenstands gebunden ist. Um solche Symbole geht es beim Arbeitsprozeß. Der herzustellende Gegenstand ist noch nicht da, seine zukünftige Bedeutung als konkreter Gebrauchswert wird jedoch schon »vorausgeahnt«. Ausgehend von den praktischen Symbolen entwickeln sich akustische, bildliche und zeichenbasierte Repräsentationsformen der Symbolbedeutungen, da es notwendig ist, beim gemeinsamen Arbeiten miteinander zu kommunizieren. Aus dem Bereich der durch Arbeit geschaffenen Gegenstandsbedeutungen entwickelte sich auf diese Weise ein Bereich der Symbolbedeutungen, der gleichwohl auf die Gegenstandsbedeutungen rückbezogen bleibt.

(20) Mit den Symbolbedeutungen ist eine erweiterte Kumulation gesellschaftlicher Erfahrung möglich, da sie weder zeitlich noch räumlich an das Vorhandensein eines Gegenstands gebunden sind. Die Sprache wurde auf diese Weise zum umfassenden Mittel zur symbolischen Repräsentation der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen. Mit der Herausbildung der Schriftform steht schließlich ein gegenständlich-überdauerndes Medium zur Verfügung. Die Schrift ist gewissermaßen ein gegenständlicher »Ersatzträger« einer Symbolbedeutung, die auf eine Gegenstandsbedeutung verweist. Da die Bedeutung von der konkreten Schriftform nicht abhängt, ist die Schrift austauschbar. Gleiche Symbolbedeutungen können von verschiedenen Schriftzeichen (oder verschiedenen akustischen Zeichen) getragen werden (z.B. verschiedenen Sprachen).

(21) Haben sich die Symbolbedeutungen erst einmal von den ursprünglichen Gegenstandsbedeutungen verselbständigt, so können relativ eigenständige symbolische Verweisungssysteme entstehen. Beispiele solcher relativ eigenständiger Symbolsysteme sind die Logik und die Mathematik oder aber philosophische Kategoriensysteme. Wichtig für alle symbolischen Systeme ist dabei: Sie bleiben auf die gesellschaftlich hergestellten Gegenstandsbedeutungen rückbezogen. Eine völlig »abgehobene« symbolische Sphäre gibt es nicht - sie wäre eine von den Menschen getrennte Sphäre, und woher sollte die herkommen?

(22) Der untrennbare Zusammenhang von Gegenstands- und Symbolbedeutungen hat Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Denken. Das, was bei den Hominiden ohne Sprache die praktischen Symbole sind, sind beim Menschen die Begriffe. Begriffe sind die symbolischen Fassungen der von Menschen produzierten gegenständlich-bedeutungsvollen Welt. Begriffe sind Symbolbedeutungen. Das bedeutet, daß ein Gegenstand oder ein Sachverhalt immer in Form seines Begriffes wahrgenommen wird. Wahrgenommenes Ding und Begriff sind nicht mehr voneinander zu trennen. Begriffe sind die sprachlich-symbolischen »Nachfolger« der praktischen Symbole der Hominiden. Diese waren die Repräsentanzen der für den Produktionsprozeß notwendigen Zweck-Antizipationen und Eigenschafts-Abstraktionen. Begriffe stehen damit also vor allem für die wesentlichen Zweck- und Eigenschaftsdimensionen eines Gegenstand. Wahrnehmung in begrifflicher Form ist also stets das Erkennen des Allgemeinen im Besonderen. Suche ich nach einem Begriff, so suche ich nach den allgemeinen, den Gegenstand (oder die Sache) auszeichnenden Bedeutungen. Suche ich nach dem Begriff "Stuhl", so suche ich vor allem nach der Bedeutung "Zum-drauf-Sitzen", denn dafür wurde er ja »gemacht«.

(23) Wir hatten gerade festgehalten, daß Begriffe Symbolbedeutungen sind. Und wir hatten geschrieben, das Symbolbedeutungen von verschiedenen Zeichen getragen werden können. Das bedeutet aber, daß die Zeichengestalt der Begriffe wechseln kann. Begriff als Inhalt und Wort als Form müssen demnach scharf voneinander unterschieden werden. Begriff "Stuhl" und Wort "Stuhl" sind also zweierlei. Die Symbolbedeutung für das Ding "Zum-drauf-Sitzen" wurde durch die gesellschaftliche Herstellung geschaffen, damit es genau diesen Zweck erfüllt. Sie ist damit nicht austauschbar (oder beliebig vereinbar). Austauschbar ist die Form, in der ich die Bedeutung transportiere. So sind "Stuhl", "chair" oder "cadeira" verschiedene Wortformen für die gleiche Bedeutung.

(24) Wenn Form und Inhalt zwei verschiedene nicht aufeinander reduzierbare Aspekte von symbolischen oder gegenständlichen Bedeutungen darstellen, dann hat dies auch Konsequenzen für die menschliche Wahrnehmung. Die Erfassung der Bedeutung eines Dinges erfolgt nicht vermittels einer Auflösung der Formaspekte des Dinges in einer Art figuraler Top-Down-Analyse, sondern die Bedeutung wird quasi direkt wahrgenommen. Die operative Ebene der sensitiven Erfassung der Formaspekte des Dinges ist zwar gleichfalls vorhanden, sie bleibt aber im Normalfall unspezifisch. So analysiere ich nicht das erkannte Ding als Sitzplatte auf vier Beinen, dessen Einzelteilvergleich zusammen mit der Relation "Besteht-aus" aus meinem individuellen Speicher "Stuhl" liefert. Ich nehme den Stuhl als solchen direkt wahr, weil ich seine allgemeine Zweckbestimmung, die durch die Herstellung in ihm vergegenständlicht wurde, erkenne. Das gleiche gilt für Symbolbedeutungen. Beim Lesen analysiere ich nicht etwa wie ein OCR-Programm (OCR: optical character recognition - optische Zeichenerkennung) die Buchstaben, um sie gedanklich zu Wörtern »zusammenzubauen«, deren Bedeutung ich durch Formvergleich in meinem individuellen Speicher finde, die ich wiederum zu bedeutungsvollen Sätzen zusammenbaue. Den Bedeutungsgehalt eines Textes nehme ich ohne bewußte Erfassung der Buchstabengestalt direkt wahr. Auf die eigentlich unspezifische Ebene der operativen Buchstabenanalyse ("Entziffern") werde ich zurückgeworfen, wenn es z.B. sehr dunkel ist.

Zusammenfassung

(25) Wir haben argumentiert, warum der Bedeutung objektiver Charakter zukommt, sie aber gleichzeitig nicht auf formale Momente reduzierbar ist. Der Rahmen für die Bedeutungen auf menschlicher Stufe der Entwicklung ist die gesellschaftliche Produktion von Gegenständen und vermittelt darüber von Symbolen, die der (Re-) Produktion des gesellschaftlichen Lebens dienen. Das »Bedeutungsnetz« ist zwischen den Gegenstands- bzw. Symbolbedeutungen »aufgespannt« und vermittelt zwischen den Handlungen der einzelnen Menschen und den Notwendigkeiten der Gesellschaft. Da die Gesellschaft ein in sich, d.h. unabhängig von konkreten Einzelnen funktionsfähiges Gebilde ist, sind die gesellschaftlichen Notwendigkeiten für den Einzelnen immer nur Möglichkeiten. Das gesellschaftliche System erfordert nur durchschnittlich die Beteiligung der Einzelnen. Die Einzelnen müssen zwar zur eigenen Erhaltung von den Handlungsmöglichkeiten Gebrauch machen, dennoch gibt es keinen unmittelbaren Determinationszusammenhang zwischen Bedingungen und Handlungen. In den je konkret vorliegenden Bedeutungskonstellationen ist nicht festgelegt, wie der/die Einzelne handelt. Die gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen inklusive der eingeschlossenen Denkformen bilden Prämissen des Handelns (und Denkens). Zu den Handlungsprämissen gehört auch die eigene Befindlichkeit. Welche Handlungs- (Denk-) Alternativen der/die Einzelne ergreift, hängt auch vom emotionalen Zustand ab. Das bedeutet nun aber nicht, daß menschliche Handlungen bloß emotionsgetrieben sind. Die universelle Möglichkeit, sich bewußt zu den Bedingungen verhalten zu können, gilt auch für die eigene Befindlichkeit. Alle Voraussetzungen des Handelns sind in dem Begriff Grund zusammengefaßt. Menschliches Handeln ist begründet und nicht bedingt. Damit läßt sich das Verhältnis von objektivem und subjektivem Aspekt des Bedeutungsbegriffs zusammenbringen. Einerseits sind in den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen objektive Notwendigkeiten enthalten, andererseits hängt es von meinem subjektiven Standort, meiner Situation, meiner Befindlichkeit und meinen Intentionen ab, ob und welche Handlungsmöglichkeiten ich wie für mich ergreife. Zu den Handlungsmöglichkeiten gehört damit auch, die Handlungsmöglichkeiten selbst zu ändern, mehr noch: Die Teilnahme an der Verfügung über meine Lebensmöglichkeiten macht die besondere menschliche Qualität des Daseins aus.

(26) Entscheidend für unsere Fassung eines Bedeutungsbegriffs ist der Vermittlungscharakter der Bedeutungen. Bedeutung haben die Dinge immer für uns, d.h. auf der individuellen Ebene für mich. Damit ist der Subjektstandpunkt der unhintergehbare Standpunkt, von dem aus nur das Verhältnis von Bedeutungen und Handlungen klärbar ist. Dieser Schluß hat erhebliche Konsequenzen für die Diskussion der Möglichkeit, psychische Phänomene mit »Neuronalen Netzen« zu modellieren (vgl. Kap. 3.4. und 5.1.).

Schlußfolgerungen

(27) Mit diesen Ergebnissen lassen sich einige begriffliche Zuspitzungen treffen, die für die Diskussion der Informatik wichtig sein werden. Ein Symbol ist eine Bedeutung, eben eine Symbolbedeutung. Die Formulierung "ein Symbol hat eine Bedeutung", impliziert, daß es die Bedeutung »zugeordnet« bekommen hat, daß es also auch keine Bedeutung haben kann. Das ist nach der hier vorgestellten Argumentation jedoch nicht möglich. Das gilt auch dann, wenn formuliert wird, daß ein Symbol für mich bedeutungslos sei. In dem Adjektiv "bedeutungslos" ist das bedeutsame - nämlich in Form seiner Negation - eingeschlossen. Ein Parkverbotsschild kann für mich bedeutungslos sein, da ich gerade zu Fuß gehe, womit die (gesellschaftlich hergestellte) Bedeutung des Schildes als Handlungsmöglichkeit dennoch nicht aufgehoben ist.

(28) Begriffe sind sprachliche Fassungen symbolischer Bedeutungen, jedoch nicht mit diesen identisch. So gibt es z.B. auch musikalische Fassungen symbolischer Bedeutungen. Das Zeichen (oder mehrere Zeichen wie das Wort) ist das Transportmedium der Symbolbedeutung. Zeichen sind also austauschbar, die Symbolbedeutung jedoch nicht. Darauf beruht die Möglichkeit der Übersetzung: Die Zeichen für "Stuhl" können durch "chair" getauscht werden, die Symbolbedeutung, auf die die Zeichen verweisen, ist nicht austauschbar. Natürlich kann es zu Verweisungen auf verschobene Symbolbedeutungen kommen, z.B. aufgrund verschiedener Entwicklungen der Bedeutungsstrukturen, was sich dann als Übersetzungsschwierigkeit zeigt. Das zeigt jedoch nur die unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungsverläufe und ihre Widerspiegelung in sprachlicher Form. Am objektiven Charakter der Bedeutungsstrukturen ändert dies nichts.

(29) Das Zeichen »für sich« ist bedeutungslos (bzw. hat seine Bedeutung eben als Zeichen z.B. eines Alphabets, also als Transportmedium). Folglich können aus Zeichen »als solchen« keine Symbolbedeutungen »konstruiert« werden:

"»Begriffe« sind also, anders als die Zeichen, mit denen sie kommuniziert werden, keineswegs austauschbar und u.U. bloßes Konventionsresultat, sondern ... in letzter Instanz über die Bedeutungen, die sie repräsentieren, symbolische Fassungen der von Menschen geschaffenen gegenständlich-sozialen Verhältnisse in ihrer wirklichen Beschaffenheit. Zeichen sind mithin niemals direkt, etwa per Verabredung, auf Realität beziehbar, hängen, wenn sie nicht die sinnliche Hülle eines Begriffs sind, quasi in der Luft: Sie sind dann nur wechselseitig durch andere Zeichen definierbar, die Sphäre der Zeichen kann aber nicht in Richtung auf das Ergreifen der Wirklichkeit überschritten werden ..." (Holzkamp, 1983a, 231f).

(30) Symbol und symbolisierte Sache stehen in einem untrennbaren Zusammenhang. Sie repräsentieren den Verweisungszusammenhang von der gegenständlichen Bedeutung und der symbolischen Fassung, von Gegenstands- und Symbolbedeutung. Dieser Zusammenhang wird anschaulich klar, wenn man das Wort "Symbol", das griechischen Ursprungs ist, übersetzt und durch "Sinnbild" ersetzt: die Sache, dessen Sinn, also Bedeutung, als Bild dargestellt ist, steht zum Sinnbild in einem Verweisungszusammenhang dergestalt, daß zwar das Bild, also die sinnliche Hülle beliebig und austauschbar ist, der Sinn des Bildes, also die Bedeutung, aber auf die Bedeutung der Sache verweist. Als Beispiel mag ein Computerprogramm mit grafischer Benutzungsoberfläche dienen, bei dem bestimmte Funktionen (etwa das Abspeichern) in ikonischer Form versinnbildlicht sind. Dabei ist klar, daß die Art des Bildes beliebig ist, ja, sogar keine »Ähnlichkeit« mit dem Sachverhalt zu haben braucht (wie das bei textuellen Befehlen oftmals der Fall ist), solange die Bedeutung des Sinnbildes auf die des Sachverhalts (des Abspeicherns) verweist. Umgekehrt: Jemand, der nichts über Dateien, Speichermedien etc. weiß, dem sich die Bedeutung des Sachverhalts "Abspeichern" also nicht erschließt, der wird auch durch eine noch so »ähnliche« Bildform mit dem Programm nichts anzufangen wissen.


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