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Von alternativen Schulen und kulturellem Privileg

Maintainer: Benja Fallenstein, Version 2, 16.09.2002
Projekt-Typ: halboffen
Status: Archiv

1. Einleitung

(1) Schon seit einigen Jahren beschäftige ich mich mit Alternativen zu unserem Schulsystem-- mit alternativen Schulen und mit Alternativen zur Schule.

(1.1) Re: 1. Einleitung, 16.09.2002, 10:36, Andreas ??: Ich habe meine 13 Schuljahre in total unterschiedlichen Schultypen verbingen müssen: Von der Zwergschule auf dem flachen Land (1.-8. Klasse in einem Schulraum),über Gymi,Gesamtschule bis zur Odenwaldschule ( http://www.odenwaldschule.de/frsets/konzFr.html ). Meine grundsätzliche Abneigung gegen die Schule als Ort des Lernens konnte mir allerdings keiner diese Schultypen nehmen. Allerding waren in der integr. Gesamtschule Ende der 70iger und in der Odenwaldschule die Bedingungen am un-lästigsten.

(2) Elf Jahre meines Lebens habe ich an der Laborschule Bielefeld [http://www.laborschule.de/] verbracht, die von den einen wegen ihrer reformpädagogischen Ansätze interessiert betrachtet wird und bei den anderen für ihre 'Kuscheleckenpädagogik' verschrien ist. Der ideale Ort also, um sich mit alternativen Schulen zu beschäftigen, da man ja gleich mit sich selbst anfangen konnte?

(3) Für mich nicht: Der Grund *meines* Interesses war eine große Unzufriedenheit mit dem schulischen Alltag, der-- zumindest in den höheren Jahrgängen-- die typisch schulische Langeweile so produziert wie wohl fast alle Schulen. Ich sehnte mich einerseits nach anderen Alternativschulen, wie zum Beispiel Summerhill [http://www.s-hill.demon.co.uk/], und andererseits nach den ersten Jahren an der Laborschule, in denen es-- meiner Erinnerung nach-- möglich war, selbstbestimmt zu arbeiten. In der "Arbeitszeit" (Bambach 1989), für die jeden Tag mindestens 90 Minuten zur Verfügung standen, durften wir uns im 3. und 4. Schuljahr z.B. völlig selbstständig und nicht von der Lehrerin angeregt ein Computerspiel ausdenken (das nie im Computer umgesetzt wurde).

(4) Inzwischen bin ich an einer anderen Schule. Meine Gedanken zur Schule haben sich weiterentwickelt. Ich habe von der Sudbury Vally School [http://www.sudval.org/, http://www.demokratische-schule.de/] gehört, die die Freiheit des Lernens mit der Regel absichert, dass Unterricht nur dann zustande kommt, wenn SchülerInnen das ausdrücklich verlangen [http://www.demokratische-schule.de/grundsaetze.htm]. Ich habe mich mit dem Improvisationstheater beschäftigt und mit der Frage, ob es helfen kann, die Langeweile im Schulunterrricht zu überwinden (Vogel, Koßmann Gültekin und Fallenstein, 2002). Ich habe mich mit dem Projekt Oekonux [http://www.oekonux.de/] beschäftigt, das sich u.a. mit der Utopie einer auf Selbstentfaltung beruhenden Gesellschaft auseinandersetzt (Meretz 2000). All diese Ansätze beschäftigen sich mit Schul- und Lebensformen, die sich gegen die bestehenden Zwänge wenden, mehr Freiwilligkeit einfordern.

(5) Gleichzeitig sind mir, während meine Laborschulzeit in die Ferne rückt, manche Probleme von damals nicht mehr so bewusst wie sie es einmal waren. Das hat mich dazu gebracht, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nicht meine Erinnerungen an die Eingangsstufe ähnlich romantisiert sind wie meine jetzigen Erinnerungen an die letzten Laborschuljahre es sind-- und meine Außenwahrnehmungen von freiheitlichen Schulprojekten vielleicht ähnlich wie reformpädagogische Außenwahrnehmungen der Laborschule.

(6) Dieser Text ist im Rahmen eines Kurses entstanden, in dem alle TeilnehmerInnen eine Zeit lang in einem 'Praxisbereich' eigene Nachforschungen anstellen sollten. Das habe ich dazu genutzt, um meine Erinnerungen zu überprüfen, in dem ich ein mehrwöchiges Praktikum im 3. Schuljahr meiner ehemaligen Klassenlehrerin, Heide Bambach, machte. Dieses Praktikum ist letztlich nicht wirklich wissenschaftliche Forschung gewesen, weil mir gar nicht klar genug war, welche Beobachtungen für mich wichtig sein würden, um mir vorher exakte Fragen auszudenken. Es hat mir aber eine Möglichkeit gegeben, meine Erinnerungen aufzufrischen-- und festzustellen, dass die Freiheit doch wesentlich eingeschränkter ist, als ich sie in Erinnerung hatte, gleichzeitig aber sehr wohl größer als z.B. in den höheren Jahrgängen der Laborschule.

(7) Einige Wochen nach dem Praktikum ist mir Wie die Kultur zum Bauern kommt von Pierre Bourdieu (2001) in die Hände gefallen, eine Sammlung von Essays "über Bildung, Schule und Politik", in denen der Autor argumentiert, durch die äußere Gleichberechtigung (im Sinne von Gleichbehandlung) von SchülerInnen ohne Berücksichtigung unterschiedlicher sozialer Milieus würden faktisch Kinder aus akademischem Elternhaus bevorzugt, da sie durch ihre Sozialisation weit bessere Vorbedingungen mitbrächten. Bourdieu belegt dies an beeindruckenden empirischen Zahlen, etwa, dass der Anteil der Kinder von höheren Angestellten und FreiberuflerInnen bei der "häufig wegen ihrer 'demokratischen' Rekrutierung angeführten" französichen École Normale Supérieure, einer auf Lehrerbildung spezialisierten Grande École, bei ganzen 54% liegt (ebd., S. 25).

(8) Bourdieu zeigt auf, wie die Schule ihre Bevorzugung der Kinder aus gebildetem Elternhaus verbirgt: indem die Fähigkeiten, die nur ein Teil der SchülerInnen durch ihre Sozialisation mitbringt (etwa, sich gewandt ausdrücken zu können und dabei nicht bemüht zu klingen; siehe ebd., S. 41ff), als 'Begabung' betrachtet, kommt sie darum herum, sie dem Rest beizubringen und kann sie, etwa in universitären Aufnahmeprüfungen, trotzdem voraussetzen. Gleichzeitig wird die 'Begabung' den Kindern aus privilegiertem Elternhaus auch von allen Seiten (LehrerInnen, Eltern und Kindern gleichermaßen) eher zugeschrieben; bleibt ein Kind aus einem ArbeiterInnen-Elternhaus sitzen, zeigt sich daran, wie schlecht es in der Schule ist; bleibt ein Kind aus einem AkademikerInnen-Elternhaus sitzen, zeigt sich daran, dass es in diesem Jahr ein wenig faul war und es sich im nächsten Jahr mehr anstrengen muss, damit es sich die Aufnahme in die Universität nicht verspielt.

(9) Doch mehr: Diese pädagogische Tradition, die sich unter dem Vorwand der Chancengleichheit nur an die Kinder der Gebildeten wende, vermittele nicht nur die notwendigen Fähigkeiten nicht, sondern "neigt auch noch dazu, die auf dieses Ziel gerichteten pädagogischen Praktiken als primitiv und vulgär, ja paradoxerweise 'schulmäßig' abzutun" (S. 39). Ein Beispiel folgt auf dem Fuße: "Man müsste sich auch nach den Funktionen fragen, die der heilige Schrecken vor dem Pauken, im Unterschied zur 'Allgemeinbildung', für die Gymnasiallehrer und die Angehörigen der gebildeten Klasse erfüllt" (S. 40).

(10) Nachdem ich Boudieus Text bis dahin voller Interesse und Zustimmung gelesen hatte, musste mich diese Bemerkung natürlich nachdenklich stimmen. Ist 'Pauken' nicht der Extremausdruck von dem, was ich mit meinen Gedanken über alternative, wogegen sich meine Gedanken über auf Freiwilligkeit basierende Schul- und Lebensformen wenden? Sollte meine eindeutige Einstellung für freiwilliges Lernen am Ende hauptsächlich Ausdruck meines eigenen kulturellen Voraussetzungen sein? Würde, mit anderen Worten, ein auf Freiwilligkeit aufbauendes Schulsystem, sollte es jemals zum Mainstream werden, *noch mehr* als das gegenwärtige den Effekt haben, Klassenunterschiede aufrecht zu erhalten?

(11) Diese Frage verdient es, genauer betrachtet zu werden. Darum also soll es in diesem Text gehen. -- Im zweiten Abschnitt stelle ich dazu die Sudbury Valley School und zwei andere auf der Freiwilligkeit basierende Schulen vor; im dritten Abschnitt fasse ich die Ergebnisse meines Praktikums an der Laborschule zusammen; im vierten Abschnitt diskutiere ich vor diesem Hintergrund die o.g. Fragestellung, und im fünften Abschnitt ziehe ich ein Resümee.

2. Sudbury, Summerhill und Cuernavaca

(12) Die Summerhill School in England, gegründet 1921, das (so nicht mehr existierende) Centro Intercultural de Documentacion (CIDOC) in Cuernavaca, Mexiko, gegründet 1960, und die Sudbury Valley School in den USA, gegründet 1968, sind Schulen, die auf dem Prinzip der Freiwilligkeit des Lernens aufgebaut sind. Hentig (1971: 17) formuliert es für das CIDOC so: "[D]ieses Zentrum und diese Schule [...] ist das praktische Exempel seiner theorischen Grundmaxime: daß Lernen nur in völliger Freiwilligkeit gelingt-- wenn der Lernende sich den Gegenstand, die Gelegenheit und den Lehrer selbst wählen kann."

(13) In Summerhill wird dieses Prinzip dadurch umgesetzt, dass ein Angebot an Unterrichtsstunden seitens der LehrerInnen besucht werden *kann*, aber nicht *muss* [http://www.s-hill.demon.co.uk/freedom.htm]. Zum CIDOC (das unter den drei aufgezählten Einrichtungen insofern 'aus der Reihe fällt', als es für die Erwachsenenbildung konzipiert ist), konnte jedes LehrerIn und Lernendes sein: wer immer mochte, konnte einen Kurs anbieten, der zustande kam, wenn es genug StudentInnen fand, die bereit waren, dafür zu zahlen. Die Sudbury Valley School dreht die Verhältnisse um, indem sie darauf besteht, dass nicht die LehrerInnen Angebote machen, sondern Unterricht nur statt findet, wenn SchülerInnen ihn zu einem bestimmten Thema explizit wünschen.

(14) Funktionieren diese Schulen?-- Ja; das heißt, nun ja; es kommt darauf an, was man unter 'funktionieren' versteht. AbsolventInnen von Summerhill und der Sudbury Valley School haben Abschlüsse gemacht und unterschiedliche erfolgreiche Karrieren gemacht, ob nun als HandwerkerInnen oder an der Universität. SchülerInnen dieser Schulen berichten oft zufrieden von ihrer Schule (z.B. [http://www.sudval.org/8.html, http://www.s-hill.demon.co.uk/intervw.htm]). Und Summerhill hat kürzlich durch ein Gerichtsverfahren seine Schließung verhindert, indem es durchsetzte, dass die SchulinspekteurInnen die Lehrmethoden nicht nur beobachten, sondern auch die SchülerInnen nach ihrer Meinung fragen muss [http://www.s-hill.demon.co.uk/NewOrleans.htm].

(15) Andererseits: wenn man Funktionieren versteht im Sinne der Frage, ob die SchülerInnen das im staatlichen Curriculum geforderte Wissen besitzen, so ist klar, dass diese Schulen nicht unbedingt werden mithalten können. In einem System, in dem bestimmtes Wissen zur Pflicht gemacht wird, ist es kein Wunder, wenn mehr Kinder dieses Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt beherrschen, als in einem System, in dem es ihnen freigestellt ist, es zu lernen, wenn und falls sie das wünschen. Aber wenn Summerhill-SchülerInnen im britischen Vergleich überdurchschnittlich viele Abschlüsse machen [http://www.s-hill.demon.co.uk/hmi/myths.htm], ist das wohl nicht einmal dann ein Argument, wenn man die Maßstäbe des konventionellen Schulsystems anlegt.

(16) (Wobei natürlich in Bezug auf das "überdurchschnittlich" zu bedenken ist, dass Summerhill eine Privatschule ist und sich durch Studiengebühren finanziert-- es *wäre* möglich, dass durch diese von der Schule nicht gewollte, aber nicht zu verhindernde Bevorzugung finanziell privilegierter Familien die SchülerInnen auch ein dem Querschnitt der britischen Bevölkerung nicht entsprechendes kulturelles Privileg mitbringen.)

(17) Wenn ich sage, diese Schulen 'funktionieren', dann heißt das natürlich nicht, dass es keine Probleme gibt. Es heißt auch nicht, dass alle Kinder zu diesen Schulen 'passen'. Es gibt durchaus Problemfälle; Greenberg [http://www.sudval.org/texts/clearer.html] erklärt verschiedene Probleme, die Kinder mit der Sudbury School haben, mit den Erwartungen der Eltern oder ihrer bisherigen Erziehung, und Lundbech [http://www.demokratische-schule.de/texte2.htm#Der%20Uebergang%20zur%20Freiheit] teilt die Eingewöhnung eines 'typischen' Kindes in eine Sudbury-ähnliche Schule (sie arbeitet an der Red Cedar School [http://www.redcedarschool.com/] in Vermont, USA) in verschiedene Phasen ein, und bemerkt, das Eltern immer wieder Kinder von der Schule nähmen, wenn sich diese Phasen immer weiter in die Länge zögen. Ich finde diese Erklärungen sehr plausibel, aber andererseits gibt es natürlich keine *Beweise*, dass die selben Kinder die 'Phasen' der Eingewöhnung doch irgendwann überwinden würden, dass sie mit einer anderen Erziehung oder weniger Erwartungen von Elternseite besser in der Sudbury School klarkämen.

(17.1) Probleme sind v.a. Probleme des Übergangs, 16.09.2002, 11:50, Martin Wilke: Die Gewöhnung an Lernfreiheit betrifft aber nur jene Schüler, die zuvor eine traditionelle Schule besucht haben. Schüler, die im wesentlichen von Anfang an über ihr Lernen selbst bestimmen konnten, brauchen sie ja nicht erst einzugewöhnen.

(17.1.1) Re: Probleme sind v.a. Probleme des Übergangs, 17.09.2002, 07:44, Benja Fallenstein: Ja, das stimmt natürlich! Danke für die Korrektur!

(18) Wie dem auch sei, für mich sind Summerhill, CIDOC und insbesondere die Sudbury School Inbegriffe meiner Vorstellung einer menschlichen Schule geworden. Das, was mich an *meinen* Schulen oft zur Verzweiflung getrieben hat und treibt, nämlich zum wütend schreien langweilen 'Unterricht' ertragen zu müssen, ohne dass ich eine Wahl habe, und Aufgabendruck, der mich manchmal zur absoluten Verzweiflung bringen kann (s.u.), das scheinen sie aus der Außenperspektive abzuschaffen. Auch wenn es nach meinen Erfahrungen mit der Laborschule gerechtfertigt ist, der Selbstdarstellung der Schulen kritisch gegenüberzustehen, kommt es mir doch so vor, als ob diese Schulen ihre Versprechen wirklich erfüllen (bzw. erfüllt haben).

(18.1) "Zeugen" befragen, 16.09.2002, 11:51, Martin Wilke: In der "Sudbury_Germany"-egroup [http://groups.yahoo.com/group/Sudbury_Germany/] sind derzeit mindestens eine Schülerin einer Sudbury School sowie der Vater eines Sudbury-Valley-Schülers eingetragen. Bei Bedarf kann man also mal nachfragen.

(19) Es ist vielleicht noch wichtig zu erwähnen, dass 'Freiheit', auf der diese Schulen basieren, nicht dass Missachten der Rechte eines anderen bedeuten kann. Sowohl die Sudbury School als auch Summerhill haben einen großen Katalog von demokratisch beschlossenen Regeln, um das zu gewährleisten; die Summerhill School legt besonderen Wert darauf, dass 'freedom' nicht 'license' zum Belästigen anderer ist [http://www.s-hill.demon.co.uk/freedom.htm]. Eigentlich finde ich das selbstverständlich, und habe mich sehr wohl gefragt, ob all diese Regeln mit Strafandrohung (wie etwa, "eine Woche nicht ins obere Stockwerk gehen") wirklich notwendig sind. Aber in Erinnerung an einen teilweise furchtbaren Abschnitt meiner Kindergartenzeit, in der die einzige fest angestellte Erzieherin einer Elterninitiative uns oft einfach sagte, wir sollten Konflikte doch bitte irgendwie selbst regeln (egal wie), ist es wohl doch wichtig, das zu betonen und die Regeln zu machen.

3. Laborschule

(20) Während meinem Praktikum in der Malve 3 in der Laborschule sind mir vor allem zwei Dinge sehr deutlich geworden: das System von 'Pflicht' und 'Kür', das mir so präsent nicht mehr war, und zentrale Rolle der Klassenlehrerin. (Beides, sollte ich anmerken, bezieht sich auf den Stil dieser Lehrerin und nicht unbedingt auf die ganze Laborschule-- aber da ich im 3. und 4. Schuljahr von der selben Lehrerin unterrichtet worden bin, ergibt sich trotzdem der nützliche Vergleich zwischen Erinnerung und Neu-Erleben.)

(21) In der eingangs erwähnten freien Arbeitszeit können sich die SchülerInnen ihre Zeit im Grundmodell frei einteilen-- müssen allerdings bestimmte 'Pflichten' erledigen, die durch die Lehrerin individuell festgelegt werden. Wenn sie z.B. während des gleitenden Anfangs zwischen 8:00 und 8:30, dem Anfang des formellen Unterrichts, ihre 'Pflicht' für einen bestimmten Tag bereits erledigt haben, können sie während der Arbeitszeit anderen Beschäftigungen nachgehen, der 'Kür'. Darunter fallen beliebte Tätigkeiten wie etwa das Schreiben von eigenen Geschichten und das Bearbeiten von 'Themenheften', in denen die SchülerInnen Zeitschriftenausschnitte, selbstgemalte Bilder und eigene Texte zu einem bestimmten Thema zusammentragen. Die Lehrerin sorgt dafür, dass die Pflicht nicht Überhand nimmt, die SchülerInnen also zu ihren selbstgewählten Tätigkeiten kommen, andererseits aber die unbeliebteren Dinge wie das Lösen von Rechenaufgaben nicht zu kurz kommen.

(22) In der Praxis ist eingeschränkt, was 'Kür' bedeuten kann. So ist etwa draußen (oder auch drinnen) spielen keine Arbeitszeit-Tätigkeit, auch nicht für die Kür; dafür gibt es die Pause, und andere Phasen des Draußenseins. Grenzfälle entscheidet die Lehrerin nach jeweiligem Ermessen; so ist etwa die Beschäftigung mit Pokémon (sei es z.B. das Zeichnen von Pokémon oder das Unterhalten darüber) mal erlaubt, mal nicht: auf der einen Seite möchte Heide Bambach ihnen die Beschäftigung damit erlauben, auch in der Hoffnung, sie darüber zum Zeichnen oder Schreiben zu bringen, auf der anderen Seite hat sie die Befürchtung, dass die Kinder sich nur noch damit beschäftigen und gedanklich zu nichts anderem mehr kommen. Einmal während meiner Praktikumszeit spricht sie für einen Vormittag lang ein Verbot aus, über Pokémon zu reden (bis zur Pause); und wenn das nicht eingehalten werde, "dann spreche ich mit euren Eltern und dann verbieten sie es euch ganz." Später habe ich sie auf diese Aussage angesprochen; das sei natürlich Blödsinn gewesen, eine dumme Reaktion, aus der Sorge heraus, das Verbot nicht durchsetzen zu können, denn ein früheres, ähnliches Verbot für einen Vormittag sei nicht eingehalten worden.

(23) An diesen Beispielen zeigt sich der andere in meiner Erinnerung nicht mehr so scharfe Teil: wie sehr nämlich sich das Geschehen in der Klasse um die Lehrerin konzentriert; sowohl gibt sie in den meisten Fällen die Richtung vor, in die etwa ein Gespräch der ganzen Klasse geht, als auch trifft sie in allen Fragen die Entscheidung, wie etwa: was darf wann gemacht werden? Welche Strafen (z.B.: eine Woche keine Benutzung der Kissen nach einer Kissenschlacht) werden über wen verhängt? Wann ist jemand in einer Runde schon zu oft mit dem Reden dran gewesen und muss lernen, sich auch mal zurückzuhalten?

(24) Das Bild, das sich dadurch ergibt, ist ein gespalteneres als das meiner Erinnerung (zumindest meiner Erinnerung, bevor sie durch das Praktikum wieder aufgefrischt wurde). Auf der einen Seite haben die Kinder natürlich, verglichen mit den Kindern anderer Schulen, viele Freiheiten. Es ist z.B. selbstverständlich, dass sie sich in der 'Kür' ihre eigenen Beschäftigungen ausdenken können, solange diese in den grob definierten Rahmen der 'Arbeitszeit' (also 'Arbeit') passen. Es ist auch klar, das Spiel und spielerische Tätigkeiten zum Alltag gehören und wichtig sind.

(25) Andererseits soll gelernt werden, dass Spiel nur ein Teil des Lebens sein kann und Arbeit auch notwendig ist. Rechenaufgaben müssen gemacht werden, auch wenn sie für ein Kind eine furchtbar langweilige Plage sind, denn schließlich sind diese Fähigkeiten ja notwenig. Die (langweilige) 'Pflicht' muss absolviert werden, um zur 'Kür' kommen zu dürfen, und die 'Kür' ist eingeschränkt auf das, was irgendwie 'ernsthafte' Beschäftigung und nicht nur Spiel ist. Da gefällt mir die kompromisslose Haltung der oben genannten Schulen, vor allem natürlich der Sudbury School, wesentlich besser. Was für die SchülerInnen langweilig ist, weil es nicht aus ihrem eigenen Interesse heraus kommt, gehört meiner Meinung nach abgeschafft.

(26) Ich habe Heide natürlich auf diese Überlegungen angesprochen. Sie hat mir erklärt, ein Ansatz wie der der Sudbury School sei an einer staatlichen Schule wie der Laborschule gar nicht zu machen: wegen der staatlichen Kontrolle, aber auch wegen den Forderungen der Eltern. Bereits ihr Ansatz sei schwierig genug durchzusetzen; oft genug machten Eltern Druck, dass ihre Kinder z.B. mehr Mathematik oder Rechtschreibung lernen sollten. Außerdem müssten beim Übergang ins 5. Schuljahr bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Sie bemühe sich, den Kindern dabei so viel Zeit zu lassen, wie sie brauchten, aber es sei in diesem System doch notwendig, die oft langweiligen 'Pflicht'-Aufgaben zu haben.

(27) Ob sie in einem anderen System, in dem diese Zwänge nicht herrschen, anders unterrichten würde, überlegt sie. Sie weiß es nicht. Offensichtlich sieht sie die Schwierigkeiten ihres Systems, meint aber andererseits, dass es auch wichtige Vorteile hat-- etwa, durch die Forderung nach irgend einer Form der konzentrierten Arbeit in der Arbeitszeit die Konzentrationsfähigkeit zu fördern. Jemand von der Sudbury School würde ihr sicherlich mit dem Argument widersprechen, solche Fähigkeiten bildeten sich bei den SchülerInnen seiner Schule auch aus, tatsächlich sei zu erwarten, dass sie bei einem in völliger Freiheit und Selbstverantwortung aufgewachsenen Kind besser ausgebildet seien als bei einem in Teil-Zwang aufgewachsenen Kind.

(28) Ich würde mich dieser Argumentation anschließen, weiß aber gleichzeitig, dass ich noch nie eine solche auf völliger Freiwilligkeit basierende Schule besucht habe und nicht sagen kann, wie deren Realität von innen aussieht.

(29) Im Lichte der in der Fragestellung aus der Einleitung wäre es interessant gewesen, wenn ich während meines Praktikums mehr auf die Unterschiede im kulturellen Hintergrund der Kinder geachtet hätte. Die Laborschule wäre dafür durchaus ein interessantes Feld gewesen, da sie einen Aufnahmeschlüssel besitzt, nach dem die aufgenommenen Kinder sich möglichst genau in dem Verhältnis in Ober-, Mittel- und Unterschicht aufteilen sollen, nach denen dies die Gesamtbevölkerung in der Region tut [http://www.laborschule.de/daten.html]. Interessant zu fragen wäre dann gewesen, ob die Unterschiede der Laborschule z.B. zur Sudbury School auch das Ziel haben, die von Bourdieu aufgeworfenen Probleme zu behandeln, und ob es Hinweise darauf gibt, dass diese Taktik Erfolg zeigt.

(30) Aber die Frage hat sich mir zu diesem Zeitpunkt so noch nicht gestellt, und also habe ich während meines Praktikums diesem Problemfeld auch wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

4. Diskussion

(31) Kommen wir nun zur eigentlichen Fragestellung: Würde ein auf Freiwilligkeit aufbauendes Schulsystem, sollte es jemals zum Mainstream werden, *noch mehr* als das gegenwärtige den Effekt haben, Klassenunterschiede aufrecht zu erhalten?

(32) Bourdieus Argumentation verläuft so: Die Schule bemüht sich nicht, den Kindern, die sie nicht aus ihrem Elternhaus mitbringen, die Fähigkeiten zu vermitteln, die in unserer Gesellschaft als Zeichen von Intelligenz geschätzt werden, etwa eine sprachlich gewandte Ausdrucksweise oder ein ausgebildeter Kunstgeschmack. Aber nicht nur bemüht sie sich nicht; sie wertet auch Lerntechniken, in denen das Lernen explizit und mit Mühsal verbunden stattfindet (also etwa das 'Pauken') als minderwertig ab. Die Fähigkeiten sind nur dann gut, wenn sie 'angeboren' sind; wer 'fleißig' sein muss, um sie zu erwerben, ist offensichtlich nicht begabt, also nicht so intelligent wie dasjenige, dem 'alles zufliegt'; 'Pauken' ist verpöhnt, denn wer 'pauken' muss, ist nicht begabt und hat es also gar nicht verdient, eine höhere Ausbildung zu erhalten. (Das erinnert daran, wie gute schulische Leistungen je nach sozialem Geschlecht unterschiedlich bewertet werden: "Die im Schnitt besseren schulischen Leistungen der Mädchen werden allgemein ihrem Fleiß und ihrer Bravheit zugeschrieben, nicht aber ihrer Intelligenz und Begabung. Jungen dagegen sind eben nur frech und faul, gelten aber trotzdem als intelligent und begabt. So lernen Mädchen in der Schule, an ihrer Begabung zu zweifeln, Jungen dagegen, sich für begabt zu halten."-- Die Frauen 2002, Punkt 11.) Tatsächlich ist diese 'Begabung' natürlich ein Resultat gesellschaftlicher Sozialisation, denn wie wäre sonst zu erklären, dass ein so viel größerer Teil der Kinder gebildeterer Eltern 'begabt' sind als der Kinder weniger gebildeter Eltern?

(33) Weitergedacht könnte das heißen: Eine Schule, die das 'Pauken' und überhaupt das gezwungene Lernen systematisch abschafft, verstärkt diesen Effekt. In der Abwesenheit von Lernzwang werden die Kinder von akademischen Eltern, die andere Interessen und Vorstellungen vom Wert verschiedener Tätigkeiten mitbringen, von sich aus mehr 'Intelligentes' lernen als Kinder aus unterprivilegierten Familien. Das Gerede von der Freiheit könnte, aufs Ganze gesehen, letztlich wieder die Folge haben, Privilegierte privilegiert und Unterprivilegierte unterprivilegiert zu halten. Diese These ist zu überprüfen.

(34) "Das Pauken", schreibt Bourdieu (2001: 40), "ist nicht das Übel schlechthin, wenn man sich bloß eingesteht, dass man die Schüler auf das Abitur vorbereitet und sie dadurch dazu bringt, sich einzugestehen, dass sie sich aufs Abitur vorbereiten." Die Sudbury Valley School wie die Summerhill School gestehen sich ein, dass *ihre SchülerInnen* sich auf das Abitur vorbereiten, jedenfalls einige. Die Schule fordert es aber nicht von ihnen, und setzt sie auch nicht unter Druck (mindestens im Fall der Sudbury School nicht einmal dann, wenn die Kinder sagen, dass sie gerne unter Druck gesetzt werden möchten). Darf vermutet werden, dass sich Kinder aus akademischem Elternhaus eher daran versuchen werden als Kinder aus einem ArbeiterInnen-Elternhaus?

(35) Natürlich sind gegen diese Positionen viele gute Argumente ins Feld zu führen. Erstens schaffen die freien Schulen das Pauken gar nicht unbedingt ab. Sie *erzwingen* es nur nicht. Das heißt, wenn ein SchülerIn gerne z.B. eine Fremdsprache lernen möchte, ist es durchaus nicht unmöglich, dass sie 'Vokabeln büffeln'. Wenn man eine Sache wirklich lernen möchte, zu der das 'Pauken' eben erforderlich oder zumindest sehr nützlich ist, ist es nur natürlich, wenn man genau das tut (für sich selbst, was längst nicht so nervenaufreibend und furchtbar ist, wie, es aus Leistungsdruck und 'für die Schule' zu tun).

(36) Zweitens besuchen Kinder aus allen Schichten z.B. die Sudbury Valley School [http://www.sudval.org/texts/clearer.html]. Wenn die Kinder also trotzdem gute Abschlüsse erzielen, kann es so schlimm ja nicht sein. (Das ist allerdings kein sehr wasserfestes Argument: der Anteil der SchülerInnen mit privilegiertem Elternhaus kann ja trotzdem überproportional groß sein; dazu habe ich keine Daten.)

(37) Drittens ist gar nicht so klar, warum das 'Pauken' eigentlich eine so effektive Tätigkeit sein soll. Ein Prinzip der Sudbury Valley School ist die Entfaltung des Geistes durch gemeinsames Nachdenken und Diskutieren [http://www.sudval.org/texts/reflect.html#antiint], und zwar nicht mit akademischem Gestelze, sondern in ganz selbstverständlichen, alltäglichen Gesprächen, die die allermeisten Kinder völlig unabhängig ihrer Herkunft führen können.

(38) Viertens haben die LehrerInnen eine andere Einstellung zum Lernen, die den SchülerInnen eben die Leistungen, die das traditionelle Schulsystem voraussetzt, nicht abverlangt. In einem Klima, in dem es nicht um 'Schulleistungen' geht, geht es auch nicht im gleichen Sinne um 'Begabung' oder 'Fleiß'.

(39) Und schließlich führt der wegfallende Leistungsdruck gerade dazu, dass die 'guten Schulleistungen' an Bedeutung verlieren, den LehrerInnen wie den Eltern, den FreundInnen und sich selbst gegenüber. Wer nie 'gemerkt' hat, wie 'schlecht' es in Mathe oder Rechtschreibung ist, wird sich nicht selbst erklären müssen, wie 'dumm' es ist; dadurch, dass Summerhill wie Sudbury das Selbstbewusstsein stärken, statt es zu zerbrechen, wirken sie den von Bourdieu beschriebenen Verhaltensmustern gerade entgegen.

(40) All das sind teils mehr, teils weniger gute Argumente, die für mich zusammen sehr überzeugend klingen. Aber es sind alles keine *Beweise*. Als Beweise könnten einige einfache empirische Daten gelten: ob nämlich die Qualität der Abschlüsse von SchülerInnen mit wenig gebildetem Elternhaus gleich gut oder gar besser ist als der Landesdurchschnitt.-- Vorausgesetzt natürlich, es gibt eine signifikante Anzahl solcher SchülerInnen; zwischen Schulgeld (für die es allerdings bei Sudbury durch die Eltern organisierte 'Stipendien' gibt) und dem Fakt, dass Eltern mit geringer Bildung normalerweise schlecht über verfügbare Bildungsangebote und damit auch noch schlechter über alternative Schulen informiert sind, ist es leider durchaus wahrscheinlich, dass sich die Sudbury- und Summerhill-SchülerInnen aus den niedrigeren Schichten aus *relativ gebildeten Elternhäusern* (wenn auch vielleicht mit geringem Einkommen) rekrutieren. Auch das wäre empirisch zu überprüfen.

(41) Ohne solches Datenmaterial zur Verfügung zu haben, möchte ich noch feststellen, dass Bourdieus Ausführungen in der Hauptsache gegen die Arroganz der "pädagogischen Tradition" (2001: 39) gegenüber denen, die bestimmte Leistungen nur durch Fleißarbeit erreichen, gerichtet sind. Er sagt, das 'Pauken' sei "nicht das Übel schlechthin" (ebd.: 40), gibt dafür aber erstens keine detaillierten Argumente und bezieht sich zweitens auf den Kontext der 'Vorbereitung auf das Abitur', die an den auf Freiwilligkeit basierenden Schulen einerseits gar keine so große Rolle spielt und andererseits anscheinend trotzdem recht gut bewältigt wird. Es ist also keineswegs so klar, dass sich die Argumentation wie oben gegen Summerhill oder die Sudbury School verwenden lassen.

(42) Zumindest bis mich empirisches Material vom Gegenteil überzeugt, bleibe ich nach dieser Diskussion der Meinung, dass auf Freiwilligkeit basierende Schulen ein guter Ansatz, ja eine Notwendigkeit für eine menschliche Gesellschaft sind. Zu glauben, dass sie das nur für die 'Elite' ist, dafür sehe ich zumindest nach den hier vorgetragenen Argumenten noch keinen Anlass.

5. Resümee

(43)

Beispielsweise dies Gedicht
läse, so bebrillt, man -- nicht.
(Aus: Christian Morgenstern, "Die Brille")

(44) Ich habe Bourdieus These umrissen, nach der die scheinbare Chacengleichheit des Schulsystems eine faktische Ungleichheit bedeutet, und daran die Frage geknüpft, ob diese Argumentation auf die auf Freiwilligkeit basierenden Schulen, wie der Sudbury Valley School, in besonderem Maße zutrifft. Ich habe drei auf Freiwilligkeit basierende Schulen vorgestellt und mein Praktikum an der Laborschule vor diesem Hintergrund reflektiert. Ich habe schließlich die obige Fragestellung diskutiert und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich, bis empirische Daten mich vom Gegenteil überzeugen können, davon ausgehe, dass auf Freiwilligkeit basierende Schulen auch für SchülerInnen aus weniger privilegierten Elternhäusern eine Chance und keine zusätzliche Gefahr darstellen. In meinem Praktikum an der Laborschule habe ich mich leider nicht genug mit der Frage der kulturellen Privilegien beschäftigt, um aus diesem Bereich viel zu der Diskussion beitragen zu können.

(45) Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Entstehensgeschichte dieses Textes: Es handelt sich um einen Leistungnachweis für den eingangs erwähnten Kurs. Eigentlich sollte er schon vor einigen Monaten, im Juli 2002, fertig sein. Damals hatte ich mir zu wenig Zeit für diese Aufgabe eingeplant und bin nicht fertig geworden. Schon mit einigen Schuldgefühlen bat ich um eine Verlängerung, die mir auch gewährt wurde. Immerhin fing ich diesmal frühzeitig an, Literatur zu lesen-- so stieß ich auf Bourdieu. Das Schreiben schob ich trotzdem immer weiter hinaus, zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Angst, nichts vernünftiges 'auf's Papier zu kriegen'.

(46) Dann das Wochenende vor dem Abgabetermin: Ich bemühe mich, *nicht* erst am Abend vorher anzufangen. Die letzten Tage habe ich mir schon jeden Tag vorgenommen, heute endlich mit dem Schreiben anzufangen. Ich habe es nicht getan. Ich habe Angst, dass ich nur vor dem Blatt sitze und nichts zu schreiben weiß-- ich habe eine ungefähre Vorstellung von der Frage, mit der ich mich auseinandersetzen will, aber es juckt mich nicht gerade in den Fingern, das aufzuschreiben, und ich befürchte, wenn ich mich hinsetze und tatsächlich anfange zu schreiben ist mein Kopf völlig leer. Samstag suche ich mir meine Bücher zusammen und fange an zu lesen, mache mir Notizen. Zwischendurch mache ich Pausen, denke an etwas anderes. Ich finde Die Farbe Lila und fange an, es zu lesen, es fesselt mich, ich lese zwischendurch immer wieder ein Stück weiter. Am Abend habe ich noch nichts geschrieben. Ich nehme mir vor, bis morgen Nachmittag bin ich fertig, das kann ich doch schaffen, oder? Ich werde die Nacht lange aufbleiben und wenigstens irgend etwas zu Papier bringen.

(47) Am nächsten Morgen um sechs Uhr: Ich habe Die Farbe Lila durch. (Zweihundert Seiten. Ja, es ist ein gutes Buch, aber nicht der richtige *heute* sollte ich mich eigentlich am Riemen reißen und an diesem Text arbeiten?) Immer noch nichts substantielles aufgeschrieben. Ich muss erst mal schlafen.

(48) Ich wache nachmittags auf, fange gleich an zu tippen. Ich sage mir, jetzt *muss* es einfach aufs Papier, egal was, ich tipp es jetzt einfach. Meine Argumentation ist mir immer noch nicht ganz klar, aber ich tipp jetzt einfach irgendwas. Schleppend geht es voran.-- Bis abends um sieben ca. vier Absätze.

(49) Es geht viel zu langsam, gegen Mitternacht habe ich gerade mal die Einleitung fertig, obwohl ich jetzt mehrere Stunden lang konzentriert gearbeitet habe. Und dann, etwas nach Mitternacht, wird mir die Antwort auf meine Frage so langsam klar-- insbesondere, dass Bourdieu eigentlich gar nicht so in die Richtung argumentiert, in der ich ihn verstanden habe (siehe vorletzter Absatz in Abschnitt vier).

(50) Ich stelle also fest, dass das Problem zwischen Bourdieu und meinen Ansichten zu den auf Freiwilligkeit basierenden Schulen eigentlich gar nicht so besonders groß ist, die Gewissenfrage, die ich gerade in der Einleitung ausformuliert habe, also gar nicht so schlimm.-- Und das bedeutet, dass meine ganze bisherige Planung für meinen Text im Eimer ist. Ich im schlimmsten Fall noch mal ganz von vorne anfangen muss. Ich könnte gleich losheulen!

(51) Und da ist der Grund, warum ich das alles erzähle. Nach der Lektüre von Bourdieu hat mich über Wochen dieses Problem beschäftigt, das eine feste Einstellung von mir zumindest ernsthaft in Frage gestellt hat. Nun finde ich, dass der Konflikt so groß gar nicht ist-- das sollte doch eine positive Erfahrung sein! Statt dessen sorgt unser 'Leistungs'-basiertes Schulsystem dafür, dass ich mich traurig, frustriert, wütend fühle. Wenn ich mich in einem *vernünftigen* System dazu entschieden hätte, einen Text über dieses Problem zu schreiben, weil es mich interessiert, dann wäre das nicht passiert; z.B. hätte es, weil ich den Text ja aus eigenem Interesse geschrieben hätte, keinen Abgabetermin gegeben; folglich hätte ich einfach entscheiden können, gut, ich höre für heute auf, morgen ist auch noch ein Tag, dann überdenke ich das nochmal... aber so geht das in diesem System halt nicht.

(52) Ich will an eine Sudbury School!

(53) (seufz)  

(53.1) 19.10.2002, 11:22, Andreas Vogel: Falls dich alternative Schulen, die auf Freiwilligkeit basieren, über diesen Text hinaus weiter interessieren, empfehle ich dir, dich einmal über das Pesto zu informieren, das Rebecca und Mauricio Wild in Ecuador aufgebaut haben. Sie haben den pädagogischen Ansatz von Maria Montessori erweitert (seltsam, dass dieser so wenig Beachtung findet).

Freiwilligkeit bedeutet hier unter anderem, dass die Eltern bei Aufnahme der Schüler einen Vertrag unterzeichnen, in dem festgeschrieben steht, dass die Lehrer den Schülern nichts beibringen. Es gibt keine Pflicht (irgend etwas zu lernen).

Demgegenüber besteht ein breites Angebot an Lernangeboten, die die Schüler in Anspruch nehmen können. Diese Angebote sind möglichst so ausgelegt, dass der Lernende sich den Stoff selbst erarbeiten kann, d.h. sie beinhalten eine Möglichkeit zur Selbstkontrolle.

Manches Lernangebot ist durchaus überraschend: So werden Jugendlichen gemütliche Sitzgruppen mit Sesseln, Sofas, Kissen,... angeboten. Mauricio erklärte das so: Jugendliche wollen nur eines: quatschen, tratschen, diskutieren,... Dies wird von den Wilds als durchaus ernsthafte Beschäftigung erkannt und unterstützt.

6. Literatur

(54) Heide Bambach: Erfundene Geschichten erzählen es richtig. Lesen und Leben in der Schule. Konstanz 1989.

(55) Pierre Bourdieu: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Schriften zu Politik & Kultur 4. Hamburg 2001.

(56) Benja Fallenstein, Daniela Gültekin, H. David Koßmann und Helene Vogel: Improvisationstheater nach Keith Johnstone zum Bekämpfen der Langeweile im Schulunterricht. Gruppenarbeit am Oberstufen-Kolleg, 2002. (Nicht veröffentlicht; eine Kopie im Microsoft-Word-Format ist bei den AutorInnen zu haben.)

(56.1) Adresse um sie zu erfragen, 21.02.2004, 13:10, Benja Fallenstein: Meine e-mail ist b.fallenstein@gmx.de, wenn jemand eine Kopie der Arbeit haben möchte.

(57) Feministische Partei DIE FRAUEN: Parteiprogramm. 2002. [http://www.feministischepartei.de/progra-d.htm#kap12]

(58) Hartmut von Hentig: Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule? Stuttgart und München, 1971.

(59) Stefan Meretz: GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so! 2000. [http://www.opentheory.org/linux-wertlos/text.phtml]

(Die Internetquellen sind hier nicht noch einmal aufgeführt.)


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