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4.3.2. Der Kognitivismus
Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 14.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv
(1) Etwa Anfang der sechziger Jahre wurde die Dominanz der SR-Psychologie durch die Dominanz der kognitiven Psychologie abgelöst. Dies hatte zur Folge, daß der Begriff des »Lernens« durch andere Zentralbegriffe, wie etwa den des »Gedächtnisses«, abgelöst wurde. Es wurden einerseits kognitive Ansätze und Fragestellungen der alten Bewußtseinspsychologie aufgegriffen, andererseits unterschied sich der neue Kognitivismus gegenüber der alten kognitiven Psychologie wesentlich dadurch, daß kognitive Prozesse vor allem als »Informationsverarbeitungsprozesse« modelliert wurden. Im Vordergrund des Kognitivismus steht also die theoretische Modellierung kognitiver Prozesse nach Analogie der Computerhardware und -software. Mit dieser Wende vollzog sich auch ein Wechsel der psychologischen Wissenschaftssprache von der bisherigen Stimulus-Response-Terminologie zur Computerterminologie. Die Physiologisierung der psychologischen Wissenschaftssprache des Behaviorismus hatte vor allem die Funktion, die Anbindung der Psychologie an die Naturwissenschaften deutlich zu machen und andererseits der Gefahr zu begegnen, daß bewußtseinsbezogene Termini in die Psychologie einfließen. Nunmehr hoffte man durch den Rückbezug auf die Computerwissenschaft einen wissenschaftlichen Exaktheitsanspruch entgegensetzen zu können, der mit dem Vorteil verbunden zu sein schien, nicht als wissenschaftsfähig geltende Bewußtseinsprozesse untersuchen zu können.
(2) Der Computer liefert hier jedoch nur grundlegende Metaphern, da man über menschliche Kognitionsprozesse lediglich so redet, »als ob« es sich dabei um Computerfunktionen bzw. -programme handelt. Mit Bezug auf Individuen ist folglich von Input, Output, Enkodierung und Abruf, Speicher sowie Suchverfahren die Rede. Da das kognitivistische Gedächtniskonzept für den Konnektionismus unmittelbar relevant ist, werden wir im folgenden theoretische Grundkonzeptionen kognitivistischer Gedächtnisforschung vorstellen.
(3) Bei der Verwendung von auf die Computermetapher gestützten Termini und Modellen wurde nicht nur das Gedächtnis in Analogie zum Computerspeicher gesetzt, sondern es wurden Konzepte entwickelt, in denen das Gedächtnis aus mehreren Speichern modelliert wurde. Aus solchen Mehrspeichermodellen wurde später von Atkinson und Shiffrin (1968) ein Dreispeichermodell des Gedächtnisses entwickelt. Danach verfügen Menschen über einen Ultrakurzzeitspeicher (mit einer Haltezeit von 1 bis 2 Sekunden) als Sensorisches Register (SR), einen Kurzzeitspeicher (short term memory STM) mit mehreren Sekunden Haltezeit und einen Langzeitspeicher (long term memory LTM) mit unbegrenzter Haltezeit. Der Informationsfluß geht dieser Modellvorstellung entsprechend vom SR zum STM, von da aus zum LTM und beim Erinnern als »Abruf« wieder in den STM. Man ging davon aus, daß die Aufnahme der Information in das SR aufmerksamkeitsunabhängig, die Überführung der Information in den STM dagegen aufmerksamkeitsabhängig ist. Darüber hinaus wurde angenommen, daß der STM über eine begrenzte Aufnahmekapazität verfügt, so daß der Inhalt des STM ins LTM überführt und dort abgelegt werden muß. Ferner sollen im Kurzzeitspeicher enthaltene Informationen nur durch Prozesse wie Wiederholen, Memorieren etc. fixierbar sein.
(4) Für die Aufnahme der Information in den Kurzzeitspeicher und ihre Überführung in den Langzeitspeicher wurden Hypothesen über verschiedene Kodierungsstufen formuliert. Danach soll im Kurzzeitspeicher per Kodierung eine mehr sensorische Ordnung nach den akustischen bzw. phonetischen Merkmalen der verbalen Items (Einheiten) entstehen, z.B. nach Klangähnlichkeit: Rang, Klang, Tang. Das Resultat einer zweiten Kodierungsstufe ist eine semantische Ordnung, also eine Ordnung nach sprachlichen Bedeutungsbeziehungen unabhängig von der sinnlichen Erscheinungsweise der Elemente (z.B. Rang, Ordnung, Reihenfolge). Diese Kodierungsprozesse wurden noch differenzierter untersucht und klassifiziert, wir werden hier jedoch nicht weiter darauf eingehen.
(5) Auf der Grundlage des Dreispeichermodells wurden auch Vorstellungen über die Eigenart des Wiedererinnerns, dem »Abrufen« von Informationen entwickelt. Danach soll bei jedem Abrufvorgang eine spezifische Abrufinformation im STM als Frage an das LTM im STM gespeichert sein, wodurch es möglich sein soll, selektiv bestimmte Informationen aus dem LTM zu aktivieren und bewußt zu machen. Mit jedem Abruf soll diese Information im LTM gegenüber anderen Informationen dann aktualisierbar werden. Hier wird weiter davon ausgegangen, daß ein veränderter Kontext, in dem eine Information steht, den Zugang zum LTM blockieren kann. Wichtig sind nun weitere Unterscheidungen von Gedächtnisarten. Die relevanteste ist die von Tulving (1972) vorgenommene Unterscheidung in semantisches und episodisches Gedächtnis. Dem episodischen Gedächtnis werden Gedächtnisinhalte zuordnet, die sprachliche Repräsentanzen jeweils bestimmter Ereignisse darstellen. Beispiel: "Ich habe dich zum letzten Mal in der Matheklausur gesehen"; das Individuum erinnert sich damit an bestimmte raumzeitlich fixierbare Ereignisse in seiner Vergangenheit. Dem semantischen Gedächtnis werden Gedächtnisinhalte zugeordnet, die Repräsentanzen begrifflicher Strukturen oder Ordnungen darstellen. So hat die Aussage "Ein Feuerzeug ist ein Gegenstand" eine semantische Struktur. Hier geht es also um die Verfügbarkeit begrifflicher Bestimmungen oder Zusammenhänge, d.h. sprachliche Bedeutungszusammenhänge. Dabei soll der Zusammenhang zwischen diesen Repräsentanzen durch Algorithmen oder Regeln hergestellt sein, die Schlußfolgerungen über die aufgenommenen Informationen hinaus ermöglichen.
(6) Aufgrund der angenommenen unterschiedlichen Strukturen beider Gedächtnisarten wird auch von verschiedenen Arten des Wiedererinnerns bzw. verschiedenen Abrufvorgängen ausgegangen. So soll bei episodisch gespeicherten Repräsentanzen das Erinnern in raumzeitlich orientierten Suchprozessen bestehen, das Erinnern von Repräsentanzen im semantischen Gedächtnis dagegen in Suchprozessen innerhalb der dort abgelegten sprachlichen, logischen, axiomatischen Ordnung. Semantische Netzwerke sind Modelle, die der Speicherung derartiger Zusammenhangsstrukturen dienen und von der Annahme unterschiedlicher hierarchischer Ordnungsprinzipien der Gedächtnisrepräsentanzen ausgehen (vgl. Bredenkamp und Wippich, 1977).
(7) Problematisch an den bisher unterschiedenen Gedächtnisarten ist ihre Fixierung auf verbal-symbolisches Material, so daß die kognitivistische Gedächtnisforschung zur Analyse menschlichen Bewegungslernens nichts Nennenswertes beigetragen hat. Stattdessen wurde das Problem des »motor learning« einem Spezialgebiet mit eigener konzeptioneller Tradition zugeordnet.
(8) Etwa seit den frühen siebziger Jahren wurde von Craik und Lockart (1972) mit dem Konzept der Verarbeitungsebenen (levels of processing) ein anderer theoretischer Grundansatz entwickelt, der die den Mehrspeichermodellen zugrundeliegenden Vorstellungen des Speichers kritisierte. Das Besondere des Modells besteht darin, daß die Behaltensleistung nicht als Eigenschaft des jeweiligen Speichers, sondern als Ergebnis der wahrnehmend-begrifflichen Verarbeitung des Materials betrachtet wird. Das Verhältnis zwischen Kodierung und Behalten ist hier gerade umgekehrt: Während beim Mehrspeichermodell die kürzere oder längere Behaltensdauer charakteristisch ist für verschiedene Speicher, geht dieses Konzept davon aus, daß verschiedene Kodierungsformen aufgrund unterschiedlich intensiver Auseinandersetzung mit dem Material zu verschiedener Behaltensdauer führen.
(9) Diese verschiedenen Kodierungsformen werden als unterschiedliche Verarbeitungsebenen aufgeteilt: die 1. Ebene als Analyse physikalischer oder sensorischer Züge, die 2. Ebene als figurale Mustererkennung bzw. phonetische Identifizierung (perzeptuelle Ebene), die 3. Ebene als semantische Analyse. Entscheidend ist bei den hier herausgehobenen Ebenen, daß sie durch die wachsende Tiefe der Auseinandersetzung mit dem Material gekennzeichnet sind. Folglich besteht auch die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Prozeßebenentiefe und Behaltensdauer. Dieser wird mit schon vorhandenen Wissensstrukturen begründet, in die das Material vor allem der semantischen Ebene integriert wird, womit es selbst zum überdauernden Wissensbestand des Individuums werden soll. Demgegenüber seien auf der sensorischen Ebene lediglich aktuelle Merkmale, die entsprechend schnell wieder entfallen, kodierbar. Auch hier spielt das Konzept der Aufmerksamkeit eine Rolle. Es wird davon ausgegangen, daß im Gegensatz zur sensorischen Kodierung die perzeptuelle Ebene an Aufmerksamkeitsprozesse gebunden ist, die semantische Kodierung dagegen durch eine intensivierte Aufmerksamkeitszentrierung auf perzeptiv kodierte Inhalte zustande kommt.
(10) Das Verarbeitungsebenenmodell, in dem die Verarbeitungsebenen eher als »funktionale« Niveaus der Informationsaufnahme zu verstehen sind, denn als zeitlich aufeinanderfolgende Stufen, wurde später durch Annahmen über Verarbeitungsebenen des Abrufs (im episodischen Gedächtnis) ergänzt. Danach wird bei einem längeren Zurückliegen der Einprägungsphasen der Abruf von Informationen als ein Rekonstruktionsprozeß verstanden, wobei es von der Tiefe des Prozeßniveaus der Kodierung der Abrufinformation abhängt, wieweit das gesuchte Ergebnis aus den unmittelbar verfügbaren Erinnerungsstücken rekonstruiert werden kann.
(11) Zusammenfassend läßt sich somit sagen, daß im Verarbeitungsebenen-Modell Gedächtnis als ein Prozeß des Sich-Erinnerns aufgefaßt wird, der von der jeweiligen aktuellen Reizsituation, der Kontextinformation und dem verfügbaren Vorwissen bestimmt sei. Dieser Erinnerungsprozeß wird vor allem als aktiver, von den Individuen intendierter Rekonstruktionsprozeß aufgefaßt.
(12) Wie bestimmt nun die kognitivistische Gedächtnisforschung das Verhältnis von Behalten und Erinnern? Meist wird dieses Verhältnis schon in der Standardanordnung als kontingente, d.h. faktische Beziehung zwischen unabhängiger und abhängiger Variable aufgefaßt. Danach findet in einem ersten Stadium ein Einprägen statt (oft als Lernphase bezeichnet) und in einem zweiten Stadium der Abruf bzw. die Reproduktion. Da im ersten Stadium unabhängige Variablen eingeführt werden, um Vorhersagen über die Reproduktion des gelernten Materials im zweiten Stadium zu machen, werden Einprägen und Abruf als Wenn-Dann-Komponenten einer Hypothese betrachtet. Dadurch, daß Einprägen und Abruf in einem bloß faktischen (nicht bedingenden) Zusammenhang stehen, wird Einprägen (Behalten) als ein Prozeß aufgefaßt, der als solcher mit dem Abruf (Erinnern) nichts zu tun hat. Das gleiche gilt auch für den Abruf. Dieser scheint zwar durch den Einprägensprozeß beeinflußt, schließt aber keine Aspekte des vorhergehenden Einprägens sein. Behalten und Erinnern werden so wechselseitig konzeptionell isoliert. Einprägen wird mit Wiederholung gleichgesetzt und in der Versuchsanordnung die Anzahl der nötigen Wiederholungen als Maß für die Gedächtnisleistung genommen.
(13) Diese Gleichsetzung entspricht der assoziationistischen Grundüberzeugung der kognitivistischen (aber auch klassischen) Gedächtnisforschung, die sie - wie wir zu Beginn darstellten - mit dem Behaviorismus gemeinsam hat[22]. Danach ist die Festigkeit von assoziativen Verknüpfungen ein Resultat der Anzahl der Wiederholungen im Einprägungsprozeß. Damit wird der Einprägungsvorgang von der Erinnernsanforderung isoliert. Betrachten wir Behalten als intendierte menschliche Handlung, dann wird klar, daß meine Behaltensaktivitäten darin begründet sind, daß ich später das Behaltene erinnern will. Andernfalls ist das Behalten sinnlos. Wenn wir die Gedächtnistheorien durch unsere begründungstheoretische Brille betrachten, dann besteht die Funktion der Wiederholung darin, unter bestimmten experimentellen Bedingungen die Entwicklung einer subjektiven Behaltensstrategie zur Erfüllung der Erinnernsanforderung zu ermöglichen. Die Funktionen der Speicher sind darin verschiedene funktionale Formen der jeweiligen Behaltensstrategie. Die scheinbar »im« Individuum fixierten Gedächtnisarten können wir damit als typische Lernproblematiken auffassen. So kann das Subjekt zur Überwindung der Problematik, daß es sich an ein bestimmtes Ereignis in seiner Vergangenheit nicht erinnern kann, und zur Überwindung der Problematik, daß ihm ein bestimmter begrifflicher Zusammenhang nicht gegenwärtig ist, gute Gründe haben, unterschiedliche Behaltensstrategien zu wählen: So etwa die raumzeitlich orientierten Suchprozesse oder den Durchgang durch begriffliche Klassifikationssysteme. Das gilt natürlich auch für die Behaltensstrategien, bei denen entsprechende Erinnernsanforderungen antizipiert werden.
(14) Beziehen wir unsere bisherigen Ausführungen über die umfassenden, sachlich-sozialen Bedeutungskonstellationen, die als Prämissen in die Handlungsbegründungen eingehen, mit ein, so ergeben sich aus den kognitivistischen Gedächtnistheorien - neben den schon herausgearbeiteten - weitere prinzipielle Beschränkungen. In den Vorstellungen vom Gedächtnis als Speicher ist ein bestimmter Aspekt des Lernens angesprochen, den wir als Dauerhaftigkeit des Lernresultats bezeichnet haben. Danach hat intendiertes Lernen erst dann stattgefunden, wenn in einer bestimmten Situation erfahrungsbedingte Änderungen der Leistung etc. über die spezielle Situation, in der sie erworben wurde, hinaus erhalten bleiben. Dabei kann die Lernintention auf das Behalten/Erinnern, also auf die Dauerhaftigkeit des Gelernten, oder auf andere Dimensionen als das Behalten/Erinnern orientiert sein. In den kognitivistischen Gedächtnistheorien sind jedoch nur solche Lernaktivitäten angesprochen, in denen das Individuum die Dauerhaftigkeit seiner Lernresultate anstrebt. Insofern könnte die Gedächtnisforschung als Speziallfall der Lernforschung eingestuft werden. Allerdings stehen Lernen und Gedächtnis faktisch weitgehend unvermittelt nebeneinander.
(15) Ein weiteres Problem der kognitivistischen Gedächtnisforschung ergibt sich aus dem Umstand, daß die dort angesprochenen Strategien der Kodierung, des Suchens, der Rekonstruktion und Ortung in semantischen Netzwerken lediglich als mentale, bloß »innere« Handlungen verstanden werden. Sie werden nicht als praktische Handlungen begriffen, die sachlich-soziale Bedeutungszusammenhänge verändern. Im Gedächtniskonzept wird demnach eine Gleichsetzung von Behaltens-/Erinnernsstrategien mit mentalen Strategien vollzogen, womit die wirkliche Praxis des Behaltens/Erinnerns verfehlt wird. Da von der sinnlich-praktischen Bezogenheit des Subjekts auf eine gegenständlich-bedeutungsvolle Welt abgesehen wird, ist die Überwindung mentaler Kapazitätsschranken mittels Berücksichtigung gegenständlich-praktischer Strategiekomponenten des Behaltens/Erinnerns - wie wir sie mit dem Modalitätenkonzept dargestellt haben - auch nicht theoretisch faßbar. Stattdessen wird die mentale Wissensorganisation, die wir innerhalb des Lebens- und Arbeitszusammenhangs der Individuen als unselbständigen Teilaspekt hervorgehoben haben, in unzulässiger Weise verallgemeinert. Die kognitivistische Gedächtnisforschung klammert somit jegliche Bezüge menschlichen Behaltens und Erinnerns zur sachlich-sozial bedeutungsvollen Welt aus. Dies gilt auch da, wo von Wechselwirkungen des Systems mit Merkmalen der Systemumgebung die Rede ist, da es sich hier lediglich um programmsprachliche Repräsentanzen von Umgebungsparametern handelt:
(16) Deswegen kann man bei der kognitionspsychologischen Modellbildung auch von einem Realitätsverlust sprechen. Während in der SR-Psychologie vergegenständlichte sachlich-soziale Bedeutungszusammenhänge auf isolierte Gegebenheitszufälle reduziert sind, deren Verknüpfung vom einzelnen Individuum vorgenommen werden muß, wird im Kognitivismus die Welt als Ganzes ausgeklammert (vgl. dazu auch die eingehende Analyse von Michels, 1991).
(17) Wir haben als Besonderheit des Kognitivismus gegenüber der alten kognitiven Psychologie hervorgehoben, daß hier kognitive Prozesse vor allem als »Informationsverarbeitungsprozesse« durch Computer modelliert werden. Dabei werden die auf Computeroperationen bezogenen Aussagen in metaphorischer Weise als kognitionstheoretische Termini benutzt. Der Computer wird also von einem Hilfsmittel von BenutzerInnen zur Effektivierung ihrer Leistung (vgl. Kap. 3.2. und 3.3.) in ein Modell menschlicher Kognition umgedeutet. Auf diese Weise wird das BenutzerIn-Werkzeug-Verhältnis verschleiert und verdreht. Die BenutzerInnen, die als Subjekte der Anwendung von Computersystemen außerhalb des »informationsverarbeitenden« Systems, das sie für ihre Zwecke geschaffen haben, stehen, werden nun in Termini des »Systems« modelliert. Auf diese Weise geht mit der Mittelperspektive auch der Platz des handelnden Subjekts außerhalb des Systems verloren. Damit wird das System zum »selbsttätigen Agenten« seiner eigenen Anwendung, zum »Subjekt« von Kognitionsprozessen. Das Subjekt wird hier also so betrachtet, als ob es ein Computer sei. Insofern kann es auch nicht gleichzeitig als BenutzerIn oder ProgrammiererIn abgebildet werden. Das bedeutet aber, daß niemand mehr außerhalb des Computersystems diesen benutzen oder programmieren könnte. Indem so das Subjekt der Anwendung bzw. Programmierung von Computersystemen in das informationsverarbeitende System selbst hineinverlegt wird, ist das wirkliche individuelle Subjekt im System verschwunden. Der Computer wird zum Akteur - wie im Kinderglauben der Belebtheit aller gegenständlichen Dinge. Die Konsequenz derartigen animistischen Denkens besteht dann darin, daß der Computer als selbsttätiges »Subjekt« seiner Operationen erscheint, womit das handelnde Subjekt aus der Wissenschaftssprache eliminiert ist. Damit erscheinen den wirklichen Subjekten ihre eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse nur noch als Verhältnisse zwischen von ihnen unabhängig tätigen Computersystemen. So liegt es nicht mehr fern, davon auszugehen, daß auch Netze als »kognitive Systeme« »sich selbst« für erfolgreiche Anpassungen an ihre »Umwelt« programmieren können.
(18) Schon auf einer formal-logischen Ebene ist diese Vorstellung jedoch unhaltbar. Ein Subjekt, das ein System aufbaut, steht mit der Tatsache des Aufbauens a priori außerhalb des Systems, ist folglich nicht »das System« und auch nicht als solches theoretisierbar. Nimmt man umgekehrt an, Subjekte seien »kognitive Systeme« genauso wie Computersysteme, so folgt daraus zwingend, daß, wenn diese ein System bauen, sie »sich selbst« bauen. Bei dieser Formulierung wird schon deutlich: Es ist egal, ob das "sich" auf die als »kognitive Systeme« gedachten »Subjekte« oder die Computersysteme bezogen ist, denn die Differenz zwischen »Erbauendem« und »Erbautem« ist auf der Ebene des Systems verschwunden. Außerhalb des Systems gibt es »nichts« mehr, besser: Es gibt kein »Außerhalb« mehr. Damit ist jede erkennende Distanz eliminiert, Systeme wären als solche von uns folglich nicht mehr erkennbar. Es gibt in der Tat Positionen, in denen die Identität der verschiedenen »kognitiven Systeme« Mensch und Computer vertreten wird (z.B. von Haeffner, 1986). Diese Positionen sind, wie absurd sie auch erscheinen mögen, streng logisch konsequent. »Mittelwege« (etwa: das Subjekt ist ein »kognitives System« nach dem Modell des Computers, aber unterscheidet sich dennoch von diesem) sind nach unser Auffassung - und hierin stimmen wir mit Minsky und Haeffner überein - nicht aufrechtzuerhalten. Unsere Konsequenz besteht jedoch darin, eine subjektwissenschaftliche Grundlage zu erarbeiten, und nicht darin, die Differenz von Subjekt und System zu nivellieren.
(19) Diese System-Akteur-Vermischung ist in der Informatik (auch im Konnektionismus, s.u.) gang und gäbe (vgl. z.B. das Lehrbuch zur Systementwicklung von Raasch, 1991). Sie sind ein Ausdruck der prinzipiellen Unklarheit, wo und was (nicht nur) in der kognitivistischen Theorie eigentlich das »Subjekt« ist.
(20) Das Problem der verschleiernden Hineinverlagerung von Subjekten in das System besteht auch in den Mehrspeichermodellen, in denen menschliche Behaltensleistungen als Eigenschaft des jeweiligen Speichers betrachtet werden. Damit werden die Speicher zu Subjekten des Transfers von Informationen und deren Kodierung. Im Konzept der Verarbeitungsebenen dagegen, das menschliche Behaltensleistungen als Ergebnis der unterschiedlich tiefen perzeptiv-begrifflichen Verarbeitung des Materials betrachtet, befindet sich das wirkliche Subjekt außerhalb des Systems. Es ist unserer Auffassung nach den Mehrspeichermodellen konzeptionell überlegen. Im Konzept der Verarbeitungsebenen hängt es nicht vom Speicher ab, was wie lange behalten wird, sondern von der Aktivität des Subjekts. Indem in den Mehrspeichermodellen das Gedächtnis als Ursache von Behaltensleistungen angenommen wird, werden die Art und der Umfang des Behaltens zirkulär aus den Systemeigenschaften des jeweiligen Speichers erklärt. Dies wird dadurch deutlich, daß man den verschiedenen Gedächtnisleistungen eine besondere Speicherart unterschiebt[23], aus der dann die verschiedenen Behaltens-/Erinnernsaktivitäten erklärt werden sollen. Nach den Begründungszusammenhängen meiner »Gedächtnisleistungen«, also nach den Bedingungen und Prämissen, von denen ihre Besonderheit und Effektivität abhängen, wird dann auch nicht weiter gefragt.
(21) [22] Beide Ansätze unterscheiden sich nur in ihrem Fokus: Während der Behaviorismus nach äußeren Bedingungen fragt, die zu einer Reiz-Reaktions-Assoziation führen, konzentriert sich der Kognitivismus mehr auf »innere« logische Strukturen, die die Input-Output-Assoziationen repräsentieren. Gegenseitige Abgrenzungen sind demnach bloß plakativer Natur.
(22) [23] Das führt zu einer regelrechten Inflation der Speicher: Ultrakurzzeitspeicher, Kurzzeitspeicher, episodischer Speicher, semantischer Speicher, Arbeitsspeicher, prozeduraler Speicher, deklarativer Speicher etc.
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