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5.1. Netzoptimierung und subjektives zielgerichtetes Handeln
Maintainer: Stefan Meretz, Version 1, 14.02.2004
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv
(1) Im folgenden wollen wir uns eingehender mit dem Verhältnis von unspezifischen Optimierungsprozessen und der Ebene subjektiv-intendierter Handlungen und ihrer Modellierbarkeit mittels »Neuronaler Netze« befassen. Damit stellt sich für uns auch die Aufgabe, genauer zu bestimmen, worin diese unspezifischen Prozesse der Ordnung und Vereindeutigung von Umweltbeziehungen bestehen und welche unspezifischen Prozesse sinnvoll mit »Neuronalen Netzwerkmodellen« abgebildet werden können. Um das zu leisten, untersuchen wir zunächst zwei Anwendungen. Wir haben als Anwendungsbeispiele solche gewählt, die sich am Menschen als biologischem Vorbild orientieren, wobei sich das erste auf unspezifisch-menschliche Funktionen bezieht, die Okulomotorik (Augensteuerung), und das zweite auf eine für den Menschen spezifische Ebene, die Aneignung von Sprache.
(2) Das erste Anwendungsbeispiel bezieht sich auf eine Darstellung in Ritter et al. (1991, 149ff) und befaßt sich mit der Bewegungssteuerung der Augen. Beim Lesen oder Betrachten eines Bildes machen die Augen oft zahlreiche ruckartige Bewegungen, die als Sakkaden bezeichnet werden. Erregt ein Objekt die Aufmerksamkeit der oder des Betrachtenden, bewegt eine Sakkade den Augapfel derart, daß die Projektion dieses Objekts in das Zentrum der Netzhaut wandert. In der Mitte der Netzhaut befindet sich ein Gebiet, die Fovea, die aus besonders vielen lichtempfindlichen Zellen besteht, so daß die Auflösung eines betrachteten Gegenstands hier besonders hoch ist. Die Sakkaden werden im Superior Collicus, einer mehrlagigen Neuronenschicht im oberen Bereich des Hirnstamms, ausgelöst. Man geht davon aus, daß in den oberen Lagen dieser Neuronenschicht eine sensorische Karte (vgl. Kap. 4.4., S._) realisiert ist, da sich - so Ritter et al. - eine stetige Zuordnung zwischen den Orten der Lichtrezeptoren der Retina und der Lage der von ihnen erregten Neuronen in diesem Teil der Neuronenschicht ergebe. Man nimmt ferner an, daß für die Sakkadensteuerung die darunter liegende Schicht von zentraler Bedeutung ist, da Ortspunkten in dieser Schicht zweidimensionale Blickrichtungsänderungen zugeordnet seien, die durch Erregung von Neuronen am entsprechenden Ort ausgelöst werden könnten. Aufgrund der Zuordnung von ortsgebundener Erregung und dadurch ausgelöster Blickrichtungsänderung spricht man auch von einer motorischen Karte. Die Richtung der Sakkaden werde hauptsächlich durch den Reizort in der Schicht festgelegt. Die Korrespondenz der beiden Karten wird als wesentlich für das Funktionieren der Sakkadensteuerung angesehen: Wird die von einem lokalisierten Lichtreiz in der sensorischen Karte bewirkte Erregung auf die unmittelbar darunter liegenden Neuronen der motorischen Karte übertragen, so ergibt sich eine Augenbewegung, die den Lichtreiz in der Fovea zentriert. Das okulomotorische System kann Änderungen des Zusammenhangs zwischen visuellem Reiz und notwendiger Sakkade zur Zentrierung eines Objekts durch Anpassungen folgen.
(3) KonnektionistInnen versuchen nun, die adaptive Bildung eines Paares korrespondierender sensorischer und motorischer Karten zur Sakkadensteuerung nachzubilden. Der von ihnen verwendete Ansatz fußt auf dem (von uns dargestellten) Kohonen-Modell zur Bildung topologieerhaltender Karten. Mit Hilfe dieses stochastischen Approximationsverfahrens wird die Verringerung der Korrektursakkaden des Auges bis zur schließlichen Zentrierung eines Gegenstands simuliert. Bei der Simulation von Adaptionsschritten wird ein simulierter »Reiz« als zu zentrierendes »Objekt« aufgefaßt. Dieser Reiz erscheint als Punkt auf der Retina und soll mit einer einzigen Korrektursakkade in den Bereich der Fovea gebracht werden. Die Auswahl der Lage der Reize (Punkte auf der Retina) erfolgt zufällig mit einer festen Wahrscheinlichkeitsdichte (Gaußverteilung), die qualitativ dem Dichteverlauf der Rezeptoren in der Retina entspricht. In der Fovea erfolgen keine Sakkaden. Die Rezeptorenverteilung in der Retina wird hier also durch die Reizverteilung simuliert. Zwischen Reiz und Reaktion besteht in diesem Modell ein Determinationszusammenhang, von Prozessen der »Aufmerksamkeit« etc. wird abstrahiert.
(4) Es handelt sich hier um ein Modell, das neurophysiologische Optimierungsprozesse (der 4. Ebene des Ebenenmodells) abzubilden versucht. Diese unspezifischen Anpassungsprozesse, bei denen die Informationsauswertung von Umwelttatbeständen durch die Sakkadensteuerung erhöht werden soll, stellen die materielle Basis der Orientierungsfunktion der Aussonderung/Identifizierung dar, die zur dritten Ebene gehören. Die Orientierungsfunktion der Aussonderung/Identifizierung befähigt das Individuum zur Aussonderung eines abgehobenen »Dinges-an-seinem-Ort« in mehr oder weniger großer Distanz zur Sinnesfläche aus der im übrigen diffusen Umgebung. Sie ist evolutionär nach der elementaren Funktion der Gradientenorientierung entstanden und erheblich komplexer. Bei der Gradientenorientierung können nur Gradienten (z.B. Hell-Dunkel-Gradienten, Temperatur-Gradienten etc.) erfaßt werden, die unmittelbar an die Sinnesfläche angrenzen. Die Orientierungsfunktion der Aussonderung/Identifizierung ist demgegenüber eine frühe figurale Orientierungsform in der Distanz. Sie ist die Grundlage der höchsten Orientierungsform der Diskrimination/Gliederung, bei der das Orientierungsfeld nach Bedeutungseinheiten gegliedert wird.
(5) Auf dem Evolutionszweig zum Menschen hin entstanden im peripheren Bereich der Sinnesorgane spezielle Ortungs-/Aussonderungsmechanismen, die man als Akkomodation, Konvergenz und Disparation bezeichnet. Darüber hinaus bildeten sich verschiedene Konstanz-Funktionen sowie zentralnervöse Mechanismen der Ausfilterung irrelevanter Randinformationen zur Erfassung unveränderlicher Umwelt-Dimensionen, Bahnungs-, Hemmungs- und Summationseffekte, reafferente Steuerungsmechanismen etc. heraus. Sie werden als Perzeptions-Operations-Koordinationen bezeichnet und bilden eine unspezifische Grundlage für die Wahrnehmung innerhalb des menschlichen Erkenntnisprozesses. Die Wahrnehmung erfolgt hier nur über die Operationen (vgl. dazu Kap. 4.2, S._). Information wird auf dieser Ebene also nicht von der Umwelt empfangen, sondern in für die Lebenserhaltung funktionaler Weise aus der Umwelt »herausgeholt«. Hierin liegt auch die Funktionalität der Sakkadensteuerung. Da sich die Operationsrichtung aus dem identifizierten Ort eines Dinges ergibt, geschieht auf dieser Funktionsebene nicht nur eine Richtungs-, sondern auch eine Distanzsteuerung.
(6) Eine Betrachtungsweise, die unter logisch-abstrakten Gesichtspunkten nach gleichbleibenden Organisationsprinzipien bzw. funktionell- gleichbleibenden Beziehungen (hierzu zählt bspw. die Reiz-Reaktions-Beziehung) sucht und deshalb von der entwicklungsgeschichtlichen Veränderbarkeit absieht, ist auf der physiologischen Ebene sinnvoll (vgl. Schurig, 1975a, 127). In der Modellierung solcher elementarer, unspezifisch-physiologischer Zusammenhänge der vierten Ebene unterhalb der im engeren Sinne psychologischen Ebene menschlicher Subjektivität könnte ein Beitrag des Konnektionismus bestehen. Bei einer solchen Modellierung ist die Einführung bestimmter Vereinfachungen, die für das angegebene Strukturschema gelten, unumgänglich. Konnektionistische Approximationsverfahren können vor allem die bei solchen Vereinfachungen angenommene Linearität des Reiz-Reaktionsablaufs, die eher einem Grenzfall als der normalen funktionellen Beziehung entspricht, überwinden. Dies deshalb, weil diese Verfahren die Modellierung afferenter Rückschaltungen vom ZNS auf die Peripherie ermöglichen. Die Rückschaltungen können zu Veränderungen der Reizschwellen führen, so daß komplizierte Rückkoppelungskreise entstehen. Die Verwandtschaft mit kybernetischen rückgekoppelten Regelkreisen, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren zur Beschreibung physiologischer Prozesse verwendet wurden, ist offensichtlich.
(7) Problematisch wird es jedoch, wenn versucht wird, diese unspezifisch-physiologische Ebene mit der für den Menschen spezifischen Ebene, d.h. der Ebene menschlicher Subjektivität, gleichzusetzen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen ist im vorgestellten Modell dort angesprochen, wo es um die Aufmerksamkeit, d.h. die subjektiv begründete Zuwendung geht. Dazu Ritter et al. (1991, 150):
(8) Hier wird versucht, einen spezifisch-psychischen Vorgang in der gleichen Weise zu erklären, wie dies bei unspezifischen Prozessen der Okulomorik möglich war: als bloßen physiologischen Prozeß. Auf unspezifisch-physiologischer Ebene findet jedoch kein subjektiv-intendierter Prozeß der Aufmerksamkeit statt. Diese unspezifische Ebene ist vielmehr eine materielle Voraussetzung, aufgrund derer Subjekte dazu fähig sind, sich einem von ihnen wahrgenommenen Gegenstand zielgerichtet zuzuwenden. Ob sie das tun, hängt jedoch davon ab, ob sie dazu gute Gründe haben. Diese Gründe liegen in ihren subjektiven Interessen an der Erweiterung der Verfügung über ihre Lebensbedingungen bzw. an der Abwehr von deren Beeinträchtigung. Dabei ist der Gegenstand, den ein Subjekt wahrnehmen will, auch nicht zufällig oder determininistisch vorgegeben, sondern wird ausgewählt in Abhängigkeit von der besonderen Prämissenlage, der emotionalen Befindlichkeit und dem Stand des vorher Erfahrenen, den Interessen etc. Auf unspezifisch-physiologischer Ebene kann nicht geklärt werden, wie ein Subjekt zu Aufmerksamkeitshandlungen kommt oder warum ein Gegenstand (oder Sachverhalt) bedeutsam wird[31].
(9) In einem derartigen Netzwerkmodell kann weder der Inhaltsbezug von Lernhandlungen noch deren subjektive Begründetheit in eigenen Lebens- und Verfügungsinteressen, also Subjektivität bzw. Intentionalität, abgebildet werden. Diese Beschränkung verdeutlicht sich aber auch in anderen Netzwerkmodellen, die sich auf eine für den Menschen spezifische Ebene beziehen. Wir wollen dies anhand des nächsten Anwendungsbeispiels verdeutlichen.
(10) Das Modell, das den Aneignungsprozeß von Vergangenheitsformen englischer Verben durch Kinder, die Englisch als Muttersprache erlernen, abbilden soll, geht auf Rumelhart und McClelland (1986) zurück. Die Autoren gehen zunächst davon aus, daß grammatikalisches Wissen implizit sei:
(11) Sie illustrieren diese Auffassung am Beispiel einer Honigwabe. Diese könne durch Regeln beschrieben werden, aber der Mechanismus, der diese produziere, enthalte keine Beschreibung der Regeln, wonach diese produziert werde. Das von ihnen entwickelte Modell
(12) Die ihrem Modell zugrundeliegende Auffassung geht von einer dreistufigen Aneignung der Vergangenheitsform englischer Verben durch Kinder aus. Im ersten Stadium benutzten Kinder nur eine geringe Anzahl von häufig gebrauchten Verben in der Vergangenheitsform, von denen die Mehrheit unregelmäßig sei (etwa came, got, gave, took, went). Die Kinder wendeten sie, sofern sie die Vergangenheitsform benutzten, in der Regel korrekt an. Die Anwendung der Regeln sei jedoch noch nicht offensichtlich. Im zweiten Stadium verdeutliche sich allmählich das implizite Wissen grammatikalischer Regeln. Kinder benutzten nun eine größere Anzahl von Verben in der Vergangenheitsform, wovon nur wenige unregelmäßig, die meisten dagegen aber regelmäßig seien (etwa wiped, pulled, looked). Der Umstand, daß ein Kind nun linguistische Regeln anwende, zeige sich zum einen daran, daß es die korrekte Vergangenheitsform für neu anzueignende Wörter bilde. Zum anderen daran, daß es die falsche Vergangenheitsform für Verben benutze, für die es im ersten Stadium die korrekte Vergangenheitsform benutzt hätte (etwa in der Weise, daß es an die richtige Vergangenheitsform von come, came, die Endung »ed« anfüge, also camed sage). Im dritten Stadium koexistierten regelmäßige und unregelmäßige Formen. Die Kinder hätten den Gebrauch der korrekten Vergangenheitsform unregelmäßiger Verben wieder zurückgewonnen, während sie weiterhin die regelmäßige Form für neu zu lernende Verben anwendeten. Die Autoren merken an, daß dieser Aneignungsprozeß gradueller Art sei, es keine scharfe Abgrenzung der verschiedenen Stadien gegeneinander gebe. Das Ziel der Simulation dieser dreiphasigen Aneignung der Vergangenheitsform besteht unter anderem darin,
(13) Die Struktur ihres Modells basiert auf einem Musterassoziierer, der direkt modifizierbare Verbindungen zwischen jeder Einheit der Ausgabeschicht und jeder Einheit der Eingabeschicht enthält. Jede Einheit repräsentiert (kodiert) ein besonderes Merkmal der Eingabe- oder Ausgabezeichenkette. Die Funktion des Musterassoziierers besteht nun darin, die Transformation kodierter Eingabedaten, die die Wurzelform der Verben repräsentieren, in kodierte Ausgabedaten vorzunehmen, die den entsprechenden Vergangenheitsformen der Verben entsprechen. Das im Rahmen dieses zweischichtigen Netzwerks angewandte Verfahren zur Approximation von erwarteter Ausgabe und Ausgabevektor ist die Perceptron Convergence Procedure, eine Vorläuferform des »Backpropagation«-Verfahrens. Da alle Parameter der Verbindungen direkt modifizierbar sind, ist es möglich, den aus dem Vergleich von Ausgabevektor mit der erwarteten Ausgabe resultierenden Fehler durch Optimierung der Parameter direkt zu minimieren, bis eine Übereinstimmung von erwartetem Wert und Istwert erfolgt (vgl. Ossen, 1990, 32f).
(14) Die Simulationsergebnisse des Musterassoziierers spiegeln nach Auffassung von Rumelhart und McClelland die drei Phasen des kindlichen Aneignungsprozesses wider. Da von der Annahme ausgegangen wird, daß Kinder in der ersten Phase nur eine geringe Anzahl von meistens unregelmäßigen Verben benutzen, werden im ersten »Simulationsstadium« lediglich zwei Musterpaare als Eingabedaten präsentiert, wovon eines ein Verb mit regelmäßiger Vergangenheitsform, das andere die Ausnahme von der Regel kodiert. Nach 20 Simulationsdurchläufen, die als »Lernerfahrung« bezeichnet werden, wird mit dem Approximationsverfahren eine nahezu 90%-ige Übereinstimmung von erwarteter Ausgabe und Ausgabevektor erzielt[35]. Dieses Ergebnis wird so gewertet, daß die vorwiegend korrekte Verwendung von Vergangenheitsformen der durch Kinder angeeigneten überwiegend irregulären Verben abgebildet werde. Im zweiten »Simulationsstadium« werden schließlich in Analogie zur Verwendung einer größeren Anzahl von vorwiegend regelmäßigen Verben durch Kinder in der zweiten Phase 18 Muster als Eingabedaten präsentiert, wovon die Mehrheit regelmäßige Verben kodiert und eines die Ausnahme, die bereits im ersten Stadium existierte. Nach 10 Simulationsdurchläufen wird mit dem Approximationsverfahren bei irregulären Verben ein schlechteres Resultat gegenüber dem ersten Stadium erzielt, während die Resultate bei den regulären Verben gut sind. Erst im dritten »Simulationsstadium«, d.h. nach 500 Durchläufen, sind durch die Approximation die Parameter derart eingestellt, daß das Netz von beiden Verbformen die korrekte Vergangenheitsform liefert. Das schlechtere Approximationsergebnis des zweiten Stadiums interpretieren die Autoren so, daß das Netz nun kontinuierlich mit »Lernerfahrungen« bombardiert werde, die durch die überwiegende Anzahl regelmäßiger Verben eine bestimmte Approximation erzwingen würden, was zu einer temporären »Überregularisierung« (»overregularization«) von Ausnahmen führe. Dies sei ein Prozeß, der ebenso bei Kindern dieser Phase zu beobachten sei, die durch Anwendung des grammatikalischen Regelwissens die reguläre Vergangenheitsform für irreguläre Verben anwendeten (also statt go goed oder statt came gar camed sagen). Das Simulationsergebnis im dritten Stadium, das nun gute Approximationsresultate für beide Verbformen liefert, wird als Abbildung der Koexistenz von beiden Verbformen und dem korrekten Umgang von Kindern mit ihnen gewertet.
(15) Die diesem Modell zugrundeliegenden Annahmen über individuelle Lernprozesse sind ebenso problematisch wie die Interpretation der Simulationsergebnisse. Letztere sind keine Widerspiegelung des Lernprozesses von Kindern (s.u.), sondern schlicht eine Widerspiegelung der Eigenschaften von Verben, regelmäßig oder unregelmäßig zu sein. Die Ergebnisse bestätigen lediglich den vorhandenen Unterschied zwischen diesen Verben, denn unregelmäßige Verben müssen anders approximiert werden als reguläre. Repräsentiert zudem der überwiegende Teil der Werte reguläre Verben, beginnt die Approximationsfunktion, sich zu sehr an diese Werte »anzuschmiegen«. »Überregularisierung« bedeutet demnach, daß die Approximation gegenüber neuen Werten, die irreguläre Verben repräsentieren, dann zu grob, der Fehler also zu groß ist. Erst nach weiteren Simulationen kann dieser minimiert werden, bis die Approximationsfunktion sich an alle Werte, auch an die Ausnahmen, angepaßt hat. Dieser Zusammenhang wird auch in den Aussagen der Autoren über die Vorteile des Musterassoziierers deutlich:
(16) Das Modell zeigt somit mitnichten die Charakteristika des zur Diskussion stehenden Aneignungsprozesses von Kindern, sondern, wie die Autoren selbst schreiben:
(17) Trotz dieser Erkenntnis werden die beschriebenen Approximationsprozesse nach dem Modus oberflächlicher Analogiebildung mit Prozessen der kindlichen Aneignung von Regeln zur Vergangenheitsbildung verglichen. Dabei wird jedoch lediglich zwischen einer »Theorie« und einer nach der »Theorie« formulierten Computersimulation verglichen. Selbst wenn die realen Abläufe im Computer als Vergleichsbasis herangezogen würden,
(18) Der Musterassoziierer ist genau eine solche Konstruktion nach der »Theorie«. Mit ihm wird nicht ein Ausschnitt der Praxis wirklicher Menschen simuliert. Die Simulation kann - wenn überhaupt - nur die äußerlich beobachtbaren Aspekte abbilden, die sich computergerecht in Form von E/A-Relationen algorithmisieren lassen. Die Verben, die hier in ihrer Vergangenheitsform als »Output« generiert werden, kommen nur aufgrund der nach der »Theorie« vorgegebenen Konstruktion zustande. Dieser »Output« ist demnach auch kein Nachweis für die empirische Geltung der »Theorie«, geschweige denn "... ein Schritt vorwärts zu einem besseren Verständnis der Sprachkenntnis, der Sprachaneignung und linguistischen Informationsverarbeitung im allgemeinen" (Rumelhart und McClelland, ebd., 268)[38]. Der Anspruch, daß der Musterassoziierer das Phänomen der Aneignung von Vergangenheitsformen von Verben durch Kinder simulieren und damit erklären bzw. verständlich machen soll, kann somit nicht eingelöst werden.
(19) Da sich die Simulation bestenfalls auf vom Außen- oder Drittstandpunkt (vgl. dazu auch Kap. 3.3., S._ und Kap. 3.4., S._) beobachtbare Phänomene bezieht, sind aus dem anvisierten psychologischen Gegenstand, dem Erlernen von Sprache, die entscheidenden Aspekte ausgeschlossen: so etwa die intentionalen, emotional-motivationalen Aspekte des Lernprozesses. Erst die daraus resultierende Netzwerkkonstruktion läßt eine oberflächliche Analogiebildung zu. Sie hat jedoch dann nichts mehr mit der Erscheinungsvielfalt des kindlichen Lernprozesses zu tun. Würde man versuchen, intentionale und emotional-motivationale Aspekte des Lernprozesses durch das Hinzufügen neuer »Parameter« dennoch modellieren zu wollen, würde nur die Anzahl der Variablen erhöht, der Erscheinungsvielfalt menschlichen Lernens wäre man auch dadurch nicht näher gerückt, da eine deterministische Netzwerksimulation grundsätzlich alle subjektiven Aspekte ausschließt.
(20) Die prinzipielle Beschränkung von Abbildungsmöglichkeiten »Neuronaler Netzwerke« wollen wir verdeutlichen, in dem genauer auf das Sprachverständnis und die -benutzung von Kindern eingehen. Wenn man sich mit Sprache befaßt, ist es wichtig, zwischen lautlich-kommunikativem und begrifflich-symbolischem Aspekt zu unterscheiden. Im dargestellten Modell kindlicher Sprachaneignung wird vor allem der begrifflich-symbolische Aspekt der Sprache thematisiert. Kinder eignen sich Sprache über die Bedeutung der Sprachsymbole, der Begriffe, an. Dabei muß das Kind nicht nur die Brauchbarkeiten der Dinge ("Stuhl": zum-drauf-sitzen), sondern auch die Tatsache der Hergestelltheit der bedeutungsvollen Dinge erfassen (vgl. Holzkamp, 1983a, 449). Das Kind muß also im Prinzip verstanden haben, daß Dinge hergestellt werden ("Stuhl": gemacht-zum-drauf-sitzen). Es muß demnach den Übergang von der Erfahrung seines eigenen Machens - als bloßer Einwirkung auf die Realität - zur Aneignung des Aktivitäts-Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs, der in den Bedeutungskonstellationen objektiv enthalten ist, vollzogen haben (vgl. Kap. 4.2, S._). Erst dadurch kann das Kind realisieren, daß in seiner Umgebung Mittel vorhanden sind, mit denen man in verallgemeinerter Weise bestimmte Effekte erreichen kann, weil sie dafür gemacht worden sind. Damit wären die in den Bedeutungsstrukturen enthaltenen Vereindeutigungen, Abstraktionen und Verallgemeinerungen im individuellen Denken umsetzbar und die Beschränkung des Sprachverständnisses und Sprechens auf deren lautlich-kommunikative Funktion überwindbar.
(21) Sprachaneignung und - benutzung sind somit wesentlich unterbestimmt, werden sie lediglich auf die Aneignung und Benutzung grammatikalischer Regeln zur Bildung von Vergangenheitsformen reduziert und damit ihrer Bezogenheit auf gegenständliche Bedeutungen beraubt. Sprachaneignung und -benutzung erscheinen zudem so als subjektiv sinnentleerter Prozeß, völlig losgelöst vom subjektiven Interesse des Kindes, seine Verfügungsmöglichkeiten über seine Lebensbedingungen zu erweitern. Indem (grammatikalisch) regelhaftes »Verhalten« durch einen nicht weiter erklärten »Mechanismus« scheinbar begründet und dieser »Mechanismus« zudem mit dem des Aufbaus einer Honigwabe verglichen wird, erscheint kindliches Sprachverständnis und Sprechen im wesentlichen biologisch präformiert: Auch die Bienen »kennen« keine »Bauregeln«, dennoch »besitzen« sie offensichtlich einen »Mechanismus«, der sie Waben bauen läßt. Man trifft aber in der individuellen Entwicklung niemals auf »stumme Entwicklungspotenzen« als solche, sondern immer auf mehr oder weniger spezifische Formen der Realisierung der artspezifisch-biologischen Potenzen (beim Menschen die Gesellschaftlichkeit) in Aktivitäten, die darauf gerichtet sind, Verfügung über die Lebensbedingungen zu bekommen. Gerade mit der Herausbildung der prinzipiellen Möglichkeit des Kindes zur Aneignung verallgemeinerter Bedeutungen ist eine Erweiterung seiner Möglichkeiten erreichbar, da es beim Lernen des bedeutungsadäquaten Gebrauchs der Dinge sich die darin vergegenständlichten besonderen, mit deren Herstellung beabsichtigten Brauchbarkeiten zunutze machen kann. Dies schließt ein, daß das Kind andere und sich selbst schon prinzipiell als Wesen erfährt, die Gründe für ihre Aktivitäten haben, die ihm nun aber auch inhaltlich verständlich werden.
(22) Die Realisierung von Bedeutungen als verallgemeinerte Brauchbarkeiten sowie die Herausbildung der Ebene subjektiv funktionaler, allgemein verständlicher Handlungsgründe sind die Basis, aufgrund der das von den Autoren beschriebene Phänomen der kindlichen Aneignung von Vergangenheitsformen von Verben eher erklärt werden kann. So mag ein Kind mit der Erfahrung von Zeitlichkeit zugleich die Erfahrung gemacht haben, daß die Mehrheit von Verben, die andere, vor allem Erwachsene, begründetermaßen zur Beschreibung ihrer Aktivitäten benutzen, eine regelmäßige Struktur haben. Es kann deshalb auch gute Gründe für die Annahme haben, daß alle Vergangenheitsformen von Verben so enden, so daß es hier zu einer unzulässigen Verallgemeinerung von Erfahrungen kommt. Erst aufgrund einer wachsenden Verfügung über seine Lebensbedingungen, die begrifflich-symbolische Differenzierungsprozesse einschließt, kann es dann diese schematische Anwendung von Regeln zunehmend überwinden.
(23) Nach allem läßt sich somit sagen, daß selbst da, wo Versuche gemacht werden, menschliche Subjektivität abzubilden, diese, will man sie mittels Simulationsverfahren erfassen, in jedem Fall eliminiert wird. Mit diesen Verfahren können weder Bedeutungen noch inhaltlich-bedeutungsbezogenes Handeln geschweige denn subjektive Handlungsgründe abgebildet werden, so daß der zentrale Beitrag des Konnektionismus im wesentlichen unterhalb des Spezifitätsniveaus menschlicher Handlungsfähigkeit, also auf unspezifisch-physiologischer (vierte Ebene unseres Modells) oder unspezifisch-physikalischer Ebene, liegt. Selbst die dritte Ebene unspezifisch-menschlicher Prozesse ist mit »Neuronalen Netzen« solange nicht sinnvoll modellierbar, wie das Verhältnis von unspezifischer Funktion und biologischer Spezifik (der Tatsache, daß es um Menschen geht) ungeklärt ist.
(24) [31] Sämtliche modellimmanente Kritik (etwa: Gegenstände als Punkte zu modellieren etc.) haben wir hier unberücksichtigt gelassen. Ebenfalls nicht problematisiert haben wir, ob die Spezifik des neurophysiologischen Gegenstands erhalten oder etwa begrifflich schon computerförmig so zugerichtet worden ist, daß die Simulation nur noch das bestätigt, was kategorial schon vorgegeben war. Ein dritter, nicht ausgeführter Kritikbereich betrifft die Ergebnisse der Simulation, die man ohne neurophysiologischen Rahmen schlicht als Funktionen zur Berechnung des radialen Abstands von einem Zentrum bezeichnen könnte. Ritter et al. (1991, 167) sprechen von "Eingabe-Ausgabe-Relationen in Form adaptiv organisierter Tabellen" und stellen fest, daß - im Vergleich zu Messungen an Versuchspersonen - "unser Modell ... viel zu »gut« (lernt) ... (und) unsere Sakkaden genau in die Fovea" (ebd.) treffen.
(25) [32] Engl. Originalfassung: "We suggest that lawfull behavior and judgments may be produced by a mechanism in which there is no explicit representation of the rule. Instead, we suggest that the mechanisms that process language and make judgments of grammaticality are constructed in such a way that their performance is characterizable by rules, but that the rules themselves are not written in explicit form anywhere in the mechanism."
(26) [33] Engl. Originalfassung: "... learns in an natural way to behave in accordance with the rule, mimicking the general trends seen in the acquisition data".
(27) [34] Engl. Originalfassung: "... to show that the kind of gradual change characteristic of normal acquisition was also a characteristic of our distributed model".
(28) [35] Wir verwenden die passive Beschreibungsform ("Mit Hilfe des Netzes wird ... erzielt"), während Rumelhard und McClelland durchgängig so schreiben, als ob das Netz selbstaktiv die Resultate erreicht ("Das Netz erzielt ...").
(29) [36] Engl. Originalfassung: "... if there is a predominant regularity in a set of patterns, this can swamp exceptional patterns until the set of connections has been acquired that captures the predominant regularity. Then further, gradual tuning can occur that adjusts these connections to accomodate both the regular patterns and the exception" (ebd., 233).
(30) [37] Engl. Originalfassung: "It is statistical relationship among the base forms themselves that determine the pattern of responding. The network merely reflects the statistics of the featural representations of the verb forms" (ebd. 267).
(31) [38] Engl. Originalfassung: "... a step toward a revised understanding of language knowledge, language acquisition, and linguistic information processing in general" (Rumelhart und McClelland, ebd., 268).
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